Kaos probt den Aufstand

Drei Programmierer haben ein neues Betriebssystem für den ST entwickelt: Schneller und leistungsfähiger als das Original-TOS lief es unter strengster Geheimhaltung bereits auf der Atari-Messe. Das ST-Magazin war dabei.

Fast die komplette Atari-Führungsetage war zum Stapellauf des neuen Eliterechners TT in die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt gekommen. Atari-Präsident Sam Tramiel mochte in dem Procedere um das künftige Atari-Flaggschiff sogar die eigentliche Sensation der Atari-Leistungsschau sehen. Während Presse und Publikum eine wirkungsvolle Inszenierung geboten wurde, stapfte das jüngste Mitglied des Tramiel-Triumvirats, Leonard (Vorstandsvorsitzender Jack Tramiel war gar nicht erst in die Rheinmetropole gereist), eher mißmutig durch die Messehallen.

Kaos 1.4.2.: GEM 2.2- und GEM/3-kompatibel

Für die düstere Miene des Entwicklungskoordinators gab es durchaus einen triftigen Grund: Drei deutsche Programmierer hatten der Raunheimer Atari-Dependance Stunden zuvor ein neues und wesentlich verbessertes Betriebssystem für den ST zur weiteren Verwendung über die Messetische geschoben.

Das völlig überarbeitete TOS mit dem nüchternen Arbeitstitel »Kaos 1.4.2« lief unterdessen wenige Meter entfernt als geheime Kommandosache erfolgreich auf dem 30er Board eines amerikanischen Herstellers.

Systemmängel eliminiert

In Verbindung mit einem Mega ST erreichte es Geschwindigkeiten, die Insider eigentlich nur einem TT zutrauten. Das neue leistungsstärkere TOS aus Deutschland trat plötzlich in Konkurrenz zur TT-Computerreihe, die gerade nach ungewöhnlich hartnäckigen Geburtswehen den Weg in die Händlerregale gefunden hatte.

Die Entwickler, Andreas Kromke, Dirk Katzschke und Normen Kowalewski, präsentierten eine inoffizielle Messeversion mit überarbeitetem AES und Desktop, die bereits an verschiedene Prozessoren und Coprozessoren (68010, 68020, 68030, 68881 und 68882) angepaßt war. Der modifizierte Code, mit völlig überarbeiteten Teilen des BIOS, XBIOS, GEM-DOS und AES, lag in einer optimierten Assembler-Version vor. Eliminiert waren — so die Entwickler — über 80 Mängel des Originalbetriebssystems.

Desktop mit neuen Icons und überholtem Arbeitstitel T0S30

Die deutsche Atari-Niederlassung, lange vor der Messe über das Projekt unterrichtet, verpflichtete die Entwickler vorerst noch zur Verschwiegenheit. Noch am ersten Messetag hatte es den Anschein, als wolle man das Projekt auch gegen den Widerstand des amerikanischen Mutterhauses durchsetzen. Die ersten Reaktionen Leonard Tramiels auf das Betriebssystem verhießen den drei Programmierern indes wenig Gutes: »Uns war zu diesem Zeitpunkt noch unklar, daß wir den amerikanischen TOS-Entwicklern gewaltig auf die Füße treten. Kurz nach der Messe kam dann auch — mittlerweile nicht mehr unerwartet — das Aus für unser optimiertes Betriebssystem«, erklärte Dirk Katzschke dem ST-Magazin. »Weil der Assembler-Code die künftige Programmpflege erschwere, lautete die offizielle Begründung.«

Schritt an die Öffentlichkeit

Eine herbe Enttäuschung auch für Andreas Kromke, der bereits seit 1987 ständig an Verbesserungen des Atari-TOS arbeitet: »Es kam mir vor, als hätte ich drei Jahre Arbeit umsonst investiert.« Dabei wollte der Mann aus Hannover zunächst gar kein neues Betriebssystem für den ST entwickeln: »Am Anfang haben mich nur viele Bomben bei der Standarddateiumlenkung gestört. Die Idee, das gesamte Betriebssystem zu überarbeiten und neu zu schreiben, kam mir erst viel später.« Je intensiver er sich mit dem TOS beschäftigte, desto mehr erhärtete sich sein Verdacht, daß im GEM-DOS gehäuft Fehler schlummern.

Da ihm TOS 1.0 (vom 6.2.86) als RAM-Version vorlag, konnte er einige gravierende Fehler schnell lokalisieren und patchen. Ein befreundeter Entwickler hatte gerade ein einfaches Programm geschrieben, mit dem sich ROM-Versionen des TOS re-lozieren und dann von Diskette booten ließen. Damit stand der Übertragung der Patches auf das brandneue TOS 1.2 nichts mehr im Wege. Die Idee von »Kaos« nahm langsam Gestalt an.

