Vernissage, laut Duden die Eröffnung einer Kunstausstellung, laut Compo ein Treffpunkt grenzenloser Kreativität. Nun gut, machen wir uns also auf zu einem Rundgang durch die neueste Ausstellung zeitgenössischer ST-Programmierkunst und erkunden dabei grenzenlose Grafikkünste.
Versuchen wir es zunächst mit der Stilfrage. Welche Richtung vertritt unser Künstlertreff eigentlich -Zeichnen, Malen, Bildbearbeitung? Wohl eine gute Portion von alledem. Den Begriff Kreativwerkzeug nahmen schon viele Programme für sich in Anspruch, keines allerdings mit einer so großen Berechtigung wie »Vernissage«. Das Programm eignet sich für den Maler und Zeichner, der den Computer als Medium künstlerischen Ausdrucks verwendet. Es bietet vom einfachen, computertypischen Zeichenwerkzeug über Airbrush-Techniken und Verläufe bis zu Folien- und Outline-Funktionen viele Arbeitsmittel, die auch aus der traditionellen Malerei und der Reprofotografie bekannt sind. Entsprechend sollten sich keine Gelegenheits- und Hobbyzeichner oder technischen Konstrukteure für dieses Programm interessieren. Es empfiehlt sich für anspruchsvolle Grafikherstellung und Desktop-Publishing-Vorbereitung.
Das Programm läuft auf allen STs mit mindestens 2 MByte Speicher und auf dem TT. Die Arbeitsfläche für ein Bild ist frei einzustellen und in der Größe praktisch nur durch den freien Speicher begrenzt. Theoretisch ist eine Bildgröße von 32000 x 32000 Bildpunkten denkbar. Bei solch riesigen Bildern ist eine virtuelle Speicherverwaltung erforderlich, die Vernissage zufriedenstellend handhabt.
Durch Blitter-Unterstützung und Hardwarescrolling sowie eigene Cache-Funktionen für den Festplattenzugriff geht die Bearbeitung solch riesiger Bilder angemessen schnell vonstatten.
Vernissage möchte seinem Benutzer möglichst unauffällig und gleichzeitig effektiv alle nötigen Werkzeuge zur Verfügung stellen. Gerade im Hinblick auf den Einsatz mit einem Großbildschirm bedarf das einer gut durchdachten Benutzeroberfläche. Die Programmierer wählten den Weg über das Pop-Up-Menü. Der erste Vorteil liegt auf der Hand oder besser an der Mausspitze, denn die Werkzeuge sind immer dort am Bildschirm, wo man gerade arbeitet. Unnötige Scroll- und Mauswege entfallen. Doch mit einem einfachen Pop-Up-Menü läßt sich keine Kreativität mehr wecken. Es kommt auf die sinnvolle Präsentation der Werkzeugvielfalt an. Vernissage zeigt ein Menü mit zwei unterschiedlichen Icongrößen. Die grundsätzlichen Arbeitsbereiche sind in kleineren Icon-Doppelreihen oben und unten untergebracht. In der Mitte steht eine Doppelreihe mit den Funktionen des gerade gewählten Arbeitsbereichs. Diese Vorauswahl und die größer dargestellten Funktions-Icons unterstützen ein flüssigeres Arbeiten mit dem Programm. Sind Einstellungen nötig, dann erscheint auf Klick in das entsprechende Icon ein Menü, das sich, je nach Größe, durchscrollen läßt. Weitere Hilfen bei der Arbeit sind für den Einsteiger die Hilfstexte zum jeweils gewählten Icon und vor allem für Fortgeschrittene die Möglichkeit der Tastaturbedienung wichtiger Funktionen. Hinzu kommen Lineale und Maßbänder, wahlweise in cm, inch, cicero, pica oder dpi, sowie Hilfsraster.
