Text in Form: Atari DTP in der Anwendung

Bild 1. Der Text umfließt automatisch die Illustration im gewünschten Abstand

Schrift ist eine der bedeutendsten Erfindungen der Menschheit. Mehr als das Rad hat sie die Entwicklung des denkenden Lebewesens beeinflußt. War die Entwicklung von Sprache die Voraussetzung dafür, daß Gedanken von einem Menschen zum anderen transportiert werden konnten, so überwand die Schrift für den Gedankenaustausch Raum und Zeit. Hat vor Hunderten von Jahren der Schreiber auf unterschiedlichsten Materialien Warte hinterlassen, kann der Finder der Aufzeichnungen noch heute die Worte und damit seine Gedanken deuten.

Bis heute haben sich bei der Schrifterstellung lediglich Werkzeug, Form und Aufbereitung verändert. So sitze ich nachts vor meinem TT, um diesen Artikel in Worte zu fassen, die Sie zu einem völlig anderen Zeitpunkt an einem völlig anderen Ort lesen können. Kein Wunder, daß der Mensch der Schriftkunst seit Anbeginn eine besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ. Schrift wird nicht nur in seiner Alltagsform als handschriftliche Kurzmitteilung auf dem Küchenzettel benutzt. Schrift wird in jeder erdenklichen Form allein oder in Kombination mit Bildmaterial aufbereitet. Vom Boulevard-Blatt über die aufwendigen Hochglanzprodukte der Werbung bis hin zum künstlerisch gestalteten Buch.

Bild 2. Mit Hilfe des Vektor-Moduls und dem automatischen Text-Umfluß läßt sich Text auch in einem Kreis setzen
Bild 3. Mit Hilfe von Speedline und Mektormodul wird Ihr Text zur Headline

Der aktuelle Stand der Textgestaltung für Druckvorlagen ist Desktop Publishing. Herrschte für die handschreibenden Mönche des Mittelalters die absolute typographische Freiheit, so brachte der Vervielfältigungszwang mit der Drucktechnik zahlreiche Einschränkungen. Einschränkungen, die der Verspieltheit des Menschen im Wege standen. Denn ab und zu sollte der Text nicht quadratisch, praktisch, langweilig daherkommen, er sollte sich den Formen von Bildern anpassen oder auch einmal ein Eigenleben als Formsatz führen. Puristen verachten diese typographische Variante, zahlreiche junge Gestalter lieben sie. Setzer an klassischen Satzsystemen möchten den aufwendigen Formsatz am liebsten ins Jenseits verbannen. Von Hand ging das ja noch einfach. Wollte der federschreibende Mönch (auch er verwendete bereits einen Calamus...) die Bibelillustration in einen Textblock hineinragen lassen, so schrieb er den Text sorgsam umfließend um die Illustration. Gutenberg hatte es bereits etwas schwerer, er mußte umständlich die Druckbuchstaben um das Klischee der Illustration herum »bauen«. Letztendlich brachten der Maschinen-und der frühe Lichtsatz unzählige Einschränkungen in der Fließtextgestaltung. Formsatz wurde zur unlösbaren Rechenaufgabe. Die Maschinen gaben die Textblöcke vor, wie die Architekten Wohnblöcke Vorgaben. Formsatz war ein Stück unrealisierbarer Freiheit. Erst DTP-Software erlaubt wieder den frei definierten Satz um Bild- und Grafik-Elemente. Durch immer leistungsstärkere Software läßt sich mit Schrift inzwischen alles machen, was Typographen lieben und fürchten. Am ST,STE,TT oder Falcon können Sie unter Calamus S/SL, PPM oder Didot Professional Texte und Bilder kombinieren und elegant aufbereiten.

Ist der Formsatz in Calamus 1.09N nur überzahlreiche Hilfsrahmen machbar, um die der Text dann fließt, verfügen Calamus S und SL über eine elegantere Formsatzfunktion. Alle Vektorelemente werden automatisch im gewünschten Abstand umflossen. Die Calamus-eigenen Rasterflächenrahmen können ebenso als Umflußpolygon verwendet werden wie selbsterzeugte Vektorelemente aus dem Vektor-Editor oder aufwendige Vektorgrafiken. Die Handhabung ist relativ einfach. Das benötigte Bedienfeld erreichen Sie, wenn Sie Ihren Textrahmen selektieren und im Rahmen-Modul auf das Fragezeichen klicken. Die Icons für die Formsatz-Funktionen fristen hier ein oft ungenutztes Dasein. Sie können wählen, ob Ihr Umflußpolygon (damit ist die Vektorgrafik gemeint, um die der Text fließen soll) sichtbar oder unsichtbar ist. Sie können den Umflußabstand zur Vektorgrafik definieren. Sie können den Text umfließen lassen und Sie können den Text wieder in das ursprüngliche Rahmenformat zurückfließen lassen. Das klingt zunächst banal, aber Sie können mit diesen Funktionen erstaunlich viel anfangen, wenn Sie wissen, wie Calamus darauf reagiert. Üblicherweise fängt die Arbeit damit an, daß Sie einen Textblock haben, in den eine Grafik hineinragt. Der Text soll um diese Grafik herumlaufen. In diesem Fall klicken Sie einfach den über der Grafik liegenden Textrahmen an, selektieren das Umfluß-Icon im Rahmen-Modul Bedienfeld, klicken den Grafikrahmen an und selektieren erneut das Umfluß-Icon. Schon modelliert Calamus S/SL Ihren Text um die Grafik. Doch nur in wenigen Fällen können Sie sich sofort anderen Gestaltungs-Schritten widmen. Ohne Nachbearbeitung oder Tricks erreichen Sie natürlich keine Optimal-Lösung. Sauberer Formsatz erfordert zunächst die richtige Wahl der Schrift und ihrer Größe. Grundsätzlich sind kleinere Schriftgrade besser für den Formsatz geeignet als große Schriftgrade. Die Texttrennung ist ebenfalls von Bedeutung. Die Vorgaben für die Silbentrennung sollten möglichst viele Trennungen zulassen. Nur ein Text, den die Software trennen darf, kann sauberen Formsatz bilden. Lange Wörter würden bei Verzicht auf die Trennung große Löcher in den Satz reißen. Natürlich lassen sich durch die Löcher nicht immer ohne manuelle Nacharbeit vermeiden.

