Kandinsky Music Painter von Soft Arts

Die Kompatibilität der Künste

Die Übertragbarkeit von Musik und Malerei beschäftigte schon viele Künstler. »Harmonielehren« der Malerei, Formprinzipien klassischer Kompositionen oder grafische Partituren zeugen von diesen Versuchen.

Der »Kandinsky Music Painter«, kurz KMP, schließt an diese Tradition an. Das Programm setzt Grafiken per MIDI in musikalische Informationen um. Die geschilderte Tradition und die selbstbewußte Berufung auf den Namen des großen Expressionisten Wassily Kandinsky wecken große Erwartungen, denen sich der KMP stellen mußte.

Nach dem Laden des kopiergeschützten Programms erscheint der Hauptbildschirm des KMP, dessen auffälligste Komponente das große zentrale Grafikfenster darstellt. Dieses Grafikfenster ist in der Horizontalen halbiert, wobei die obere Hälfte die Grafik enthält und die untere Hälfte den editierbaren Dynamikverlauf anzeigt. Abhängig vom Speicherausbau Ihres Computers verwaltet KMP bis zu 99 solcher Arbeitsfenster.

Über dem Grafikfenster befinden sich einige Buttons. Sie gewähren Aufschluß über den gewählten MIDI-Kanal, den zu sendenden »Soundchange«-Befehl, sowie über die bei der musikalischen Umwandlung zu berücksichtigende Skala. 18 solcher Skalen sind bereits vordefiniert, von der einfachen Dur-Tonleiter bis zur exotischen Raga-Tod i-Skala findet auch der hartgesottenste Ethno-Freak alles, was das Herz begehrt. Wer trotzdem seine Lieblingsleiter vermißt, definiert sie einfach selbst. Jeweils sechs Skalen sichern Sie bei Bedarf als Bank auf Diskette Weiterhin geben zwei Buttons Auskunft über die aktuelle Mausposition bei Grafikoperationen. Ein Blick auf dieses Anzeigenpaar verdeutlicht die prinzipielle Funktionsweise des Programms. Die Darstellung der X-Position erfolgt in der allgemein üblichen Pixel-Koordinaten-Anzeige, die Y-Position gibt der KMP in expliziten Tonhöhen (z.B. »F3«) an. Je höher Sie mit der Maus fahren, desto höher erklingt der Ton. Der zeitliche Ablauf der Musikausgabe bewegt sich entlang der X-Achse, oder einfacher gesagt: KMP liest die Grafik entweder von links nach rechts oder von rechts nach links aus. Dabei unterstützt das Programm eine maximal 16-stimmige Polyphonie. Zeigt die Grafik also eine senkrechte Linie von fünf Pixeln Länge, erklingen beim Abspielen fünf Töne gleichzeitig.

Die Anzeige der Buttons unter dem Grafikfenster hängt davon ab, ob Sie sich gerade im Zeichenoder im Abspielmodus befinden. Im Zeichenmodus finden Sie hier gute alte Bekannte aus Zeichenprogrammen wieder: eine Sprühdose, Radiergummi, Funktionen zum Schraffieren, Kreise und Ellipsen ziehen etc. Die Auswahl an Grafikoperationen besticht zwar nicht durch übertriebene Fülle, ist aber ausreichend und dem Zweck angemessen. Wer gerne mehr Zeichenfunktionen zur Verfügung hat, darf auch Bilder im Screen- oder STAD-Format (gepackt) in den KMP laden. Da die KMP-Grafiken nur einen kleinen Ausschnitt des gesamten Bildschirms nutzen, müssen Sie aus einem geladenem Bild den gewünschten Ausschnitt ausschneiden und anschließend in das Grafikfenster einfügen. Selbstverständlich kennt der KMP auch ein eigenes Datenformat.