Der nächste Blick in unserer Ausstellung gebührt den Zeichenwerkzeugen. Enthalten Grafikprogramme sonst hauptsächlich eine Sammlung geometrischer Formen, handelt es sich beim Werkzeugkasten von Vernissage wirklich um »Werkzeuge«, die verschiedene Gestaltungen zulassen. Das Programm bietet Bleistift, Tuschezeichner, Zeichenfeder, Haarpinsel,
Quast für Verläufe und Rolle für Flächen. Hinzu kommt die obligate Spritzpistole, fachmännisch »Airbrush« genannt. Diese Funktion erlaubt nicht nur die bekannten Sprüh- und Kleckereffekte, sondern hat einen eigenen Editor mit auf den Weg bekommen, der die freie Definition von Sprühfunktionen gestattet. Mit Hilfe dieses Editors lassen sich komplette Folien oder Bildelemente als Sprühmaterial definieren und einsetzen. Damit gelingt auch das Sprühen von Füllmustern und vor allem von Verläufen. Man ist also nicht mehr nur auf die vorgegebenen Verlaufsrichtungen angewiesen, sondern kann mit den Verlaufsformen frei experimentieren. | Neben diesen Zeichenwerkzeugen gibt es noch, wie in jedem Grafikprogramm üblich, die Bézierkurven und diverse Konstruktionsfunktionen wie Rechteck, Kreis, Oval oder Polygon. Alle Linien und geometrischen Objekte lassen sich in der Strichstärke frei j einstellen und mit Füllmustern verknüpfen. Die Füllmuster selbst sind ebenfalls in reicher Auswahl vorhanden. Neben den im Programm enthaltenen Mustern lassen sich I zwei Bänke mit jeweils 64 Rastern selbst definieren und nachladen.
Über den herkömmlichen Funktionsumfang hinaus gehen die Verlaufsfunktionen von Vernissage. Das Programm erzeugt Grau stufen Verläufe mit Setzen einer beliebigen Lichtquelle und rechnet sie in frei bestimmbare Objekte ein. Neben den vorgegebenen Verläufen lassen sich über einen integrierten Editor auch eigene Raster zeichnen. Zusätzlich gibt man den Start-und Zielwert in Prozenten an. Über diese Funktionen lassen sich, vor allem in Verbindung mit dem in Vernissage realisierten »Kontur-Clipping«, sehr feine Rasterverläufe einfügen, beispielsweise in gescannte Vorlagen. Das Kontur-Clipping begrenzt alle Funktionen von Vernissage auf den definierten Bereich. Das gilt sowohl für Zeichen- als auch für Radierfunktionen. Im Zusammenhang mit diesen Bildbearbeitungsfunktionen stehen auch der »Verlaufsmaler« und der »Kontrastmarker«. Die erste Funktion setzt einen definierten Grauverlauf in einen von Hand gezeichneten Bereich ein, und mit der zweiten Funktion lassen sich für begrenzte Bildteile durch Ändern des Kontrastes Verwaschungen und Verläufe erreichen. Ebenfalls ungewöhnlich ist die Verwendungausgeschnittener Bildteile. Neben den üblichen Lasso-Funktionen, die ein umrißgenaues Ausschneiden von Bildteilen bieten, lassen sich bei Vernissage auch Innenflächen definieren, die das Programm ebenfalls sofort mit ausschneidet. So bekommt man ohne große Radierarbeiten »Pixeloutlines«, die sich über einen beliebigen Hintergrund legen lassen. Haben Sie beispielsweise ein Hintergrundbild, das Sie mit Schrift überziehen wollen, dann schneiden Sie den Schriftzug mit Hilfe der Lasso-Funktion vor weißem Hintergrund aus und definieren die Innenflächen der Buchstaben als Outline. Anschließend kopieren Sie dieses Pixeloutline über das Bild, und schon scheint Ihre Grafik durch die Buchstaben durch. Übrigens, in Verbindung mit der Füllfunktion und einer Outline-Schrift lassen sich auch die Buchstabenflächen füllen. Gerade in Verbindung mit einem DTP-Programm spart man viel Zeit, wenn solche Vorarbeiten sich gleich im Grafikprogramm erledigen lassen. Die ausgeschnittenen Objekte lassen sich in guter Qualität vergrößern und verkleinern. Dazu verwendet Vernissage eine Kontur-Tabelle, die bei der Umrechnung der Größe auch die Umgebung eines Pixels berücksichtigt. Vernissage bietet auch eine Schattenfunktion für die ausgeschnittenen Objekte. Die Schattenstärke und seine Position lassen sich frei bestimmen.
