Calamus-Talk: Thomas Raukamp spricht mit Ulf Dunkel

Nach jahrelangem Tauziehen ist es nun endlich soweit: invers Software besitzt die Rechte am Publishing-Programm Calamus SL. Somit tun sich für die Zukunft des Programms ganz neue Wege auf. Thomas Raukamp von der st-computer traf sich mit Ulf Dunkel, um sich mit ihm über den Calamus-Deal und die Weiterentwicklung des Federkiels zu unterhalten.

Der Federkiel ist wieder in Deutschland beheimatet

Ulf, erst einmal herzlichen Glückwunsch zur „Hoheitsgewalt" über den Calamus. Wie fühlt man sich, wenn man ein langjährig gehegtes Lieblingskind endlich offiziell adoptieren darf?

Natürlich ist das ein gutes Gefühl. Seit vielen Jahren habe ich mich für die Calamus-Entwicklung engagiert - die kompletten Rechte zu bekommen, war ein wichtiger Schritt für Calamus. Der alte MGI-Vertrag schränkte uns auf Dauer zu sehr ein.

Ich nehme mal an, dass Du uns nicht offenbaren wirst, wieviel Steinchen Du für die kompletten Rechte auf den Tisch legen musstest, oder?

Vertragsgemäß darf die Summe nicht genannt werden, aber es war noch bezahlbar, ohne unsere Liquidität für die Weiterentwicklung zu beeinträchtigen.

Was gehört nun alles zu dem Kauf?

Die kompletten Rechte an Calamus SL. Als MGI uns 1997 das exklusive Weiterentwicklungsrecht und das Vertriebsrecht gewährt hatte, war das natürlich erstmal ausreichend großer Handlungsspielraum. Aber die Software-Märkte ändern sich rasant, daher müssen wir viel rascher und auch tiefgreifender entscheiden können. Daher ist es wichtig, wirklich „Herr im eigenen Haus" zu sein.

Die einzelnen Module bleiben doch bis auf einige im Besitz der Entwickler oder wie sieht das jeweils aus?

Die Modulrechte von DMC, MGI, Orion Computersysteme, Hasso Bau-dis, Frank Renkes Software, adequate Systems GmbH, Frank Tag und anderen liegen eh schon bei mir. Die aktiven Entwickler (Monscheuer, Kammerlander, Maringele, Domröse, KEDO etc.) haben natürlich ihre eigenen Modul-Copyrights, wobei fast alle das Exklusiv-Vertriebsrecht an invers Software gegeben haben.

Entwirre doch bitte einmal die Geschichte um die Inhaberschaft von Calamus. Einige Leser haben da sicher den Überblick verloren.

Eigentlich ist das nicht so schwer zu überblicken: Dietmar Meyfeldt hat Calamus ursprünglich ins Leben gerufen. Er gründete die DMC GmbH und ließ Calamus für DMC entwickeln.

Anfang der 90er Jahre gab er einem externen Entwickler-Team den Auftrag, Calamus SL nach Windows zu portieren. Die Rechte blieben bei DMC. 1995 übertrug er die Rechte an Calamus von der GmbH auf seine Person zurück, verkaufte diese Rechte als Einzelperson an MGI in Kanada und liquidierte seine GmbH.

invers Software erhielt 1997 von MGI das exklusive Vertriebs- und Entwicklungsrecht für Calamus SL. MGI arbeitete noch bis Ende 1998 an der PC-Version von Calamus weiter, stampfte sie dann aber ein. Ende 2001 wurde MGI von Roxio geschluckt, die automatisch auch die Calamus-Rechte übernahmen. Im Juli 2002 konnte ich von Roxio endlich die Calamus-SL-Rechte kaufen. Die PC-Calamus-Version (Calamus Publisher) ist längst verstaubt und interessiert niemanden mehr.

Wie zäh waren die Verhandlungen mit den Unternehmen aus Übersee?

Die Rechtsabteilung von Roxio brauchte einige Zeit, um den Wert von Calamus abschätzen zu können, danach waren die Vertrags-Ausarbeitungen noch ein wenig zeitraubend. Letztendlich ist der Deal aber binnen drei Monaten über die Bühne gegangen.

Was sind nun die nächsten Schritte nach dem Kauf?

