»LIVE«, Sequenzer von Soft Arts: Lebenswerk

Bereits in TOS 5/91 stellten wir Ihnen in einem Vorbericht das neue Recording-System LIVE der Firma Soft Arts vor. In dieser Ausgabe klären wir, ob das Endprodukt unsere Erwartungen erfüllt.

Wer im Jahr 1991 den Mut hat, sich mit einem neuen Sequenzersystem auf den recht etablierten Recording-Software-Markt zu wagen, muß mit innovativen Neuerungen aufwarten, um der beinahe übermächtigen Konkurrenz ernsthaft Paroli zu bieten. Intuitive Benutzerführung und kreative Echtzeitmöglichkeiten sind die Insignien des gewaltigen Steins, den der Berliner Software-David den hanseatischen MIDI-Goliaths entgegenschleudert.

In der Tat präsentiert sich das durch einen Joystick-Port-Dongle geschützte »LIVE« in hervorragender Optik mit lebensnahen 3D-Buttons, festpositionierten Dialog-und Info-Fenstern sowie einer in allen elf Arbeitsseiten ähnlich gestalteten Arbeitsfläche, dem sogenannten »Workspace«. Die konsequente Realisierung dieses Konzepts ermöglicht es dem Anwender, sich auf anhieb in LIVE zurechtzufinden, ohne sich dem im allgemeinen eher lästigen Studium des Handbuchs hingeben zu müssen. Alle Bildschirmseiten sind entweder per Mausklick auf ein entsprechendes Icon oder über die Funktionstasten erreichbar, so daß gerade in der Anfangsphase das lästige Merken von vielen Tastaturkürzeln entfällt. Hilfreich ist auch die hierarchische Anordnung der Pages: so gelangt man stets mit < F1 > in die Performance-Page, mit < F2 > in die Song-Page und mit < F3 > in den Key-Editor.

Übersichtlich: die »Song-Page« von »LIVE«

Nach Programmstart lädt zunächst die Song-Page zum Aufnehmen und Arrangieren der eigenen musikalischen Ideen ein. Ähnlich dem Arrange-Window in Steinbergs »Cubase« stellt auch LIVE eingespielte »Parts« als Balken auf einer Art Taktlineal dar, wobei die einzelnen Spuren vertikal in Y-Richtung angeordnet sind. Der Maßstab des Taktlineals läßt sich über den Step-Button am unteren Bildschirmrand in vier Stufen verändern, wobei uns allerdings die gewählten Auflösungen als zu unflexibel erscheinen. Obwohl LIVE die Aufnahme auf bis zu 32 Spuren gestattet, sind nur jeweils 16 Spuren auf dem Bildschirm sichtbar, da sich der Maßstab in der Y-Auflösung nicht verändern läßt. Soft Arts will die Skalierungsprobleme in einer der nächsten Versionen beheben. Ansonsten gestaltet sich die Arbeit in der Song-Page durchwegs ausgesprochen angenehm.

Eine gelungene Hilfe stellt auch das Info-Fenster in der rechten oberen Bildschirmecke dar, das stets darüber Auskunft gibt, auf welche Weise sich die Maus im Moment nutzen läßt.

Das Verschieben, Kopieren, Schneiden und Zusammenkleben einzelner Parts erledigen Sie in LIVE komplett mit der Maus ohne Zuhilfenahme der Tastatur oder einer Software-Tool box. Dafür erlaubt LIVE bisher keine »Ghost-Copies«, die keinen zusätzlichen Speicher beanspruchen und deshalb besonders für 1 MByte-Besitzer interessant sind. Auch hier verspricht Soft Arts Abhilfe.

Zur rhythmischen Korrektur bietet LIVE überraschenderweise nur ein Quantisierungsverfahren an, das in den Parametern »Quantisierungswert« und »Amount«, also der Intensität, variabel gehalten ist. Diese Funktion arbeitet zuverlässig und flexibel und sollte für 90 Prozent aller Anwendungen ausreichen. So stellt sich die Frage, ob es sich für die restlichen 10 Prozent lohnt, einen Wust von anderen Algorithmen mit sich herumzuschleppen. Vermißt haben wir allerdings die Möglichkeit, eigene »Micro-Grooves« zu gestalten, also in einem gewissen Rahmen eigene Quantisierungsregeln festzulegen.

