Schönschrift par ST-lence? Calligrapher Professional, Vektor-Schreiber von WorkingTitle

*Calligrapher Professional, der professionelle Schönschreiber, bietet weit mehr als nur Schönschrift. Postscript-Unterstützung, verschiedene Grafik-Formate, automatischer Tabellen- und Formelgenerator, Serienbrieffunktion und Ideenprozessor versprechen ein komfortables Textverarbeiten.«

Den stärksten Reiz übte auf mich die Verwendung von Vektorfonts aus. Das bedeutet einerseits freie Skalierbarkeit, also stufenlose Größenveränderungen von Schriften, und andererseits optimale Darstellungs-Qualität von Schriften unabhängig davon, ob es sich bei dem Ausgabemedium um Monitor, 9-Nadel-Drucker oder Laserdrucker handelt. Fünf Vektorfonts befinden sich im Lieferumfang, weitere Fonts sind gegen Aufpreis erhältlich. In der Tat, die Fonts sind in der Größe frei veränderbar, und dies sowohl auf dem Bildschirm als auch auf dem Papier, und Calligraphers Druckqualität ist nicht von schlechten Eltern. Die Sache hat allerdings leider einen Haken. Die Druckausgabe erfolgt über einen GDOS-Druckertreiber, also über das Atari-BIOS. Dies erinnert mich in bezug auf die Übertragungsgeschwindigkeit der Drucker-Daten an die berühmte Kaffeetasse, als Hinweis auf längere Wartezeiten; in diesem Falle wohl eher eine große Kaffeekanne, denn die Druckgeschwindigkeit wird obendrein durch die Rechenzeit beeinflußt, die erforderlich ist, um den Vektorfont entsprechend der Druckerauflösung umzurechnen.

Bild 1. Skalierung von Fonts

Nominell erlaubt Calligrapher auch die Unterbrechung des Ausdrucks, jedoch nur in dem Augenblick, in dem der Rechner offenbar gerade nicht Fonts berechnet, sondern lediglich Daten überträgt; dies kennzeichnet das dann für Sekundenbruchteile nicht grau, sondern schwarz umrandete und damit anklickbare Feld für die Druck-Unterbrechung. Zugute halten muß ich Calligrapher, daß im Zeitalter von schnellen Intel-80486- und Motorola-68030-Rechnern die viele Rechenoperationen beanspruchende Vektorfont-Verarbeitung nicht mehr so stark ins Gewicht fällt. Die Mehrzahl der ST-Benutzer bekommt die Rechenzeit allerdings deutlich zu spüren. Ein eigener Algorithmus, der die BIOS-Zeichenausgabe ersetzt, wäre sehr angebracht. That's Write, Signum und Tempus Word verwenden hierfür eigene Ausgabe-Routinen.

Calligrapher beherrscht natürlich alle in der Textverarbeitung üblichen Funktionen wie beispielsweise Blockverschiebe-Operationen. Etwas ungewöhnlich mutet jedoch an, daß Calligrapher einen markierten Block beim ersten Tippen eines Buchstabens sofort löscht und durch diesen ersetzt. Eine sehr umfangreiche UNDO-Funktion, für die das Programm einen großen Bonus verdient, macht solche Versehen wieder rückgängig. Hoch- und Tiefstellen erfolgt ohne Veränderung der Zeichengröße; laut Handbuch sind die Größe und die Attribute nach eigenem Belieben wählbar. Jedesmal Größe und Attribute eines hochgestellten Zeichens festzulegen, empfinde ich aber als wenig komfortabel. Auch durch Festlegen eines Makros läßt sich dies nicht bequemer gestalten, da Calligrapher keine Makroprogrammierung zuläßt.

Bild 2. Lineal-Dialogbox

Die Suchfunktion erlaubt auch das Suchen nach Attributen wie Fettoder Kursivdruck. Jedoch vermag Calligrapher nicht allgemein nach dem Attribut »fett« zu suchen; Attribute findet das Programm nur in Verbindung mit Buchstaben, auf welche die angegebenen Attribute zutreffen. Ein globaler Ersatz von Fettdruck durch Kursivdruck ist also nicht durchführbar. Die Kapitelnumerierung läßt lediglich einzelne Ziffern zu. Kapitel mit mehreren Gliederungsebenen lassen sich nicht automatisch numerieren. Spielend einfach und vorbildlich verwirklichten die Programmierer von Calligrapher Spaltensatz, What-You-See-Is-What-You-Get in Reinkultur. Legen Sie einfach in der Linealzeile die Spaltenränder fest und schreiben sofort in die Spalten. Am Lineal habe ich allerdings Grundsätzliches auszusetzen. Hat man so viel Text geschrieben, daß der Textausschnitt nach unten, der obere Text also nach oben verschwindet, so verschwindet dort - unglaublich, aber wahr -ebenfalls das Lineal, das doch eigentlich den Zweck hat, mir über aktuelle Tabulatoren und Spaltenmarken ständig Auskunft zu geben. Manchmal ließ sich das Lineal auch nach Rückwärtsbewegung zur ersten Textzeile nicht mehr blicken.