Wir haben eine meterlange Wunschliste. Ich denke, der drängendste Wunsch ist, dass die Mac OS-User jetzt endlich komplett auf Mac OS X umstellen können. ASH MagiCMac X 1.0 für Mac OS X ist weitestgehend fertig. Das Drucken muss noch angepasst werden. Von unserer Seite aus fehlt vor allem noch das Laden von Mac-PS-Type-l-Fonts und die Anpassung von MacPrint.

Mit einer Preissenkung, weil invers eventuell keine Abgaben mehr an MGI leisten muss, ist aber nicht zu rechnen?

Wir haben meines Erachtens wirklich superfaire Preise und ständig Preisaktionen, Bundles usw. Die nicht mehr zu zahlenden Provisionen gehen in die Weiterentwicklung des Produkts, momentan konkret in die neue Vektorausgabe und den neuen Vektoreditor.

Die auf der Webseite angerissene Zukunft von Calamus hört sich ja recht interessant an. Was hat nun die erste Priorität?

Wie ich eben schon sagte: MacOS X. Wir möchten dort wieder mit dem Calamus WinPack gleichziehen.

Wie wird Calamus nun in die Betriebssysteme Mac OS X und Windows weiter integriert? Wird nach wie vor die Atari-Oberfläche zu sehen sein oder verschwindet das Äussere ganz hinter einer Mac OS X-bzw. Windows-„Maske"?

Wir machen „schleichende" Portierung. Das heißt, es werden nach und nach weitere Teile des alten TOS-Codes umgeschrieben werden. Dabei spielt die Oberfläche eine große Rolle. Denn obwohl viele erfahrene Calamus-User die jetzige Oberfläche des Calamus SL nicht missen wollen, müssen wir auch auf potentielle Neukunden hören. Als deren größte Hemmschwelle wird leider immer wieder die Oberfläche genannt. Für mich ist das eigentlich unverständlich, da ich sehe, wie oft andere Programme durch neue Oberflächen an Bedienungs-Klarheit und Tempo verlieren, statt zu gewinnen. Es ärgert mich aber vor allem, wenn die Calamus-Oberfläche schlechtgeredet wird von früheren Atari-Usern, die ihre Wurzeln längst aufgegeben haben und sich heute in Windows- oder Mac-Welten tummeln. Calamus-User selbst stören sich kaum an der Oberfläche, zumal sie ja heute längst optisch der Windows-Oberfläche angepaßt ist.

Wer prinzipiell was gegen Schwarz-Weiß-Icons von bis zu 40x40 Pixeln Größe hat und diese als undifferenzierte Mini-Icons in der Presse zerredet (wie jüngst wieder in der c't geschehen), hat meiner Meinung nach noch nie etwas von Benutzer-Oberflächen gehört, sondern meckert nur, weil er die Bonbon-Optik von Windows XP oder den Aqua-Look von Mac OS X halt gerade hip und trendy findet.

Wie lange wir die schwarzweißen Icons und das Befehlsfeld-Konzept noch behalten, weiß ich nicht. Das beschäftigt mich nicht wirklich. Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie die Leute bei der Vielzahl von Funktionen, die Calamus bietet, in Zukunft zig verschiedene Toolbox-Fenster wie Indesign oder Photoshop auf dem Bildschirm hin und herschieben oder doch nur ständig ein- und ausblenden wollen. Dieses Adobe-Konzept hat mir von Anfang an nicht sonderlich gefallen, weil es wertvolle Desktop-Fläche verschwendet. Mit Ergonomie hat das meines Erachtens nicht viel zu tun.

Wir haben eine meterlange Wunschliste. Ich denke, der drängendste Wunsch ist, dass die Mac OS-User jetzt endlich komplett auf Mac OS X umstellen können.

Bei der Mac-Portierung arbeitet invers also ganz direkt mit ASH zusammen?

Wir stehen noch am Anfang der Mac OS-Portierung. Von ASH ist hier leider nicht viel Hilfe zu erwarten. ASH hat noch immer die Rechte an MagiCMac, auch am von Andreas Kromke komplett neu geschriebenen MagiCMac X, jedoch sitzen bei ASH keine Entwickler. Die Schnittstelle von MagiC Mac X, von der aus wir nativen Mac OS-X-Programmcode aufrufen können, ist das Tor zur schleichenden Portierung. Schon unter MagiCMac 6 war es ja so, dass z.B. MacPrint, der PS-Type-1-Font-loader oder die Bildvorschau am Mac-nativen Mac OS-PPC-Code aufrief. In der Art werden wir zunächst weitermachen und weitere kritische Teile portieren. Dann sehen wir weiter.