Eine interessante und wichtige Funktion haben wir fast bis zum Ende unseres Ausstellungsrundgangs aufgespart: die Zoom-Funktion. Gerade im Hinblick auf die Verwendung eines Großbildschirms ist eine effektive Lupe Goldwert. Vernissage bietet eine in Größe und Position frei wählbare Lupe. Der Vergrößerungsfaktor ist frei zu bestimmen und läßt auch negative Angaben zu. Sie bekommen mit dem Zoom also nicht nur die Lupe, sondern gleichzeitig ein Verkleinerungsglas für eine schnelle Gesamtübersicht. Besonders wichtig: Alle Funktionen arbeiten in dieser Lupe. Damit dann bei der Arbeit in der Verkleinerung nicht das Bild verloren geht, gibt es eine lokale und eine globale »Undo«-Funktion. Ein Klick auf das Kamera-Symbol im Menü sichert den augenblicklichen Stand der Dinge. Bei mehreren Arbeitsschritten hilft auch das Clipboard, das Grafiken entweder im Speicher oder auf externen Medien ablegt.
Die Kommunikation mit der Aussenwelt ist bei Vernissage sehr offenherzig. Die Anbindung von Scannern und Clipboards ist vorgesehen, war aber in der vorliegenden Version noch nicht realisiert. Die Ausgabe erfolgt auf Nadel- oder Laserdruckern. An Dateiformaten liest das Programm GEM.IMG, *.CRG, Page.lMG, *.PAC, TIFF von Mac und PC, Degas- und Screen-Format. Vernissage speichert das GEM.IMG, Degas- und TIFF-Format. Dazu lassen sich Blöcke, Pixeloutlines und Rasterbänke speichern, laden und zu Bibliotheken ausbauen.
Soweit also der Rundgang durch die Kunstausstellung. Hat die Vernissage gefallen? Sicher. Auch wenn die Besuchszeit noch etwas kurz war und weitere Auseinandersetzungen mit dem Künstlertreff nötig sind. Vieles fand schon auf den ersten Blick Beifall, so das Gesamtkonzept, die Bedienung und die Zusammenstellung der Werkzeuge und Funktionen, die eine starke Betonung der kreativen Seite bewirken. Manches läßt sich erst beim zweiten oder dritten Blick erkennen, wie das Potential der Verläufe und Pixeloutlines. Einiges war bei Ausstellungseröffnung auch noch nicht fertig, aber die gezeigten Arbeiten wecken die Überzeugung, daß der Rest schnell und zuverlässig gefüllt wird. Als ungeduldiger Ausstellungs-Besucher fragt man sich: Warum keine Vektor-Funktionen, warum keine Farbe, warum keine Textfunktionen? Aber man muß die Zielsetzung bedenken. Alles in einem Programm überlädt den Anwender mit Funktionen und zwingt ihm vieles auf, das unnötig ist. Besser erscheint der Weg, klar abgegrenzte Funktionsbereiche, jeden für sich, gut zu realisieren. In diesem Sinne ist Vernissage ein kreatives Werkzeug für anspruchsvolle Zeichner und auch eine gute Ergänzung für den Desktop-Publis-hing-Bereich. (wk)
Compo Software, Ritzstr.13, 5540 Prüm
Name: Vernissage
Preis: 798 Mark
Hersteller: Compo
Stärken: Gut gestaltetes Pop-Up-Menü □ Bildgröße □ viele echte Zeichenwerkzeuge □ Kontur-Clipping □ Pixel-Outlines □ flexible Verläufe □ läuft auf TT und Großbildschirm
Schwächen: In der Testversion noch nicht alle Funktionen implementiert
Fazit: Für den Bereich des kreativen Zeichnens und Malens und als DTP-Ergänzung sehr gut geeignet