Gestaltung mit Schrift: Grundlagen der Schriftgestaltung und Typografie, Teil 2

Nachdem sich der erste Teil dieses Kurses mit dem Entwurf eigener Schriften und den Regeln der Schriftgestaltung befaßte, richtet sich das Augenmerk in unserem zweiten Kursabschnitt auf die Typografie, die bereits vorhandenen Schriften, ihre Klassifikation und den passenden Einsatz.

Seit auch Atari-DTPler auf einen Fundus von mehreren tausend Schriften zugreifen können, ist eine Auseinandersetzung mit dem vorhandenen Gestaltungsmaterial für ernsthafte Desktop Publisher unabdingbar. Auf den ersten Blick wirkt die Schriftenflut, die sich beim Blick in einen Satzschriftenkatalog offenbart, regelrecht erschlagend. Dieses vielfältige Angebot spiegelt aber unsere Kultur und Geschichte wieder. Jede Epoche brachte ihre Schriften mit besonderen Eigenheiten hervor. Heute schöpfen wir aus einem in Jahrtausenden entstandenen Schriften-Schatz. Mit der Wahl einer Schrift drücken die Gestalter immer auch ein wenig Zeitgeist der Entstehungsepoche aus. Neben dem Inhalt eines Textes entsteht so eine zweite, ästhetische Sprachebene. Um den sinnvollen Einsatz professioneller Satzschriften zu erleichtern, unterteilen Typografen das Schriftmaterial in Klassen. Die Klassifizierung von Schriften sucht nach gleichen Gestaltungsmerkmalen einer Schrift. Es gibt sehr unterschiedliche Klassifikationen, am genauesten dürfte die folgende Unterteilung in 10 Gruppen sein, die Einsatz-Empfehlungen gelten natürlich nicht ausschließlich und sind lediglich ein Anhaltspunkt für die Anwendung:

1. Die venezianische Renaissance-Antiqua
Die venezianische Renaissance-Antiqua findet ihren Ursprung in der »humanistischen Minuskel«, die mit einer schräg angesetzten Breitfeder (dem Calamus) geschrieben wurde. Der Querstrich des kleinen e ist entsprechend der Handschrift schräg und die Achse der Rundungen nach links geneigt. Der Strichstärkenunterschied zwischen Haar- und Grundstrich ist nicht sehr groß, die Serifen sind gerundet. Ein typischer Vertreter dieser Gruppe ist die »Schneidler«. Die Wirkung der Schrift ist harmonisch, etwas schwerfällig und gut lesbar. Die venezianische Renaissance-Antiqua eignet sich für Zeitschriftenartikel und Bücher mit künstlerischen oder geschichtlichen Beiträgen.

2. Die französische Renaissance-Antiqua
Die französische Renaissance-Antiqua ist der venezianischen sehr ähnlich. Die französische Renaissance-Antiqua wirkt leichter und eleganter als ihr venezianisches Vorbild. Der Querstrich im kleinen e ist fast waagrecht und die Strichstärkenunterschiede zwischen Haar- und Grundstrich sind größer. Die Serifen sind geschwungen und feiner als bei der venezianischen Antiqua. Die Wirkung der Schrift ist harmonisch, elegant, sie ist gut lesbar. Verwendung findet die französische Renaissance-Antiqua in Zeitungen, Zeitschriften, Büchern und in der Werbung. Typische Vertreter dieser Gruppe sind: »Garamond«, »Palatino«, »Trump Mediäval«, »Bembo« und »Goudy«.

3. Die Barock-Antiqua
Die Barock-Antiqua kennzeichnet sich durch fließende, aber deutliche Unterschiede zwischen Grund-und Haarstrich. Die Serifen sind mit geringer Rundung und leichtem Übergang angesetzt. Die Barock-Antiqua wirkt eleganter als die französische Renaissance Antiqua und ist durch die größeren Strichstärken-Unterschiede lebendiger und abwechslungsreicher, sie wirkt harmonisch, musisch und ist gut lesbar. Man setzt diese Gruppe gerne für Überschriften, Lyrik, Zeitschriften und Bücher, aber auch in der Werbung ein. Ein typischer Vertreter dieser Gattung ist beispielsweise die »Baskerville«.