Bist Du bisher mit der Geschwindigkeit unter Mac OS X auf einem heutigen Power Macintosh zufrieden?

Geschwindigkeit und Stabilität sind das A und O bei Computern. Ich bin erst vor kurzem selbst auf Mac OS X aufgestiegen und nutze momentan 10.1.5. Es ist ein sehr stabiles System, das sehr viel Aufwand treibt, um als Unix-Derivat der alten Mac OS-Benutzerführung gerecht zu werden. Die neuen grafischen Features (PDF-Ausgabe am Bildschirm selbst für Programm-Icons usw.) kosten ihren Performance-Preis. Daher bin ich mit meinem 800 MHz-G4 momentan gut ausgestattet.

Auch mit der Performance von Calamus unter MagiCMac X bin ich zufrieden.

Was fehlt genau noch an der Portierung von MagiC Mac auf Mac OS X?

MagiCMac X hat das Problem, dass Mac OS X keinen Motorola 68000-Prozessorcode mehr emuliert. Die alten Mac OS-Versionen seit dem Umstieg von 68k-Prozessoren auf PowerPC-Prozessoren haben ständig ihre eigenen Wurzeln - sprich die 68k-Prozessoren -emuliert. Es war für mich immer spas-sig, wenn Verfechter irgendeiner reinen Lehre uns kritisierten, wir würden dem Mac OS mit einem Emulator (MagiCMac), den Calamus dort zum Faufen braucht, keinen Dienst erweisen. Auch Mac OS 8 und 9 hatten selbst ständig einen Emulator an Bord, damit alte native MacOS-Programme nicht umgeschrieben werden mussten.

Mit Mac OS X wurde hier ein großer Schnitt vollzogen - meineS'Fr-achtens zu Recht. Mac OS X schleppt momentan noch eine sogenannte Classic-Umgebung mit, damit noch nicht auf Mac OS X portierte Programme dennoch laufen, denn auch Apple kann keine Rechner verkaufen, wenn keine interessante Software dazu da ist. Irgendwann wird die Classis-Umge-bung sicher wegfallen.

Andreas Kromke hat also für MagiCMac X einen komplett neuen 68k-Emulator bauen müssen, denn das TOS in MagiCMac X braucht nun mal diese Prozessor-Umgebung. Das erklärt zum einen, warum die Fertigstellung von MagiCMac X so lange dauerte. Zum anderen erklärt dies, warum die Performance von MagiCMac X hinter der von MagiCMac 6 auf vergleichbaren Rechnern bisher ca. 40 % zurückbleibt.

Aber - machen wir uns nichts vor: Als wir Anfang 1999 das Calamus WinPack mit dem integrierten STEmulator herausbrachten, gaben wir eine Empfehlung, der Prozessor solle mindestens 133 MHz bieten. Heute kriegt man derart lahme Rechner nur noch im Museum.

Jetzt läuft Calamus SL2002 unter MagiCMac X auf einem G4-800er „gefühlt" etwa so schnell wie auf einem Windows-Rechner mit ca. 400-500 MHz - ich habe dies noch nicht exakt gemessen, auch, weil ich keine solchen langsamen Windows-Rechner mehr habe. Nächstes Jahr, wenn das Gros der Mac OS-Anwender tatsächlich die Rechnergeneration austauscht, werden wir längst weit über 1 GHz haben.

Wird nicht durch die „schleichende“ Portierung, also die Verwendung von Emulatoren, nicht sowieso viel Arbeitsleistung verschenkt?

Unter schleichender Portierung verstehen wir das schrittweise Auslagem von Ursprungscode (hier für Atari-TOS) in ein anderes System (hier Mac OS X oder Windows). Der ausgelagerte Code wird momentan noch vom Calamus-Rumpf angesprochen, kann aber natürlich später, wenn mal der Calamus-Rumpf komplett nativ unter einem anderen Betriebssystem als TOS läuft, dort direkt weiter verwendet werden, ohne dass noch die vermittelnde Zwischenschicht nötig ist. Daher ist keine Programmierer-Arbeitsleistung verschenkt.