Im Lineal befindet sich auch die Information über die Textausrichtung, also links- oder rechtsbündig, zentriert oder im Blocksatz. Die Positionierung des Symbols hierfür scheint keiner eindeutigen Regel zu unterliegen; es erscheint offenbar immer dort, wo gerade Platz ist. Hat man den Lineal-Dialog durch Doppelklick auf das Lineal geöffnet und Parameter wie Textausrichtung und Tabulatorsprungstellen festgelegt, und verläßt man diesen Dialog wieder, so befindet sich der Cursor nicht mehr an der vorher bearbeiteten Textstelle, sondern direkt unter dem Lineal. Die alte Textstelle ist also mühselig wieder aufzusuchen. Sehr einfach gestaltet sich das Entfernen von Symbolen, etwa Tabulatorsprungstellen: durch Anklicken, Festhalten der Maustaste und Herunterziehen vom Lineal verschwindet das Symbol sofort im Nirwana.

Wollen Sie einen Absatz vor dem automatischen Seitenumbruch schützen, so erfolgt dies nicht, wie bei vielen Textprogrammen inzwischen Standard, durch Markierungen am linken Fensterrand, sondern durch etwas umständliche und langwierige Menüaufrufe. Das erinnert leider an DOS-Textprogramme! Eine Angabe über Zeilen-und Spaltenzahl, also der momentanen Cursorposition, sucht man vergeblich. Der vertikale Scrollbalken spiegelt nicht die Tatsachen wider; der Balken hat immer dieselbe Größe und befindet sich nicht am unteren Rand seines Bereichs, wenn der Cursor sich am unteren Textrand befindet; der Informationsgehalt ist also gering. Calligrapher erlaubt manuelles Trennen sehr praktisch durch Einfügen von sogenannten weichen Trennstrichen, die wieder verschwinden, wenn durch späteres Einfügen von Text sich die Trennstelle verschiebt, aber auch wieder in Erscheinung treten, wenn durch erneutes Verändern die Trennstelle wieder in die Nähe des weichen Trennstrichs gerät. Alternativ dazu trennt Calligrapher vollautomatisch. Trennvorschläge für eine halbautomatische Trennung sind nicht vorgesehen.

Fußnoten fügt Calligrapher auf sehr unorthodoxe Weise mitten in den Text ein. Es erscheint ein neues Fußnotenlineal, unter dem Sieden Fußnotentext eingeben. Den weiteren Text geben Sie dann unter dem Fußnotentext ein, der auf dem Ausdruck allerdings, wie üblich, am unteren Blattrand erscheint. Eine Glossarfunktion, ähnlich der von Tempus Word, bietet auch Calligrapher. Einem Buchstabenkürzel ordnen Sie ein Wort zu, das Calligrapher an die Stelle des Buchstabenkürzels setzt, wenn Sie dieses im Text eintippen und anschließend »Control-G« betätigen. Uneingeschränktes Lob verdient dieTabellenfunktion. Ohne lästiges Festlegen von Tabulatorsprungstellen tippen Sie einfach den Tabelleninhalt, getrennt durch Senkrechtstriche, ein. Anschließend markieren Sie das eingegebene Material als Block und lassen daraus automatisch eine Tabelle aufbauen, für die Sie verschiedene Stilelemente, etwa Strichstärke, Schatten u. ä. definieren. Importierte DIF-Dateien verwandelt Calligrapher automatisch in Tabellen.

Bild 3. Ideen-Prozessor

Ebenso vorbildlich arbeitet der Formelgenerator. Bedingt durch die mögliche Komplexität von Formeln ist er natürlich nicht ganz einfach zu bedienen. Die Funktionsweise ist prinzipiell vergleichbar mit der Tabellenfunktion. Geben Sie die Formel, verschlüsselt durch Codeworte, ein, markieren Sie sie als Block und lassen Sie sie anschließend durch Calligrapher in die Reinformel umwandeln. Das Ergebnis ist tadellos. Wünschenswert wäre die Anzeige der möglichen Codeworte in einem einblendbaren Fenster, um Herumblättern im Handbuch zu vermeiden.

