Editorial: Zimmer mit Aussicht

Wie in jedem Jahr kurz vor den beiden wichtigen Frühlingsmessen - CeBIT und Frankfurter Musikmesse — lodert allerorts wieder das große Messefieber. Neue Preise, neue Maschinen und neue Systeme — wir erwarten — wie immer — von allem und jedem etwas.

Wirklich wichtig sind bei der Frankfurter Musikmesse diesmal nicht etwa die neuen Produkte, die sensationellen Recordingsysteme und auch nicht revolutionäre MIDI-Programme. Bedeutender als alle Neuentwicklungen scheint vielmehr die Tatsache, daß es den verschiedenen, mitunter durch den harten Konkurrenzkampf arg zerstrittenen Herstellern gelang, über den eigenen Schatten zu springen, sich an einen Tisch zu setzen und — zum Wohl des Kunden — auf einen neuen Standard zu einigen. Die Rede ist hier vom »General-MIDI-Standard«, der endlich die Tastenbelegung der Percussions-Instrumente sowie die Kanalverteilung der Standardklänge regelt.

Unter den Ausstellern der CeBIT ist solch’ traute Einigkeit vorerst nur ein frommer Wunsch. Zwar horchten alle interessiert auf, als der Blaue Riese und der Apfelhändler mit der schottischen Vorsilbe ihre weitreichenden Pläne für unser aller Zukunft schmiedeten. Aber wann kommt denn endlich nach dem Turmbau zu Babel das multikompatible Hypersystem, das DOS und TOS genauso versteht wie UNIX und MacOS?

Zumindest redeten da zwei miteinander — und das ist bei dem harten Fight um Marktanteile und Anwendergruppen ja schon bemerkenswert. Wahrscheinlich hätte es wohl dem Ego der beiden zu sehr geschadet, auch noch die Meinungen oder gar Pläne anderer Mitanbieter zu hören. Dennoch, auch wenn das Duo die Nase traditionell recht hoch trägt, Atari darf sich von der Zukunft nicht ausschließen lassen, muß beim Trendsetting mitmischen und für eine gemeinsame Basis werben. Atari signalisierte stets Gesprächsbereitschaft und hat dabei sogar zur Wahrung des Burgfriedens so manchen Kompromiß hingenommen.

Es wird nicht mehr lange dauern, dann werden Tausende von technisch hoffnungslos veralteten DOS-Maschinen auf den Schrottplatz wandern. Ein gewaltiger Schub an Neuinvestitionen steht kurz bevor. Für welche Rechner werden sich Industrie und Handel dann wohl entscheiden? Was, wenn Kompatibilität kein Problem mehr ist? Möglicherweise wird die Wahl des Systems zur reinen Sympathiefrage. Sympathie aber gewinnt man durch Offenheit.

Ihr


Manfred Neumayer
Aus: ST-Magazin 04 / 1992, Seite 3

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