Grundbau wird MagiCMac für Mac OS X werden. ASH hat die Version 1.0 so gut wie fertig. Gute Nachrichten also auch für Nicht-Calamus-Anwender!

Rechner-Arbeitsleistung muss auch nicht in jedem Falle verschenkt sein. Bis das MagiCMac unter den letzten Mac OS-9-Updates immer instabiler wurde (was mal nichts mit Calamus zu tun hat), haben die Calamus-Mac-Anwender sich über die Performance dort nie beschwert, und das, OBWOHL Calamus am Mac unter einem Emulator läuft. Wir haben schon früh für MagiCMac sogar Funktions-BREMSEN einbauen müssen, da sonst einige Bedienungs-Elemente nur noch so am User vorbeigeflutscht wären.

Es kommt also auf eine geschickt Implementierung an. Und natürlich war es ideal, daß der Motorola-Code von Mac OS und Atari-TOS nicht sehr weit auseinander standen. Der frühere Mac war eben „ein Atari mit weniger Maustasten für mehr Geld".

Wenn ich das alles richtig verstehe, wird Calamus also komplett mit MagiC Mac zusammen als „Mac-Pack" erscheinen? Der Anwender muss die Programme also nicht einzeln kaufen?

Das ist das Ziel. Das ist aber nicht neu. Wir haben das schon im Juli 1999 projektiert. MagiCMac 6 war dafür vorbereitet worden, als Starter für nur noch ein Programm (eben Calamus) zu dienen.

Als Steve Jobs zu Apple zurückkehrte und die Mac OS-X-Geschichte anfing, haben wir Andreas Kromke gebeten, keine Energie mehr in MagiCMac 6 zu stecken, sondern sich gleich" auf die Anpassungen für Mac OS X zu stürzen. Das aber hat durch verschiedene Unwägbarkeiten und Probleme (auch seitens Apple) länger gedauert, als zuerst erwartet.

MagiCMac X ist mittlerweile dafür auch sehr stabil und wird sicher bald als „Starter" für Calamus dienen können.

Was denkst Du allgemein über Mac OS X? Ist Apple hier wirklich so ein großer Wurf gelungen? Und was bedeutet OS X für die Publishing-Szene?

Das alte Mac OS war ziemlich krank, es hatte weder richtiges Multitasking noch konnte mich seine Benutzerführung jemals begeistern. Leider sind viele dieser Restriktionen auch in Mac OS X noch zu spüren. Am meisten ärgert es mich, daß auch Mac OS X noch immer standardmäßig mit nur einer Maustaste daherkommt. Das Apple-Bedienerkonzept waren meines Erachtens von Nasebohrern gemacht, die nie die motorischen Möglichkeiten des Mul-tiple-Input-Device Maus verstanden haben. Die Begründung, man wolle den Leuten das Arbeiten erleichtern, hat für mich nie Sinn ergeben. Wozu hat die Hand fünf Finger, wenn man nur einen nutzen soll?

Für mich ist Mac OS X ein wichtiger Schritt nach vom für Apple. Und es soll auch für Calamus eine interessante Plattform werden.

Interessant ist auch die Ankündigung, dass Arbeiten an der Benutzeroberfläche gemacht werden sollen. In welche Richtung geht es nun? Passt man sich doch an Lösungen wie InDesign an?

Wir möchten gern flexibel bleiben. Derzeit laufen Tests, wie gut und rasch wir die .NET-Dialogtechnik unter Windows einsetzen können. Dieses Konzept sieht vor, daß wir unter Mac OS X dann ebenfalls auf eine Oberflächen-Library (Cocoa) zurückgreifen könnten, um die Dialoge etc. darzustellen. Mein Wunsch wäre, daß die User zwischen verschiedenen Oberflächen wählen und diese auch selbst definieren können. Dann wären die alten leidigen Diskussionen über schwarzweiße contra bunte Icons, über 3D-Dialoge und Fenster-Optiken endlich zuende.

