Ein Vektor kommt selten allein: Vektorgrafiken aus der Nähe betrachtet, Teil 1

Es war einmal vor langer, langer Zeit. Ein einsamer Programmierer saß vor seinem Rechner und haderte mit dem Schicksal. War er es doch überdrüssig, die Ecken und Kanten in den Bildern seines getreuen Blechdieners zu zählen: nicht Pixel noch Punkte, nein Formeln und Funktionen mußten her.

Nun ja, vielleicht ist die Geburtsstunde der vektororientierten Zeichenprogramme nicht ganz in dieser Art vonstatten gegangen. Aber eins ist sicher, irgendwann einmal reichte die Druckqualität der Pixel-Grafiken nicht mehr aus. Die hohen Ansprüche von Designern, Grafikern und Satzbelichtern erlaubten keine ausgefransten Ränder und nur scheinbar runde Kreise [die Quadratur des Kreises ist eher ein mathematisches Problem) in den Druckvorlagen und Reinzeichnungen.

Technisch gesehen ist eine Linie in einer Pixel- oder Rastergrafik nichts weiter als eine Reihe von gesetzten Bildpunkten bzw. Bits im Bildschirmspeicher. Auf Wunsch legen Sie dann eine Kopie dieses Speichers in einer sogenannten »Bit-Map« auf Diskette ab, gewissermaßen eine Landkarte, die für jeden Punkt des Bildes die Art der Färbung angibt. Veränderungen in diesen »Bit-Map-Grafiken«, wie z.B. Vergrößerungen,

verlangen ein pixelweises Löschen oder Hinzufügen von Bildinformationen. Daraus resultieren unter anderem die teilweise extremen Stufen in den Bildern. Demgegenüber behandeln »objektorientierte« Zeichenprogramme jede gezeichnete Figur als ein eigenständiges Element. Die Informationen zu diesen Objekten bestehen jetzt nicht mehr aus einzelnen Bildpunkten, sondern das Programm legt eine Liste an, in der z.B. die Koordinaten der Start- und Endpunkte einer Linie enthalten sind. Daneben finden sich noch weitere Angaben über Art und Aussehen der Linie oder Füllmuster bei geometrischen Formen, eben alle charakteristischen Merkmale eines Zeichenobjektes. Dieses Vorgehen, eine Figur über deren Eigenschaften zu definieren, ist den Mathematikern unter dem Stichwort »Vektor« bekannt.

Die Arbeitsweise und die damit verbundenen Vor- und Nachteile dieser vektororientierten Darstellung veranschaulichen Sie sich am besten anhand von Beispielen. Starten Sie ein beliebiges Vektor-Zeichen Programm, eine Auswahl von derartigen Programmen finden Sie in dem Info-Kasten. Bei kombinierten Anwendungen wechseln Sie in den »Vektor-Teil« und wählen die Funktion »Kreis«. Mit einem Mausklick bestimmen Sie den Kreismittelpunkt, die Mausbewegung stellt danach den Radius ein. Den endgültigen Kreisdurchmesser legt ein weiterer Mausklick fest.

Bild 1. Ob groß, ob klein, nur gerade soll die Kurve sein. Größenänderung ohne Verluste.
Bild 2. Verschoben ist nicht aufgehoben, selektierte Objekte auf Annäherungskurs
Bild 3. Objekte stapelweise, Sie bestimmen die Reihenfolge.