4. Die klassizistische Antiqua
Die klassizistische Antiqua fällt durch extreme Strichstärkenunterschiede zwischen Grund- und Haarstrich auf. Die Serifen der sehr vornehm gestalteten klassizistischen Antiqua sind ohne Übergang gerade angesetzt. Die sehr hochwertige Anmutung dieser Schriften geht ein wenig zu Lasten der Lesbarkeit in kleinen Schriftgraden. Die Serifen sind oft so fein, daß man sie nur auf gutem Papier und in Satzbelichterauflösung sauber drucken kann. Typische Einsatzgebiete sind Werbung, Überschriften in den Bereichen Kosmetik oder klassische Musik. Die Wirkung ist hochwertig, vornehm, klassisch, musisch. Typische Vertreter der klassizistischen Antiqua sind die »Bodoni« und die »Walbaum«.

5. Die serifenbetonte Linear-Antiqua
Aus dem Rahmen der immer eleganteren Schriften fällt eine Schriftgruppe, die ihren Ursprung in der Werbung hat: die serifen betonte Linear-Antiqua. Die Serifen sind übermäßig betont, um die Schriften auffällig zu machen. Bei den meisten Schriften dieser Gruppe wirken die Serifen optisch ebenso stark wie der Grundstrich, bei einigen Schriften sogar noch stärker (Western-Schriften) Das Schriftbild orientiert sich an der waagerechten Schriftlinie, die nicht optimale Lesbarkeit zwingt zum langsamen, bewußten Lesen. Serifen betonte Schriften sind aufdringlich und auffällig, sie wirken schwer. Einsatz findet die serifen-betonte Linear-Antiqua in Headlines, Buchtiteln, Overhead-Folien, Werbung, Plakaten und Schildern.

Typische Vertreter sind die »Egyptienne«, »Lubalin«, »Clarendon«, »Volta« und »Rockwell«.

6. Die serifenlose Linear-Antiqua (Grotesk)
Mit der Industrialisierung kam es auch bei der Schriftgestaltung zur Versachlichung. Die technische, reine Satzschrift stammt aus dieser rationalen Epoche. Die Besonderheit ist der völlige Verzicht auf Serifen. Die ersten hämischen Bemerkungen der zeitgenössischen Typografen gaben dieser Schriftgruppe auch den Namen »Grotesk«. Groteskschriften sind insbesondere im Bereich der technischen, sachlichen Druckwerke sehr erfolgreich.

Die Wirkung ist nüchtern, sachlich, technisch, intellektuell. Einsatzgebiet der serifenlosen Linear-Antiqua sind Anleitungen, Berichte, Sachbücher. Typische Vertreter sind die »Univers«, »Helvetica«, »Folio«, »Futura« und »Gill«.

7. Die Antiqua-Varianten
Natürlich gibt es zahlreiche Mischformen aus den oben genannten Gruppen. Diese Schriften lassen sich nicht eindeutig klassifizieren. Serifen sind beispielsweise nicht vorhanden, aber doch angedeutet, einige Schriften bestehen auch nur aus Versalien (Großbuchstaben). Die Wirkung ist eher dekorativ, so daß der Einsatz insbesondere bei Überschriften und in der Werbung stattfindet. Häufig eingesetzte Antiqua-Varianten sind die »Optima« und die »Peignot«.

8. Die Schreibschriften
Seit es Satzschriften gibt, gibt es den Versuch, Handschriften nachzuahmen. Diese Schriften sind unter der Gruppe Schreibschriften zusammengefaßt. Die Wirkung ist eher privat, deshalb finden sich Schreibschriften oft auf Briefpapieren, Visitenkarten und Privatdrucksachen wieder. Typische Vertreter der Schreibschriften sind unter anderem die »Englische Schreibschrift«, »Script«, »Brush«, »Van Dijk« und »Kaufmann«.

9. Gebrochene Schriften
In dieser Gruppe sind unterschiedliche Texturen aus dem 15. und 16. Jahrhundert zusammengefaßt. Genaugenommen muß man hier noch einmal unterscheiden zwischen der eher rautenförmigen »Gotisch«, der klaren »Rundgotisch«, der breitlaufenden »Schwabacher« und der eher schwungvollen »Fraktur«. Die Wirkung ist alt, konservativ, rustikal. Der Einsatz ist auf Anwendungen dieser Bereiche, vom Bucheinband bis zur Gastronomie beschränkt. Die bekanntesten gebrochenen Schriften sind die »Alte Schwabacher«, die »Fraktur« und die »Caslon Rundgotisch«.