Indesign baut auf einer Oberflächen-Einheitsbrei-Library von Adobe auf, da man dort meint, alle Programme sollen gleich aussehen, damit man sich als Anwender auch immer gleich zurecht findet. Das wird meines Erachtens den unterschiedlichen Anwendungsbereichen verschiedener Programme nicht gerecht. Und ein großer Knüller ist die Adobe-Oberfläche ja nun wirklich nicht. Die Verbreitung der Programme hat leider in vielen Köpfen die Meinung festgesetzt, die Oberfläche sei toll. Aber das ist eine andere Geschichte.

Gibt es bereits erste Konzepte zu eurer neuen Oberfläche oder gar Screenshots?

Konzepte jede Menge, zu sehen gibt es natürlich immer erst was zum Schluss. Eine gute Benutzer-Oberfläche ist zunächst mal immer ein technisches Konzept, um Informationen vom Programm zum User und vom User zum Programm zu bringen. Wenn man ein Dokument gesetzt hat und es ausgeben will, ist es dem Anwender prinzipiell völlig egal, ob der Dialog, in dem er dann auf „Drucken" klickt, von Calamus, vom Betriebssystem oder von PacMan auf den Bildschirm gebracht wird. Calamus ist dies auch egal. Hauptsache, die Informationen flies-sen. Daher ist erst zu klären, wie wir ohne große Performance-Einbußen und ohne zu großen Arbeitsaufwand an möglichst moderne, flexible Ober-flächen-Bibliotheken herankommen, um sie für Calamus zu nutzen. Sobald das geklärt ist, ist die Umsetzung der neuen Oberfläche(n) eigentlich nur noch eine Fleißarbeit.

Der Mac-Markt ist ja sehr eingefahren, wenn es um Publishing-Programme geht. Selbst ein Riese wie Adobe hatte seine Probleme, InDesign gegen das sehr etablierte Quark XPress zu platzieren.

Viele meiner Kollegen im DTP- und Publishing-Bereich sind von jeher konservativ. Da wird zum Teil immer noch mit Quark 3.31 gearbeitet (das mit der „hässlichen" Schwarz-Weiß-Oberfläche, höhö ...), da ist man argwöhnisch gegenüber Indesign schwört noch immer auf veraltete Programme wie PageMaker 6. Die DTP-Szene ist also -von den üblichen Frühstartern abgesehen - meiner Meinung nach eher zurückhaltend. Da aber dieselbe DTP-Szene seit den ersten Apple-Jahren so auf die Markentreue zu Apple eingeschworen wurde, werden sie alle beim Apple bleiben - und nun feststellen, dass die neuesten Apples gar kein altes Mac OS mehr mitbringen, sodass die alten Programme dann neu gekauft werden dürfen. Natürlich spielen auch die bei diesen Programmen oft horrenden Upgrade-Preise eine Rolle bei der Entscheidung, ob man noch ein weiteres Jahr bei seiner alten Version bleibt.

«Ulli Ramps hat dieselbe Ausgangsproblematik wie wir auch: Gute Entwickler wollen sowohl neue Konzepte in ihre Programme integrieren als auch Kundenwünsche realisieren. Sowohl papyrus als auch Calamus haben das TOS-Betriebssystem und die C-Compiler zur Genüge ausgereizt. Es wäre einfach komplett unwirtschaftlich, heute noch unter PureC Konzepte neu zu entwickeln und reifen zu lassen, die auf anderen Plattformen längst von der Stange zu haben sind.»

Wie will invers hier Calamus-Kunden gewinnen?

Wir wollen nicht konkret Konkurrenz zu InDesign, Quark und Pagemaker sein, das sind wir indirekt für viele unserer User eh schon. Momentan interessiert mich vor allem die phänomenal genaue neue Vektorausgabe, an der wir mit Hochdruck arbeiten. Diese 160-Bit-Vektorausgabe bietet ungeahnte Möglichkeiten im Bereich des LSP (Large Scale Printing) oder der Plot-Anwendungen. Dort, wo ganze Hausfassaden mit Großdrucken eingekleidet oder Riesenplots erstellt werden müssen, werden wir sicher mit Calamus gut landen können. Auch die SoftRIP-Ausgabesicherheit mit echtem WYSIWYG ist längst noch kein alter Hut. Viele unserer Kundinnen und Kunden vertrauen vor allem auf die Stabilität und Verlässlichkeit der Calamus-Dokumente. Man hat vom ersten Dokument an ein „Urvertrauen", dass das Dokument so bleibt, wie man es gemacht hat - auch beim Drucken. Da liegen unsere Stärken - die Kunden honorieren das.

