Was lange währt... Desktop Publishing für den Atari ST & TT

Professionalität muß man sich erarbeiten und das kostet gelegentlich viel Schweiß und Ärger. In dem Maß, in dem aus dem Atari ST/STE/TT erwachsene Profi-Maschinen wurden, wuchsen auch die Softwarehäuser und mußten dabei zusammen mit ihren Kunden reichlich Lehrgeld bezahlen.

Mit »Calamus« begann 1987/88 für viele Gestalter die Ära professionellen DTPs auf Atari-Computern. Aus einem anfangs eher »bombigen« Softwareprodukt entwickelte sich langsam aber sicher einer der leistungsstärksten Publisher überhaupt. Wer nicht aus anfänglich zahlreichen Enttäuschungen als Anwender verloren ging, landete schließlich bei »Calamus SL«, dessen Grundkonzept den Vergleich zu anderer Software wirklich nicht scheuen muß, wie unser großer Systemvergleich eindrucksvoll belegt. Kein Wunder also, wenn zahlreiche bekannte Print-Produkte dem Programm mit der Feder entsprungen sind?

Ja und nein. Überzeugt mittlerweile die Leistungsstärke jeden professionellen Anwender, so haben doch unzählige Ungeschicklichkeiten der Firmen Atari und DMC immer wieder das Vertrauen potentieller Großkunden bis ins Mark erschüttert. Während Hard- und Software immer besser wurden, ist das Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Firmen geschwunden. Leider hat man dort immer wieder übersehen, daß neben der Produktentwicklung auch »vertrauensbildende Maßnahmen« beim Kunden unablässig sind. Sei es schlechter Support, frühzeitige Ankündigung oder gar Auslieferung unfertiger Produkte sowie das Ignorieren real existierender Standards - kein Fettnapf blieb in der Vergangenheit unbetreten.

So kommt es, daß derjenige, der die Vergleichsmöglichkeit zwischen den Computer- und DTP-Welten hat, immer wieder mit Enttäuschung feststellen muß, daß bessere Konzepte auf Atari-Rechnern weniger Erfolg haben als unbefriedigendere Konzepte auf den IBM- oder Apple-Maschinen. Mit gezieltem Management und zügigerer Entwicklung von Systembrücken könnte eine Software wie Calamus SL zum Design-Nonplusultra werden.

Die Voraussetzungen hierfür sind optimal. Calamus SL ist mittlerweile zuverlässig und stark, das modulare Konzept macht die Software zum flexibelsten und zukunftsweisenden DTP-Programm, und die Belichtungsergebnisse sind von hervorragender Qualität. Diese Qualität ist auf die Calamus-eigene Softripping-Technologie zurückzuführen. Die eigene Belichter-Sprache ist aber großer Vorteil und zugleich größter Nachteil von Calamus. Die Begeisterung über die Eigenentwicklung hat beim Softwarehaus leider dazu geführt, daß alles, was an PostScript erinnert, lange Zeit geradezu verteufelt wurde. Der Blick für die realen Probleme der Anwender schien getrübt, denn so gut Calamus bei entsprechender Hardware-Ausstattung als Insellösung auch ist, im Zusammenspiel mit anderen Systemen wachsen die Probleme schier ins Endlose.

Da gibt es z.B. den einfallsreichen Werbeverlag in Braunschweig. Optimal ausgestattet mit mehreren Atari-Arbeitsplätzen, Linotype-Anbindung und überzeugt von Calamus SL. Der Werbeverlag liefert hervorragende Filme, der größte und wichtigste Kunde will aber keine Filme mehr. Er will Postscript-Dateien, um den Umbruch und die Plattenbelichtung auf elektronischem Wege zu bewerkstelligen. Da sind die zahlreichen Anwender, die gerne hochauflösende Postscript-Drucker ansteuern möchten, deren Qualität weit besser ist als die des SLM 605. Da sind die Verlage und Agenturen, die gerne Calamus SL einsetzen würden, wenn sie doch bloß die DOS-und Apple-Textdateien der Autoren mit allen Attributen übernehmen könnten. Da sind die Layouter, die unbedingt eine Schrift benötigen, die nur als PostScript-Font existiert - konvertieren verboten. Langsam scheint aber auch zu DMC durchgedrungen zu sein, daß Geld nur mit praxistauglicher Software zu verdienen ist. Das »Konzept Dataformer« ist bereits ein Zeichen dafür, daß man sich aus der Inselsituation befreien möchte. Eines kann sich DMC dabei allerdings nicht wieder leisten: Lange Wartezeiten auf ein zufriedenstellendes, fehlerfreies Produkt. (wk)


Rüdiger Morgenweck Wolfgang Klemme
Aus: TOS 10 / 1992, Seite 98

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