10. Die fremden Schriftarten
Zu guter Letzt gibt es zahlreiche Schriften jenseits des lateinischen Alphabeths. Dazu gehören beispielsweise griechische, kyrillische, arabische, asiatische, hebräische und afrikanische Lettern.

Mit ein wenig Übung lassen sich alle Schriften durch die oben geschilderten Merkmale einer Gruppe zuordnen. Die Zuordnung der Schrift ist wichtig für den gezielten Einsatz dieses wichtigsten Gestaltungs-Elementes. Einer der größten Gestaltungsfehler ist die Mischung von Schriften unterschiedlichster Gruppen. Anfänger neigen zur Verwendung aller verfügbaren Zeichensätze innerhalb eines Dokumentes. Gute Gestaltung kombiniert nach Möglichkeit nicht mehr als zwei harmonisch abgestimmte Schriften. Die beste Wahl ist hier die Verwendung unterschiedlicher Schnitte einer Schriftfamilie (also beispielsweise »Times medium« mit »Times bold«). Will man unterschiedliche Schriften kombinieren, so ist dies auf jeden Fall innerhalb einer Gruppe der obigen Klassifizierung möglich. Unter Umständen kann man auch eine Serifenschrift mit einer Serifenlosen zusammenstellen (eine Schrift für den Text, eine für die Überschriften). Die Kombination zweier Serifenschriften unterschiedlicher Klassen, führt hingegen nur zum typografischen Fiasko. Auszeichnungen (Hervorhebungen) sollte man keinesfalls durch eine zweite Schrift vornehmen. Die Entscheidung fällt nur für eine Auszeichnungs-Variante, also entweder kursiv, unterstrichen oder fett. Keinesfalls sollte die Hervorhebung durch eine unterstrichene fett-kusive Schrift erfolgen - weniger ist mehr, gerade bei der Gestaltung mit Schrift.

Geprägt wird das Schriftbild allerdings nicht nur durch die Wahl der Schrift, sondern auch durch einen ausgewogenen Buchstaben-Abstand. Dieses sogenannte »Kerning« (deutsche Setzer und Schriftgestalter kennen eher den Begriff »Unterschneidung«) soll ein harmonisches Zusammenspiel der Buchstaben gewährleisten. Bei einer klassischen Schreibmaschine ist jeder Buchstabe gleich breit. Das i nimmt den gleichen Raum ein wie das m, zudem steht jeder Buchstabe wirklich neben dem anderen (vgl. Bild 10).

Bei einigen Buchstaben-Kombinationen entsteht dadurch ein optisch viel zu großes Loch, während andere Buchstaben viel zu eng nebeneinander zu liegen scheinen. Schreibmaschinen-Schriften gleichen die Löcher durch übertriebene Serifen aus, Satzschriften hingegen verlieren jegliche ästhetische Aussagekraft, wenn man auf einen optischen Ausgleich der Buchstabenabstände verzichten würde.

Setzer sprechen bei diesem Vorgang vom »unterschneiden« des Buchstaben. Dieser Begriff stammt aus dem Bleisatz, als man die Letter T (Letter = Bleibuchstabe) tatsächlich unterschneiden mußte, damit die Letter e unter den Querstrich des T paßte. DTP-Anwender haben es hier einfacher. Programme wie »Calamus« erledigen die Unterschneidung (Kerning) und den optischen Ausgleich automatisch. Calamus verfügt zudem über Ausnahme-Kerning-Tabellen für besondere Buchstaben-Kombinationen. Das Programm berücksichtigt weit mehr Kerning-Pärchen, als Postscript-Schriften. Zusätzlich darf der Gestalter bei fast allen DTP-Programmen den Buchstabenabstand manuell verändern. Entscheidend bleibt dabei, wie schon im ersten Kursteil besprochen, der optische Eindruck.(wk

Kursübersicht

Teil 1: Schriftgestaltung, optische Scheinwirkungen

Teil 2: Schriftenklassifikation, Typografie

Teil 3: Schrift im Logotype, Logotype-Gestaltung


Rüdiger Morgenweck
Aus: TOS 12 / 1991, Seite 59

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