Ein Flugzeug, rein durch Menschenkraft angetrieben - mit Hilfe des Atari ST haben Peer Frank und sein Team die Schwerkraft überwunden.
Gerade noch rechtzeitig den Kopf eingezogen. Der weiße Flugkörper gleitet dicht über mir und beginnt wieder zu steigen. In etwa zehn Meter Höhe schwebt er auf einen nahe gelegenen Wald zu. Auf den ersten Blick wirkt er wie ein intergalaktischer Raumgleiter: riesige Flügel mit zahlreichen Löchern, eine im Windkanal gestylte Pilotenkapsel, ein durchsichtiger Heckflügel, kein ausfahrbares Fahrwerk. Und doch ein Flugzeug. Kein Motor treibt den Heckpropeller an, sondern der Pilot selbst, mit seiner Muskelkraft. Zwei FS (Fußstärken) gegen die Schwerkraft. Eine gekonnte Wende, ein sanfter Sinkflug, und das Flugzeug setzt zur Landung an. Zwei Helfer bremsen die Maschine ab, der wenig später Peer Frank entsteigt. Sofort bestürme ich den 31-jährigen freiberuflichen Ingenieur mit neugierigen Fragen, doch ich muß mich noch etwas gedulden. Zuerst wird das Flugzeug zerlegt und auf den umgebauten Segelflugzeug-Transportanhänger verladen. Nach einer dreiviertel Stunde fahren wir zu Peer Frank nach Hause, an den Stuttgarter Stadtrand.
Franks kombinierter Arbeits- und Hobbyraum gibt Einblick in seine Freizeitbeschäftigungen. In der Ecke steht ein Yamaha-E-Piano. Ein Regal ist gefüllt mit Musik- und Computerfachzeitschriften. Der Mega ST2 mit Festplatte und 24-Nadel-Drucker besetzt das gegenüberliegende Eck. »Für MIDI und Musik bleibt mir aber nicht allzu viel Zeit«, meint Peer Frank. Den größten Teil seiner Freizeit opfert er seinem liebsten Hobby: Er entwickelte mit seinen Freunden Ben Russ, Jochen Hanne und Martin Hübner ein von Menschenkraft angetriebenes Flugzeug. Dabei spielt der Atari ST eine wichtige Rolle.
Das Flugzeug mit dem wohlklingenden Namen »Velair« (velo bedeutet Fahrrad; air heißt Luft) bringt es auf immerhin 23 Meter Spannweite. Der Antrieb erfolgt ausschließlich durch den Menschen. Der Pilot sitzt in einer Kabine und bewegt durch Pedaltreten den am Heck angebrachten Propeller. Die Steuerung bedient er über Drahtseile. Seit Anfang 1987 arbeitet das Team um Peer Frank an Velair. Trotz zahlreicher Rückschläge gaben die Konstrukteure nicht auf und verbrachten Stunde um Stunde ihrer knappen Freizeit zuerst im Keller der Universität Stuttgart, dann in der eigens für den Zusammenbau angemieteten Werkstatt. »Das Flugzeug fliegt seit Sommer 1988 und hat sogar die kühnsten Erwartungen übertroffen«, begeistert sich Frank. Kaum zu glauben, daß es der auf den ersten Blick so gewaltig wirkende Muskelkraft-Flieger auf ein Gewicht von nur 30,5 kg bringt. »Das liegt an der leichten Bauweise. Wir benutzen hauptsächlich Kohlefaserkunststoffe, die auch in der Raumfahrt Verwendung finden. Unter hohen Temperaturen und Druck erhält das Material die nötige Härte.« Die Aushärtung haben die Konstrukteure selbst vorgenommen. An Gewicht nimmt Velair bei jedem Flug noch die 60 kg von Peer Frank auf. Obwohl vier Leute an Velair arbeiten, fliegt ausschließlich Peer Frank. »Voraussetzung zum Fliegen ist neben der erforderlichen Kondition auch ausreichende Erfahrung«, auf die lediglich Frank zurückblicken kann. Velair fliegt immerhin in einer Höhe von etwa zehn Metern.