Schön, so sagen Sie jetzt, ein Kreis, das kann mein Pixel-Grafik-Programm auch. Nun, dann ändern wir einmal die Größe und Linienstärke dieses Kreises. Suchen Sie hierzu die Funktion »Objekt selektieren«, diese ist manchmal auch unter »Rahmen aufziehen« bzw. »Objekt markieren« zu finden. Ein Klick auf den Kreis aktiviert den Objektrahmen, der, mit acht Zugboxen versehen, genau den Kreis umfaßt. Mit einem Mausklick innerhalb dieses Rahmens nehmen Sie das »selektierte« Objekt auf und verschieben es in die Mitte der Arbeitsfläche. Die grauen bzw. schwarzen Felder auf dem Objektrahmen ermöglichen Ihnen nun das stufenlose Ändern der Objektgröße durch einfaches Anklicken und Verschieben mit der Maus. Ein Linksklick beendet den Befehl, ein Rechtsklick bricht ihn in der Regel ab. Dieses sogenannte »Skalieren« des Objektes erfolgt, wie Sie sehen, ohne nennenswerte Auflösungsverluste! Nachdem Sie die Kreisgröße geändert haben, aktivieren Sie jetzt den Menüpunkt »Objekt Info« oder »Objekt Parameter«. Wählen Sie hier nun eine neue Linien breite und ein neues Füllmuster. Nach dem Sie mit »Return« bestätigt haben, erfolgt ein komplett neuer Bildaufbau und ein neuer Kreis ist zu sehen.

Durch die bisherigen Zeichenbefehle haben Sie das Programm ganz schön ins Schwitzen gebracht. Warum? Für jedes gezeichnete Objekt ist eine doppelte Information im Speicher angelegt. Die eine enthält die Angaben zum Bildaufbau, also die gesetzten Pixel in der Arbeitsfläche, genau wie bei den Rastergrafiken auch. Der andere Speicherbereich (die weiter oben erwähnte Liste) besteht aus den zur Berechnung des jeweiligen Objekts benötigten Parametern. Um bei unserem Beispiel zu bleiben, die Berechnung des Kreises geschieht immer nach der gleichen Formel. Verändern Sie nun einzelne Werte, wie z.B. den Radius oder die Koordinaten des Mittelpunktes, so ergibt sich aus den für die »Vektorenrechnung« gültigen Umrechnungsverfahren das neue Objekt. Die neue Grafik erscheint ebenso fein strukturiert wie ihre Vorgängerin, nur eben an neuer Position und mit neuer Größe. Das Ändern der »Zeichenattribute« wie Füllmuster und Linienbreite verläuft nach demselben Prinzip. Der hohe Programmieraufwand rechtfertigt auch die in der Regel recht hohen Anschaffungskosten solcher Systeme.

Doch kehren wir zur Praxis zurück und vervollständigen unsere Fingerübungen. Löschen Sie die Arbeitsfläche und zeichnen Sie nacheinander einen Kreis, eine Raute und ein Dreieck, die mit unterschiedlichen Füllmustern versehen sein sollten. Selektieren Sie anschließend die einzelnen Objekte und schieben diese übereinander, wie in Bild 2 zu sehen ist. Damit Sie nicht für jede Figur extra den »Objekt-Rahmen« aktivieren müssen, wählen Sie der Einfachheit halber die Funktion »Alles selektieren«.

Jedes einzelne Objekt behandeln Sie auf Wunsch getrennt, diese Selektion ist gekennzeichnet durch den Objektrahmen. Innerhalb dieser Umrahmung müssen Sie sich die Figur wie auf Klarsichtfolie gezeichnet vorstellen. Und diese Folien plazieren Sie ganz nach Belieben über- oder nebeneinander. Aber damit nicht genug, mit den Befehlen »Objekt hervorholen« bzw. »Objekt zurücksetzen« ändern Sie die Reihenfolge der Folien, oder besser gesagt der Objekte (vgl. Bild 3). Kehren Sie mit diesen Befehlen das Unterste zuoberst. Im nächsten Teil beschäftigen wir uns mit ein paar weiteren Besonderheiten der Vektor-Zeichnerei, um danach eine komplette Grafik zu entwerfen. Bis dahin gutes Gelingen! (wk)

Vektorzeichen-Software

Megapaint II professional, Tommy Software Berlin
Arabesque professional, Shift
Didot Line Art, 3K-Computerbild
Avant Vektor, Trade it
Type Art, DMC


Andreas Wischerhoff
Aus: TOS 09 / 1992, Seite 92

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