Photo Line - EBV mit klarer Linie

Die Software-Entwickler der Fa. Computerinsel haben mit ihrer neuen EBV-Software PHOTO LINE tatsächlich das Rad zum zweiten Mal erfunden. Doch in diesem speziellen Fall machte das durchaus Sinn, war das erste Rad doch eckig statt rund geworden. Die Rede ist hier von Cranach, der bekannten EBV-Software der nicht mehr im ATARI-Bereich tätigen Firma tms.

Dank des gewaltigen Funktionsumfanges fand Cranach relativ weite Verbreitung; jedoch war die mangelhaft strukturierte, Icon-übersäte Bedieneroberfläche für die meisten Anwender ein großes Ärgernis. tms hielt es jedoch nicht für nötig, daran etwas zu ändern. Das Recht an den Quellcodes von Cranach liegt mittlerweile bei Computerinsel, die dieses Programm auch weiterhin vertreiben, mit PHOTO LINE jedoch eine völlig überarbeitete Version von Cranach präsentieren, die mit dem Urprogramm optisch nichts mehr zu tun hat, programmintern jedoch auf viele der hochwertigen Routinen von Cranach zurückgreift. Doch nicht nur Cranach stand bei der Konzeption und Realisierung von PHOTO LINE Pate. Ausgefeiltes Fenster-Handling wie in DA’s Picture, eine intuitive Benutzeroberfläche wie in Chagall und einige optische und funktionelle Anleihen bei Photoshop; fürwahr keine schlechten Referenzen ...

PHOTO LINE, das „elektronische Bildwerkzeug“, wie es die Computerinsel bescheiden nennt, kommt in Form zweier Disketten und mit einem mit 50 Seiten recht dünnen Handbuch noch bescheidener daher. Das Handbuch bietet eine Einführung sowohl in die Grundkonzepte von PHOTO LINE als auch in die Benutzung der verschiedenen Werkzeuge. Während der Anhang, in dem die verschiedenen Bildformate erläutert werden, und das anschließende Glossar, welches wichtige Fachbegriffe erklärt, nicht mit Informationen geizen, sind der Referenz- und der Tutorial-Teil etwas zu kurz geraten. Auch die als Hypertext realisierte On-line-Hilfe von PHOTO LINE bietet hier keine weitergehenden Informationen, sondern ist vielmehr mit dem Handbuch identisch. Dank der wirklich guten Benutzerführung innerhalb von PHOTO LINE läßt sich dieses Manko jedoch verschmerzen.

Abb. 2: Die Pulldown-Menüs von PHOTO LINE
Abb. 3: Die Tool-Leiste erinnert ein wenig an die von Photoshop.
Abb. 4: Der Dialog zur Parametrisierung der Bildwerkzeuge

Die Pull-down-Menüs

Viele Funktionen von PHOTO LINE wurden auf insgesamt fünf Pulldown-Menüs verteilt. Außer den Möglichkeiten zum Drucken über GDOS/NVDI, Plotten und GDPS-Scannen finden sich im Datei-Menü natürlich die üblichen Funktionen zum Laden und Speichern von Bilddaten.

Erfreulicherweise ist PHOTO LINE in der Lage, eine Vielzahl an Bildformaten zu importieren. Hierzu zählt neben den Formaten TIF, ESM, GIF, IFF, (X)IMG, BMP, JPEG und PCX auch das PCD-(Photo CD)-Format. Die Erkennung des Dateityps erfolgt automatisch. Als Speicherformate für Rasterbilder sind einzig TIF und IMG vorgesehen, was jedoch für die meisten Anwendungen ausreichen dürfte. PHOTO LINE ist auch in der Lage, Vektorgrafiken in den Formaten GEM und CVG (1.0 u. 1.1) zu laden und zu speichern und verfügt sogar über einen eigenen Vektoreditor. Doch dazu später mehr.