Das Festlegen des Dynamikverlaufs ist gut gelöst. Ein Klick auf den »Vel.«-Button und schon setzen Sie mit Hilfe eines senkrechten Lineals pixelgenau die Velocitywerte für Ihre grafische Komposition, einfacher geht's nicht.

Per Mausklick auf die geschwungenen Notenlinien gelangen Sie in den Abspielmodus. Hier stehen zahlreiche Funktionen bereit, um die Grafiken in Musik umzusetzen. So legen Sie z.B. fest, ob Sie Legato oder Non-Legato-Spiel bevorzugen oder mit welchem Tempo und in welcher Richtung das Bild ausgelesen wird. Bei Bedarf bestimmen Sie im Tonhöhenfenster einen Splitpunkt, so daß die Wiedergabe von hohen und tiefen Tönen auf unterschiedlichen MIDI-Kanälen erfolgt. Jede Arbeitsseite läßt sich in einem »Seitenarrangement« in zehn Bereiche mit jeweils unterschiedlicher Parametereinstellung aufteilen.

Die klanglichen Ergebnisse, die Sie mit dem KMP erzeugen, sind mit Worten nur schwer zu beschreiben. Sicherlich erhalten Sie keine wohltönenden Ohrwürmer aus Ihren Zeichnungen oder gar groovige Bassriffs. Eher belohnt der Kandinsky Music Painter Ihre Mühen mit avantgardistischen Klängen, aber auch an Steve Reich erinnernde minimalistische Stücke lassen sich mit etwas Übung komponieren. Apropos Übung: Etwas üben müssen Sie in der Tat, bis Sie mit dem KMP brauchbare Resultate erzielen, auch in der Computer-Musik-Malerei fallen keine Meister vom Himmel.

Haben Sie eine überzeugende Komposition gezeichnet, läßt sich diese problemlos als MIDI-Standarddatei speichern und in Ihrem Lieblingssequenzer weiterverarbeiten. Von den Küssen der Musen berauscht wollen Sie jetzt wissen, wie Ihre neueste Pop-Ballade in grafischer Notation aussieht? Kein Problem, KMP erlaubt auch das Einlesen von MIDI-Standarddateien, was aber selten zum erhofften ästhetischen Hochgenuß führt.

Am Ende meiner Arbeit hinterläßt der KMP einen zwiespältigen Eindruck. Zum einen handelt es sich um ein Programm mit höchst innovativem Konzept, das weit mehr als nur ein kreatives Spielzeug darstellt. Die klanglichen Ergebnisse sind interessant, und es macht viel Spaß, mit dem KMP zu arbeiten. Andererseits erwies sich das Programm häufig zu starr hinsichtlich der Umwandlung von Grafik in Musik. Das Prinzip »Punkt oben = hoher Ton, Punkt unten tiefer Ton« schränkt die Flexibilität als Kompositionswerkzeug stark ein.

Mit einiger Übung genügt schon ein Blick auf die Grafik, um zu erahnen, wie das eigene Kunstwerk klingt.

Eine bedauerliche Einschränkung ist das Auslesen der Grafiken nur linear von links nach rechts bzw. umgekehrt. Eine diagonale Abtastung der Bilder oder die Angabe eigener Auslese-Algorithmen sind wünschenswert. Schade auch, daß der KMP mit einer minimalen Auflösung von einem Halbtonschnitt arbeitet. Bei der Verwendung von Pitch-Bend-Daten ließen sich sicherlich höchst interessante Effekte im mikrotonalen Bereich erzielen. Ein größeres Update des KMP soll laut Aussage von Soft Arts Verbesserungen bringen.

Experimentierfreudige Musiker erhalten mit dem Kandinsky Music Painter eine ernstzunehmende, kreative Kompositionshilfe. Ob allerdings der Preis von 398 Mark angesichts der oben aufgeführten Einschränkungen angemessen ist, muß jeder angehende »Music Painter« für sich selbst entscheiden. (wk)


Kai Schwirzke
Aus: TOS 05 / 1990, Seite 96

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