Was bedeutet dies alles für reine Atari-Anwender? Ist zu befürchten, dass die reine Atari-Version früher oder später eingestellt wird?

Wir haben schon letztes Jahr angekündigt, die neue Oberfläche angehen zu wollen. Für den Fall, dass wir tatsächlich auf .NET setzen, ist die reine Atari-Version ab dem Zeitpunkt dann gestorben.

Eine klare Aussage. Wieviele reine Atari-Anwender hat invers überhaupt noch verzeichnet?

Soweit ich das sehen kann, liegen die reinen TOS-Maschinen (Milan, Hades, TT, Falcon) mittlerweile bei nur noch fünf Prozent der Calamus-Userschaft. Zwei Masochisten nutzen SL2000 noch auf einem Mega STE! Die Speichergrenzen, die vergleichsweise geringe Performance und die mangelnde Vielfalt aktueller anderer Atari-Software sind Gründe, warum immer weniger User nur noch TOS-Maschinen einsetzen. Auch hören wir mehrfach pro Monat im Support, dass wieder ein TT den Geist aufgegeben hat. Wir reden beim Atari TT von zum Teil 12 Jahre alten Maschinen...

Erwartest Du, dass weitere Leute zum Mac abwandern, wenn erst eine Version für Mac OS X bereitsteht?

Diese fünf Prozent Rest-Atari-User haben sich vielleicht längst entschieden. Wer bis heute keinen Mac oder PC für Calamus angeschafft hat, ist vielleicht einfach mit seinem Atari zufrieden. Immerhin kostet ein G4-Mac nicht wenig, und aus alter Hassliebe gegen DOS-Rechner sind diese User wohl auch nicht bereit, Zeit und Geld in ein lauffähiges Windows-System zu stecken. Ich kann es ihnen nicht verübeln.

Was hältst Du von Ankündigungen wie denen von R.O.M. logicware, die papyrus OFFICE für den Atari wahrscheinlich nicht mehr weiterentwickeln, weil es hier keinen guten Compiler für C++ gibt?

Ulli Ramps hat dieselbe Ausgangsproblematik wie wir auch: Gute Entwickler wollen sowohl neue Konzepte in ihre Programme integrieren als auch Kundenwünsche realisieren. Sowohl papyrus als auch Calamus haben das TOS-Betriebssystem und die C-Compi-ler zur Genüge ausgereizt. Es wäre einfach komplett unwirtschaftlich, heute noch unter PureC Konzepte neu zu entwickeln und reifen zu lassen, die auf anderen Plattformen längst von der Stange zu haben sind.

Was hältst Du mittlerweile von Bestrebungen, einen neuen Atari-Kompatiblen auf Basis des Cold-Fire-Prozessors zu entwickeln? Ist ein Markt da? Würde invers so eine Entwicklung evtl. wieder mit einer Shareware-Version von Calamus unterstützen?

Ich finde Artenvielfalt überall sinnvoll, nicht nur in meinem Garten und in den tropischen Regenwäldern. Die diversen Anläufe, einen neuen Atari-Kompatiblen aus der Asche aufsteigen zu lassen, verfolge ich mit Geduld und Großmut. Keines dieser Konzepte verfügt über genügend Manpower und Finanzkraft, um sich binnen kurzer Zeit gegen die Großen durchsetzen oder ihnen auch nur ein bisschen Angst machen zu können. Wenn aber ein engagiertes Atari-Konzept in einem Jahr nur 1.000 neue Rechner verkauft hätte, wäre das eine schöne Sache. Und solange Calamus noch unter TOS läuft, werden wir solche Konzepte immer unterstützen.

Die Shareware-Version von Calamus (die sog. „lite edition") hat in letzter Zeit beachtlich zur Verbreitung und zur Bekanntheit des Programms beigetragen. Es steht jedem Atari-Konzept frei, Calamus lite edition direkt mit auszuliefern. Aber erst müsste die Henne mal das Ei legen.

Das Interview führte Thomas Raukamp


Thomas Raukamp
Aus: ST-Computer 09 / 2002, Seite 12

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