Das Edit-Menü beherbergt neben den üblichen Cut/Copy/Paste-Funktionen auch solche zur Steuerung des Undo-Puffers. Änderungen am Bild werden mit der Undo-Taste verworfen bzw. mit der Space-Taste im Undo-Puffer fixiert. Vermißt habe ich hier eine Redo-Funktion, die es ermöglicht, den Undo-Puffer mit dem Originalbild beliebig oft auszutauschen, um die Änderungen zum Originalbild - besonders nach Filteroperationen - besser beurteilen zu können.

Die Werkzeuge

Das Werkzeug-Menü stellt die eigentlichen Bildbearbeitungsfunktionen bereit. Die Tool-Leiste bietet zunächst die Werkzeuge Malen, Wasser, Finger, Kopieren und Filter. Alle bedienen sich des im Pinseleditor entworfenen Pinsels. Zwei Schieberegler ermöglichen es hier, den Außen- und Innenradius des Pinsels sowie den Verlauf zwischen diesen zu definieren. Auch die Intensität, mit welcher der Pinsel Farbe aufträgt, läßt sich stufenlos regeln. Leider ist es noch nicht möglich, einmal definierte Pinsel abzuspeichern. Hier könnte ich mir ein flexibles Pop-up-Menü vorstellen, in dem alle gespeicherten Pinsel ständig zur Verfügung stehen.

Das Kopierwerkzeug dient dem Kopieren von Bildteilen. Nach dem Festlegen des Quellpunktes können Bildinhalte von dort an jede beliebige Stelle des Bildes (bzw. in ein anderes Bildfenster!) mit dem Pinsel kopiert werden. Durch den beliebig weichen Rand des Pinsels können auf diese Art Bildinhalte sanft ineinander kopiert werden. Wird mit dem Kopierer ein Bildausschnitt von einem Farbbild in ein Graubild kopiert (bzw. ein Lasso von einem ins andere Bild gezogen), erfolgt übrigens eine automatische Konvertierung in das Format des Zielbildes!

Eine Besonderheit von PHOTO LINE ist die Möglichkeit, mit Filtern zu zeichnen. Statt einen Filter auf das ganze Bild wirken zu lassen, ist es mit dem Filterwerkzeug möglich, gezielt einzelne Bereiche eines Bildes zu manipulieren. Hingegen ermöglicht die Stempelfunktion - ähnlich dem Kopierwerkzeug-das Malen mit Bildinhalten, hier jedoch mit beliebig geformten Bildausschnitten. Die Automaske dient dem schnellen Maskieren von Bildteilen mit ähnlicher Farbe. Hierzu wird mit der Maus in die Mitte des Bereiches geklickt, der maskiert werden soll; durch Drücken von Shift bzw. Control läßt sich dieser Maskenbereich beliebig erweitern bzw. reduzieren. Schnell sind auf diese Art auch komplexe Objekte in einem Bild maskiert Die Lupe schließlich ermöglicht eine Vergrößerung des Bildes bis auf 1600 sowie ein Verkleinerung auf 6 Prozent, wobei natürlich in sämtlichen Zoomstufen gearbeitet werden kann. Übrigens paßt sich der Werkzeugdialog automatisch dem jeweils ausgewählten Werkzeug an, so daß der Bildschirm nicht mit unnötig vielen Dialogfenstern verdeckt wird.

Abb. 5: Der Pinseleditor dient der Generierung von Werkzeugspitzen.
Abb. 6: Der in seiner Funktionalität vorbildliche Kurveneditor.

Editierbare Vektor-Lassos

Lassos, die benötigt werden, um Bildteile auszuschneiden und zu verschieben, werden mit dem Rechtecklasso oder dem freien Lasso definiert, wobei beide Lassowerkzeuge auch abwechselnd dazu benutzt werden können, Lassobereiche zu vergrößern oder zu verkleinern. Mit dem Schieberegler „Deckung" kann festgelegt werden, wie stark ein gewählter und plazierter Bildausschnitt mit dem Hintergrund verbunden wird. Hierbei gibt „Pixel weicher Rand" an, wie breit der weiche Übergang zwischen Hintergrundbild und eingefügtem Lasso werden soll. Ein Lasso kann mit der Maus frei plaziert werden; auf Wunsch auch in einem anderen Bildfenster, indem man das Bild einfach dorthin schiebt! Da Lassos nichts anderes als Vektorgrafiken sind, können sie auch mit dem in PHOTO LINE integrierten Vektorteil weiterbearbeitet werden.