»Bei der Arbeit mit dem so gepatchten TOS 1.2 entdeckte ich 13 weitere Fehler«, erinnert sich Andreas Kromke heute: »Diese Erkenntnisse wollte ich jedoch nicht für mich behalten. Deshalb habe ich 1987 in einem Brief an Atari USA meine Hilfe angboten. Auf eine Antwort wartete ich jedoch vergeblich.«

Alex Essers im selben Jahr in einem Fachmagazin erschienene GEM-DOS-Reihe, ließ Kromkes Ehrgeiz erwachen. Er wollte die Betriebssystemfehler nicht mehr akzeptieren, sondern eliminieren: »Ich mußte deshalb einen 2-Pass-Disassembler schreiben, mit dem sich der vollständige GEM-DOS-Quelltext erarbeiten und nach und nach kommentieren ließ.«

Konfigurationsschalter und neue Fensterfunktion: Ein zusätzlicher Knopf erlaubt, Fenster schnell über- und untereinander zu legen

Neuer Windowmanager

Eine Routine nach der anderen wurde analysiert und korrigiert, wieder übersetzt und eingepatcht: »Am Ende habe ich mehr als 80 TOS-Mängel beseitigt: den Löwenanteil im GEM-DOS und in der Dateiauswahlbox.«

Freunde und Bekannte, die das korrigierte Betriebssystem begutachteten, waren sofort begeistert. Für den Entwickler ein Grund mehr, den Schritt an die Öffentlichkeit zu wagen. Beim Fachmagazin »C’T« fand er offene Ohren. Nach einer ausgiebigen Testphase erschien im November 1988 der erste Artikel über das Kaos-Projekt.

Im darauffolgenden Jahr fielen Kromke erste (Entwickler-)Versionen von TOS 1.4 (8.8.88) in die Hände. Erneut dokumentierte er akribisch die Betriebssystemmängel und informierte Atari: »Zunächst schrieb ich die deutsche Niederlassung an. Dort riet man mir, Kontakt mit den USA aufzunehmen. Meine Fehlerdokumentation scheint auch dort postwendend in den Papierkorb gewandert zu sein.«

Premiere in Düsseldorf

TOS-Entwickler Dirk Katzschke

ST-Magazin: Beim Probelauf hier in der Redaktion lief Kaos 1.4.2 stabil und machte einen erstaunlich ausgereiften Eindruck. Haben Sie sich schon Gedanken über eine künftige Vermarktung des Systemprogramms gemacht?

Dirk Katzschke: Unsere Chancen, mit Atari ins Geschäft zu kommen, stehen zur Zeit offensichtlich nicht so gut. Wir haben einige Möglichkeiten durchgespielt. Soviel kann ich jetzt schon sagen: Eine Public-Domain-Version wird es wohl nicht geben. Auch einen Vertrieb als Shareware haben wir ergebnislos diskutiert. Mehr kann ich momentan noch nicht sagen.

Die TOS-Verkaufsversion 1.4, die einige Monate später ausgeliefert wurde, enthielt nach wie vor bekannte und einige bis dahin noch unbekannte Mängel.

Kromke begann die Kaos-Patches vollständig auf das neue TOS zu übertragen. Dabei stellte er fest, daß die interne Speicherverwaltung fehlerhafter war, als bis dahin angenommen. Noch bevor das erste »Poolfix« erschien, hatte er bereits zahlreiche Routinen erneuert. »Seit gut einem Jahr«, bemerkt er, »habe ich keinen GEM-DOS-Absturz, der auf die interne Speicherverwaltung zurückzuführen ist, zustande gebracht.«

Ein neuer »Windowmanager« war das Highlight von Kaos 1.4.0, das im Dezember vergangenen Jahres unter Mitwirkung von Dirk Katzschke, der durch den »C’T«-Bericht auf das Projekt aufmerksam wurde, entstand. Das GEM-DOS wurde vollständig neu übersetzt, BIOS und AES gepatcht.

Bereits im Februar wurde eine Neuauflage (Kaos 1.4.1) nachgeschoben. Die Entwickler expandierten die »Line-F-Codes« und übersetzten das AES/Desktop neu. Dabei erzielten sie durch die Neuprogrammierung ganzer Programmanteile einen erheblichen Geschwindigkeitsgewinn.

Nach anfänglichem Desinteresse traf im Frühjahr diesen Jahres eine überraschende

Einladung von Atari Deutschland in Hannover ein. In Raunheim kam es zu einem Zusammentreffen mit Normen Kowalewski, der ebenfalls an einer TOS-Verbesserung arbeitete. Dirk Katzschke: »Während des Gesprächs war nicht mehr zu übersehen, daß Atari Deutschland mit immerhin ca. 30 Prozent des Atari-Weltumsatzes, brennend an einer TOS-Weiterentwicklung interessiert ist.«

Assembler-optimiert

Als Erscheinungstermin wurde schließlich einvernehmlich die Atari-Messe ’90 in Düsseldorf angepeilt. In der Zwischenzeit sollten die Entwickler das Beste aus ihren Betriebssystementwicklungen zusammenführen. Um den amerikanischen Mutterkonzern nicht schon im Vorfeld zu beunruhigen, sollte bis dahin von beiden Seiten Stillschweigen bewahrt werden.