Wie weit will Frank mit seinem Muskelkraft-Flugzeug fliegen? »Theoretisch kann der Mensch das Velair-Flugzeug über eine Strecke von 60 Kilometern in der Luft halten, und das bei einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von 30 km/h. In diese Zahl fließen sämtliche wichtige Faktoren wie Kondition, Konstitution oder Erfahrung des Piloten ein. Praktisch habe ich den Wert noch nie erreicht. Aber um die optimale Kondition zu erreichen, muß ich auch erst meine vier- bis fünftausend Kilometer mit dem Fahrrad zurücklegen.« Im Frühsommer will Frank das Training wieder aufnehmen.
An den Seiten der Kabine finden sich neben dem Namen des Flugzeugs auch jeweils ein großer Aufkleber mit der Aufschrift »Atari« und dem bekannten Dreizack. Damit bedankt sich der geborene Düsseldorfer bei den Raunheimern, die ihm für die Flugzeugentwicklung eine vollständige ST-Anlage umsonst zur Verfügung stellten.
Weil Atari den ST nicht serienmäßig mit intelligenten Roboterarmen ausgestattet hat, beschränkt sich der Einsatz des 16-Biters beim Flugzeugbau auf den theoretischen Teil, also Planung, Berechnungen und Meßdatenauswertung. »Ohne Theorie keine Praxis«, lobt Peer Frank seinen elektronischen Gehilfen. Der Computer erledigt in erster Linie alle für die Auslegung nötigen Berechnungen, z.B. Aerodynamik, Aeroelastik, Flugzeugmechanik und Belastungen. Was man früher umständlich mit Modellen im Windkanal testen mußte, berechnet heute der ST. Die Software entwickelte Frank selbst, zuerst im alten Metacomco-ST-Basic, wo die Geschwindigkeit aber stark zu wünschen übrig ließ. »Zum Glück gibt es heute GFA-Basic«, lobt Frank den Dialekt des Düsseldorfer Firma GFA-Systemtechnik.
Warum entschied sich Frank für den Atari ST? »Als mich die ersten Gedanken über den Bau eines Muskelkraftflugzeugs bewegten, kam der ST gerade frisch auf den Markt. Für mich gab es damals nur Mac (Apple Macintosh; Anm. d. Redaktion), weil mich die Rechenleistung und vor allem die GEM-Oberfläche faszinierten. Für den Mac hätte ich aber ca. 9000 Mark ausgeben müssen, während der ST mit 3500 Mark wesentlich billiger war und ebenfalls über 68000er-Prozessor und GEM verfügte.« Frank entschied sich für einen 520 ST+ mit 1 MByte Speicher. Für komplexe Berechnungen und Messungen reicht das heute nicht mehr aus; ein Mega ST2 folgte.
Als Franks Team die Pläne in die Tat bzw. in ein Flugzeug umsetzten, half der ST fleißig mit: Beispielsweise wurde der Flügel an mehreren Stellen mit Gewichten belastet. Dazwischen befanden sich Sensoren, die die kleinste Dehnung des Flügels an eine Meßanlage Weitergaben. Diese wertete die empfangenen Daten aus und schickte sie zum Archivieren an den Atari ST weiter. Heute ist Velair weitgehend fertig. Unter dem Pilotensitz befindet sich eine selbstgebaute Meßstation. Überall am Flugzeug sind Sensoren verteilt, die ihre Daten an die Meßstation weiterleiten. Diese speichert die Daten in einem batteriegepufferten RAM. Nach der Landung baut man die Meßstation mit wenigen Handgriffen aus und schließt sie an den heimischen ST, der die Daten auswertet. Auf diese Weise registriert Frank sämtliche noch so geringe Dehnungen, Kräfte und Temperaturschwankungen. Die mobile Meßstation, gebaut von Martin Siegwart und Thorn Richter, mißt übrigens auch ständig die Flughöhe. Dies übernimmt ein am Rumpf angebrachter Polaroid-Ultraschallsensor.
Peer Frank kennt das Tempo-Problem des Atari ST: Für die Datenauswertung benötigt der mit 8 MHz getaktete Prozessor unter Umständen bis zu zehn Minuten Rechenzeit. Erwartet er vom TT eine höhere Rechengeschwindigkeit? »Das Konzept des TT hört sich nicht schlecht an. Doch der Prozessor des TT arbeitet auch nur mit 16 MHz. Andere Computer besitzen bereits Taktfrequenzen von 24 und mehr MHz. Die Konkurrenz ist ein paar Schritte weiter«, meint Frank skeptisch. »Wer weiß, was aus dem TT mal wird.« (tb)