In diesem finden sich umfangreiche Funktionen zum Selektieren, Editieren und Zeichnen von Vektorgrafiken. Die Arbeit im Vektoreditor gestaltet sich jedoch noch etwas hakelig, so daß man ihn momentan nur dazu verwenden sollte, Lassos nachträglich zu editieren bzw. neu zu zeichnen. An dieser Stelle sei erwähnt, daß PHOTO LINE auch in der Lage ist, Grafiken zu vektorisieren (inklusive Geraden- und Bezier-Optimierung!), so daß der Vektoreditor auch dazu benutzt werden kann, vektorisierte Bitmap-Grafiken nachzubearbeiten. Die Vektorisierung von Grau- und Farbbildern wird übrigens in einem der nächsten Updates implementiert werden. Ebenso wird momentan noch an der Möglichkeit gearbeitet, Vektorobjekte als Zeichenpfade einzusetzen sowie mit („NVDI-kompatiblen“) Vektorschriften zu arbeiten. Möchte man ein Bild beschriften, muß man sich momentan noch damit behelfen, eine fertige CVG- oder GEM-Grafik zu importieren.

Weiche Masken

PHOTO LINE verfügt über eine 8 Bit-Maske, die mit jedem Werkzeug erzeugt bzw. bearbeitet werden kann. Die möglichen 256 Intensitäts-Abstufungen der Maske ermöglichen „butterweiche“ Freisteller. So z.B. auch in Verbindung mit der Automaske, deren scharfe Ränder zunächst mit dem Weichfilter „entschärft" werden und dann zum weichen Freistellen benutzt werden können.

Farben lassen sich in PHOTO LINE wahlweise im RGB- oder im HSV-Modell definieren und in einem Farbauswahlfeld ablegen, wo sie dann jederzeit zur Verfügung stehen. Leider ist es nicht möglich, Farben im CMY(K)-Modus zu definieren, wie es im Druckvorstufen-Bereich häufig benötigt wird. Hier liegt auch noch der - meiner Meinung nach - größte „Knackpunkt“ von PHOTO LINE. Es ist leider noch nicht möglich, vorseparierte Bilder im CMYK-Format zu laden bzw. zu bearbeiten. Für diejenigen, die keine vorseparierten Bilder (z.B. Trommel-Scans), sondern ausschließlich RGB-Daten (z.B. Flachbett-Scans) verarbeiten und eine eventuell notwendige Farbseparation externer Software überlassen wollen, ist PHOTO LINE jedoch bestens gerüstet.

PHOTO LINE verfügt über umfangreiche Funktionen zur Bildkonvertierung. So lassen sich RGB-, Grau- und Monochrombilder beliebig untereinander wandeln, Monochrombilder sogar vektorisieren. Die Vektorisierung erfolgt zunächst nur mit Geraden; die erzeugten Polygone lassen ich dann jedoch im Vektoreditor komfortabel hinsichtlich Geraden und Bezierkurven optimieren. Gerade hinsichtlich der Polygonoptimierung wäre aber eine Undo-Funktion wünschenswert, da man selten auf Anhieb den idealen Optimierungswert trifft.

Bildschirmkalibration

Als sehr hilfreich erweist sich die Funktion zur Bildschirmkalibration, welche dazu dient, das RGB-Bild so darzustellen, wie es nach einer CMYK-Separa-tion bzw. im Druck aussehen würde. Obwohl PHOTO LINE in jeder Farbauf-lösung zu arbeiten vermag, greift die Bildschirmkalibration nur in Farbmodi mit 256, 32000 oder 64000 Farben. Einmal erstellte Kalibrationen lassen sich natürlich laden und speichern.