In Düsseldorf bestand das immer noch geheime Unternehmen Ende August schließlich seine erste Bewährungsprobe. Dazu wurde am »ICD«-Stand in aller Stille ein Rechner mit »neuen (EP)ROMs« bestückt und kommentarlos neben andere STs gestellt. Zufällig anwesenden Besuchern fiel vor allem die ungewohnt hohe Geschwindigkeit des nunmehr »aufgebohrten« Atari-Computers auf.

Zufällig ergab sich auch die Möglichkeit, das System erstmals auf einem 68030er Board von »Fast Technology« zu testen. Bis dahin stand den Entwicklern dafür lediglich eine »PAK 68« sowie eine »Maxon 68020«-Karte zur Verfügung. Erstaunlicherweise lief »Kaos« auf Anhieb um ein Vielfaches schneller als das auf der Karte vorhandene modifizierte TOS 1.2.

Vornehme Zurückhaltung

Mehr als enttäuschend für das Entwicklerteam war besagte Reaktion von Atari während der Messetage: Die Anfangseuphorie war vornehmer Zurückhaltung gewichen. Die endgültige Absage, die die Programmierer schließlich im November erreichte, bahnte sich zu diesem Zeitpunkt bereits an. Lediglich ein Atari-Mitarbeiter aus den USA schien die Zeichen der Zeit erkannt zu haben: »Wenn ich mir das ansehe«, resümierte er am ICD-Stand, »dann frage ich mich, was unsere Entwickler in den letzten drei Jahren gemacht haben.«

(em)

# Das kann Kaos 1.4.2

Die derzeitige Version des Betriebssystems enthält nicht nur Korrekturen von Betriebssystemroutinen, sondern ist auch schneller als das Original. Je nach Anwendungsfall bis zu 90 Prozent bei der Grafikausgabe unter NVDI (ein Programm im Vertrieb der Fa. Bela) und etwa 40 Prozent bei Plattenzugriffen. Einige der zahlreichen Features möchten wir bereits an dieser Stelle vorstellen. Einen ausführlichen Erfahrungsbericht lesen Sie in unserer Januar-Ausgabe: □ Der gesamte Atari-Zeichensatz läßt sich über die Tastatur aufrufen. □ Beim Booten von Festplatten macht das System zwei Versuche statt bisher nur einen. □ Cookies, die es ansonsten erst ab TOS-Version 1.6 gibt, wurden installiert. □ Zum Lesen von Disketten gibt es ein Fast-Load-Patch. Im Gegensatz zu üblichen Lösungen ist es nur beim Lesen, nicht aber beim Schreiben aktiv. □ Tastenwiederholung und Wiederholungsverzögerung wurden auf einen anderen Standardwert gesetzt. □ Der Zeileneditor, der z.B. zur Eingabe bei TOS-Programmen dient, konnte um etwa 20 Funktionen erweitert werden. □ Ebenso wurden die Eingabemöglichkeiten von Zeichenketten in den Dialogboxen verbessert (z.B. setzt die Kombination Shift und Cursor hoch, den Cursor auf das erste Eingabefeld. Mit Shift und Cursor runter gelangt man zum letzten Feld). □ Der Event-Critic-Handler bietet jetzt auch die Möglichkeit — wie bei MS-DOS — mit [A]bbruch, [W]iederholen, [I]gnorieren zu reagieren. □ Der deutsche Sonderbuchstabe »ß« wurde in allen Zeichensätzen verändert. Es läßt sich jetzt vom Beta unterscheiden. Auch die Umlaute liegen jetzt mit anderen Versalien auf einer Ebene und werden bei Ordner- und Dateinamen in Großbuchstaben konvertiert. □ Der »Windowmanager« des GEM, die »Form-Do-Routine« und der »Event-Critic-Manager« wurden völlig neu geschrieben. Der Desktop hat ein neues Outfit u.a. mit neuen Icons. In nahezu allen Programmen lassen sich Fenster per Mausklick nach hinten (als unterstes Fenster) legen. Die ROM-Version des Betriebssystems ist ca 20 KByte kürzer als TOS 1.4 (bei Verwendung dieser TOS-Version stehen 10 KByte mehr Speicher zur Verfügung). Das AES ist GEM2.2-bzw. GEM/3-kompatibel.


Egbert Meyer
Aus: ST-Magazin 12 / 1990, Seite 12

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