Auf der Timing-Seite des Sequenzers ist nur Positives zu vermelden; Kein Wunder, läßt doch Steinbergs bewährtes MIDI-Multitasking-Betriebssystem »MROS« das Sequenzer-Herz im richtigen Takt schlagen. Soft Arts tat gut daran, auf die Entwicklung eigener MIDI-Routinen zu verzichten, denn so ist eine Kompatibilität mit einem Großteil der auf dem Markt befindlichen Software gegeben. Ein weiterer Vorteil der MROS-Nutzung liegt darin, daß kommende LIVE-Anwender die Hardware-Palette der Firma Steinberg nutzen dürfen. Erfreulicherweise liegt MROS inzwischen auch in einer TT-tauglichen Version vor, so daß sich Soft Arts zu recht rühmen darf, mit LIVE den ersten professionellen Sequenzer für den TT anzubieten.

Zur Korrektur der eingespielten MI DI-Daten verfügt LIVE über zwei gute alte Bekannte: den Key-Editor, der die Noten ähnlich wie auf einer Pianola-Rolle anzeigt, sowie den Drum-Editor mit seiner üblichen Grid-Darstellung. Auch in diesen beiden Editoren läßt sich der Maßstab über den Step-Button ändern, allerdings können die Presets nicht überzeugen. So hat man beispielsweise in der vierten Stufe einzelne Noten ungefähr in Pommes-Frites-Größe auf dem Monitor - ein selbst für Studio-Zwecke ungewöhnlicher Maßstab. Soft Arts will in kommenden LIVE-Versionen eine vom Anwender frei wählbare Skalierung ein bauen.

Die Aufgabe des Dirigenten übernimmt in LIVE die Conductor-Page, auf der Sie mit Hilfe einer Hüllkurvengrafik jederzeit Kontrolle über Metrum und Taktart eines Arrangements haben. Per Mausklick oder Schieberegler sind hier plötzliche und fließende Tempoänderungen möglich.

Wie bei Sequenzersystemen dieser Klasse üblich, besitzt auch LIVE ein eingebautes 16-Kanal MIDI-Mischpult, dessen Fader sich mit beliebigen MIDI-Controllern belegen lassen.

Eine echte Neuerung bietet die Performance-Page, mit deren Hilfe Sie mehrere Songs zu einer Performance verbinden. Hier lassen sich Songs ebenso schneiden, kopieren und verschieben wie auf der Song-Page. Weiterhin läßt sich jedem Song eine MIDI-Note zuordnen, bei deren Auslösung das entsprechende Arrangement automatisch startet - eine praktische Sache für den Bühneneinsatz.

Ebenfalls innovative Ideen verbergen sich hinter den momentan noch nicht ganz fertiggestellten Keytrack- und Style-Pages. Die Style-Page bietet dem streßgeplagten Musiker eine komfortable Be-gleit-und Arrangierautomatik. Hier übernehmen Sie entweder vorgefertigte Styles direkt in die Song-Page oder konvertieren in der Song-Page angefertigte Pattern in gebrauchsfertige Styles. Der bislang lästige Weg von der externen Arrangiersoftware über MIDI-Standard-File bis hin zum Sequenzer gehört für künftige LIVE-Benutzer der Vergangenheit an.

Der Keytrack-Editor ist als Führer im Dickicht der Harmonien konzipiert. Mit seiner Hilfe sollen die oft während der Studioarbeit auftretenden Fragen um die einem Song zugrunde liegende Harmonik Klärung finden. Der Keytrack-Editor zeigt das Ergebnis seiner Analyse entweder als Akkordsymbol, als Gitarrengriffbild oder aber als Klavierfingersatz auf einer Tastatur. Style- und Keytrack-Page sollen nach Angaben von Soft Arts mit Erscheinen dieser Ausgabe fertiggestellt sein.

Den Programmierern ist es gelungen, den Record ing-Softwaremarkt um ein gelungenes Produkt zu bereichern. Durch die konsequent einfache Benutzerführung, die grafische Gestaltung sowie sein professionelles Timingverhalten wird LIVE schnell viele Freunde sowohl unter Einsteigern als auch unter Profis finden.

Da sich Soft Arts während unserer Testphase gegenüber Verbesserungsvorschlägen offen zeigte, darf man hoffen, die momentan noch vorhandenen Haken und Ösen in den nächsten Versionen ausgemerzt zu sehen. In Anbetracht der gebotenen Leistungen ist der Preis von 598 Mark voll gerechtfertigt. (tb)

Soft Arts, Postfach 127762, 1000 Berlin 12,

Tel. 030/3137610

WERTUNG

Produkt: LIVE
Hersteller: Soft Arts
Preis: 598 Mark

Stärken: Gute Grafik und Benutzerführung □ Style- und Keytrack-Page

Schwächen: Skalierung noch unbefriedigend

Fazit: Ein gelungener Sequenzer zum fairen Preis


Kai Schwirzke
Aus: TOS 09 / 1991, Seite 118

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