Die Farben eines Bildes können mit dem Clut-Editor beeinflußt werden, wobei die einzelnen Farbebenen einzeln oder auch gemeinsam über einen sehr anwenderfreundlichen Kurven-Editor, der u. a. auch mit Bezier-Kurven und Splines arbeitet, manipuliert werden können. Ebenso lassen sich hier Helligkeit und Kontrast eines Bildes justieren; auf Wunsch sogar in Echtzeit, so daß man während der Bewegung der Slider bereits die Änderungen im Bild verfolgen kann! Ebenfalls der Bildoptimierung widmen sich die Histogramm-Funktionen, welche dazu dienen, die Verteilung der in einem Bild vorhandenen Farben zu optimieren, was in den meisten Fällen zu einem deutlich homogeneren Bild führt.

Neben Funktionen zum Ersetzen bzw. Reduzieren von Farben ermöglichen zwei weitere Dialoge das Skalieren bzw. freie Rotieren von Bildern. Dank ausgereifter Algorithmen ist die hierbei erreichte Qualität einwandfrei.

Ich erwähnte bereits, daß PHOTO LINE mit Filtern malen kann. So existiert natürlich auch eine „normale“ Filterfunktion, welche global auf das gesamte Bild bzw. auf die nicht maskierten Bereiche eines Bildes wirkt. Neben den üblichen Weich-/Scharfzeichnungs- und Effektfiltern (Relief, Frei etc.) bietet PHOTO LINE auch eine hervorragende Funktion zum Unscharf-Maskieren. Diese arbeitet zwar deutlich langsamer als das „normale“ Schärfen, ist dieser aber in der erreichbaren Qualität deutlich überlegen. Eigentlich dürfte kein Bild vom Flachbett-Scanner den Weg in eine Publishing-Software bzw. auf einen Druckerfindern, ehe sie nicht den USM-Filter durchlaufen hat...

Fazit

PHOTO LINE machte im Testverlauf einen weitgehend stabilen, bezüglich der Implementierung der vorhandenen Funktionen recht ausgereiften Eindruck. Geschwindigkeit und Funktionalität konnten bereits in dieser noch recht jungen Programmversion überzeugen und lassen für die bereits angekündigten Updates rosige EBV-Zeiten erwarten. Trotz der angesprochenen Kritipunkte - an deren Beseitigung jedoch bereits gearbeitet wird - nimmt PHOTO LINE einen Spitzenplatz unter den für den ATARI erhältlichen Programmen zur elektronischen Bildverarbeitung ein. Einzig die Unterschlagung des CMYK-Formates ist sehr ärgerlich und sollte so schnell wie möglich nachgeholt werden. Jedem, der auf die Verarbeitung von CMYK-Bildern verzichten kann, möchte ich PHOTO LINE jedoch wärmstens empfehlen. Das Programm ist natürlich auch unter MagicMac lauffähig und profitiert hier deutlich von der Leistungsfähigkeit schneller Prozessoren (68040, PPC). Wer noch auf der Suche nach einer leistungsfähigen EBV-Software ist, findet in PHOTO LINE bestimmt das richtige Werkzeug.

Einige der in Cranach (Prevision) enthaltenen Funktionen sind noch nicht in PHOTO LINE eingebaut, so daß man auch hier mit weiteren neuen Programmfunktionen rechnen kann. Upgrades von Cranach bzw. Sidegrades von EBV-Program-men anderer Hersteller sind möglich. Anfragen hierzu sollten direkt an Computerinsel gerichtet werden. PHOTO LINE kostet 299,- DM.

MF

Photo Line

Positiv:

8 Bit-Maske
Vektorlassos
Kurveneditor
Bildschirm-Farbkorrektur
PCD-Import

Negativ:

keine CMYK-Unterstützung
Pinsel lassen sich nicht speichern
hakeliger Vektoreditor

Bezugsquelle: Computerinsel Zur Limestherme 4 9333 Bad Gögging



Aus: ST-Computer 02 / 1996, Seite 24

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