Hierzu ist generell etwas zu bemerken. Für die Bedienung des Programms ist häufig das Handbuch erforderlich. Alle Funktionen sind neben dem Mausklick auch durch Tastenkommandos abrufbar. Letztere sollten neben dem korrespondierenden Drop-Down-Menüeintrag erscheinen, da der Anwender sie sich kaum auf einmal merken wird und die Kommandos auch nicht leicht einzuprägen sind. Für das Suchen nach Attributen ist die Kenntnis der Codezeichen notwendig. All diese Informationen bieten derzeit nur das Handbuch und eine Referenzkarte. Calligraphers Serienbrieffunktion unterstützt diverse Datenbankformate. Unabhängig davon sind Feld- und Datensatzseparatoren teilweise wählbar; ein häufig verwendeter Delimiter, steht aber leider nicht zur Verfügung. Komfort bietet die Funktion des bedingten Serienbriefs, in der Calligrapher Datensätze nach bestimmten Kriterien, etwa durch UND-/ODER-Verknüpfungen, auswählt. Natürlich ist auch eine Preview-Funktion vorhanden, die Ihnen vor dem Ausdruck einen optischen Eindruck über das spätere Aussehen des Dokuments und seine Aufteilung auf dem Papier vermitteln soll. Hier schlich sich in der vorliegenden Version der Fehler ein, daß Calligrapher eine Formel und eine Tabelle, die sich unmittelbar übereinander befanden, abweichend vom Ausdruck, teilweise überlappend darstellte.

Auf einem einfachen ST möchte ich die Arbeitsgeschwindigkeit von Calligrapher als gerade noch ausreichend bezeichnen. Bei schnellem Schreiben hatte der Cursor Mühe, mit mir Schritt zu halten. Abhilfe soll der Textmodus schaffen, in dem Calligrapher ST-Systemfonts benutzt. Einen Geschwindigkeitsunterschied habe ich zwar gespürt, jedoch hat mich auch im Textmodus die Schnelligkeit nicht überwältigt.

Neben den Grafikformaten GEM-Image und -Metafile unterstützt Calligrapher durch ein als Modul integrierbares Konvertierungsprogramm auch Degas- und Neo-Grafikdateien. Dieses Modul, das über komfortable Vergrößerungs- und Dithering-Optionen verfügen soll, stand während des Tests leider noch nicht zur Verfügung.

Ein sogenannter Ideen Prozessor erlaubt das Konstruieren von Textgliederungen auf grafische Weise. Einem Rechteck entspricht hier ein bestimmter Gliederungsabschnitt, der auch Text beinhaltet. Löschen oder verschieben Sie ein Rechteck, verschwindet oder verschiebt sich auch der korrespondierende Text. Betrachtet man einmal die gesamte Entwicklungsgeschichte dieses Programms, dann bekommt man den Eindruck, es handelt sich hier um ein richtiges Stehaufmännchen. In mehreren Anläufen und mit zahlreichen, immer wieder schnell wechselnden Vertrieben konnte Calligrapher bisher nicht recht überzeugen. In der aktuellen Version aber ist wohl endlich eine akzeptable Form gefunden. Die angesprochenen Spezialfunktionen, aber auch die Postscript-Ausgabe (immerhin schon die zweite Textverarbeitung, die Postscript unterstützt) werden Interessenten für Calligrapher gewinnen. Zudem hat der recht rührige Vertrieb in jüngster Zeit bewiesen, daß man sich noch einiges in Sachen Weiterentwicklung erwarten darf, (wk)

Working Title, Lilienweg 12, 5300 Bonn 1

WERTUNG

Name: Calligrapher Professional
Preis: 418 Mark; weitere Fonts jeweils 49 Mark
Hersteller: WorkingTitle

Stärken: Vektor-Fonts □ Tabellenfunktion □ Formelgenerator □ Spaltensatz □ verschiedene Grafikformate □ umfangreiche UNDO-Funktion

Schwächen: langsame Verarbeitungs- und Druckgeschwindigkeit □ Fußnotenbehandlung unpraktisch □ minimalistische Kapitelnumerierung □ Linealdarstellung □ schlecht zu merkende Tastenkommandos

Fazit: Funktionsgewaltiges Textverarbeitungsprogramm mit einigem Nachholbedarf in der Handhabbarkeit und besonders in punkto Geschwindigkeit.


Jochen Krölls
Aus: TOS 09 / 1992, Seite 28

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