Bild 4. Text läßt sich beliebig bearbeiten, ohne daß die Umfluß-Vorgaben gelöscht werden. Sogar die Textdrehung erlaubt den Textfluß nur an vordefinierten Positionen.

Nachbearbeitung ist gelegentlich auch bei dem Textfluß um Vektorgrafiken mit offenen Innenformen notwendig. Die Innenformen werden von der Software nicht der Grafik zugeordnet, so daß einzelne Wörter oder auch nur Buchstaben plötzlich innerhalb der Vektorgrafik stehen. Sie können sich mit einem kleinen Trick diese Fehlinterpretation vom Leibe halten. Selektieren Sie einfach die Vektorgrafik. Kopieren Sie die Grafik ohne Verschiebung, so daß die Kopie genau auf dem Original liegt. Öffnen Sie bei selektiertem Rahmen der Kopie das Vektor-Modul und drücken Sie die Tastenkombination ALTERNATE+A. Alle Bestandteile der Vektorgrafik sind nun selektiert und können im Vektormodul gesamt schwarz eingefärbt werden. Ist dies geschehen, wechseln Sie wieder in das Rahmen-Modul und verwenden die »schwarze Kopie« als Umflußpolygon. Anschließend können Sie den Rahmen entweder löschen oder zur späteren Verwendung ins Clipboard verfrachten.

Genial ist die Möglichkeit der umfassenden Textkorrektur ohne Zerstörung des Umflusses. Egal ob Sie die Schriftgröße ändern, inhaltliche Veränderungen vornehmen oder gar den Text drehen, er fließt immer elegant um die ausgesparte/n Grafik/en. Was aber, wenn die Grafik, um die der Text fließen soll, gar keine Vektorgrafik ist, sondern beispielsweise ein Tiff-Bild? Hier fließt der Text naturgemäß lediglich um den gesamten Rahmen, nicht aber um dessen Inhalt. Sie müssen also mit Vektor-Masken arbeiten. Hat Ihr Bild klare geometrische Außenformen, können Sie die Rasterflächen-Rahmen (Kreis, Quadrat, Rechteck etc.) zu Hilfe nehmen. Wenn es das Bild erlaubt, können Sie die Maske auch durch Vektorisierung mit dem programmeigenen Autotracer »Speedline« erzeugen. Geht auch das nicht, erzeugen Sie im Vektor-Modul manuell ein Vektor-Umflußpolygon. Nach Gebrauch löschen Sie das Polygon oder legen es ins Clipboard. Durch die Kombination unterschiedlicher Programmfunktionen läßt sich Formsatz in Calamus SL auch kreativ einsetzen. Text läßt sich in Verbindung mit dem Vektormodul in fast jede Form bringen. Wollen Sie Ihren Text einmal in einer runden Fläche setzen? Ziehen Sie dazu einen leeren Vektorgrafik-Rahmen in der gewünschten Größe auf. Offen Sie das Vektor-Modul und ziehen eine quadratische Fläche mit Füllung auf. Darüber plazieren Sie einen ebenfalls gefüllten Kreis. Selektieren Sie Kreis und Quadrat und kombinieren die beiden Flächen. Sollte jetzt kein Quadrat mit kreisförmigem Loch entstanden sein, müssen Sie noch die Drehrichtung des Kreises ändern. Nachdem Sie also die Fläche mit dem Loch erzeugt haben, können Sie in das Rahmenmodul wechseln. Positionieren Sie Ihren Textrahmen so auf der »Lochgrafik«, daß sie seitlich nicht übersteht. Wählen Sie eine günstige Schriftgröße und wenden den Trenn-Algorithmusan. Erzeugen Sie jetzt einen Umfluß, fließt der Text sauber in der Kreisfläche. Die Lochgrafik kann man anschließend entfernen. Selbst wenn Sie jetzt Korrekturen vornehmen, bleibt der Text in Form.

Was mit einem Kreis geht, geht natürlich auch mit anderen Formen, warum nicht auch mit Schrift? Kann Text die Form seiner Headline annehmen? Erzeugen Sie hierfür eine Headline mit einer sehr fetten, serifenlosen Schrift. Ziehen Sie über die Schrift einen Vektorgrafik-Rahmen. Öffnen Sie Speedline und stellen die Parameter ein. Vektorisieren Sie die Headline. Im Vektoreditor kombinieren Sie die vektorisierte Headline mit einer Fläche und erzeugen wie beim Kreis eine Lochmaske. Positionieren Sie Ihren Textrahmen auf der Lochmaske und wenden die Formsatz-Funktion an. Der Text läuft jetzt in der Headline. Schöpfen Sie die Funktionsvielfalt von Calamus S oder SL kreativ aus, können Sie Effekte erzielen, die auf anderen Plattformen trotz längerer Software-Entwicklungszeiten nicht oder nur auf großen Umwegen durch die Software-Landschaft zu erreichen sind. (wk)


Rüdiger Morgenweck
Aus: TOS 05 / 1993, Seite 62

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