Nach der grauen Theorie geht es heute in die Praxis. Die »Bezierkurve«, das wichtigste Zeichenwerkzeug, steht auf dem Plan. Wenn Sie schon ein Vektorzeichenprogramm besitzen, können Sie heute einfache Zeichnungen ausprobieren.
Stellen Sie sich einen Luftballon vor. Sie blasen Luft hinein, und er wird größer, Sie ziehen ihn lang oder drücken ihn zusammen. Die Form läßt sich verändern, die Hülle behält glatte Konturen - bis sie platzt. Diese Flexibilität ist es, die sich der Anwender von Computer-Grafiken wünscht. Rastergrafiken sind vergleichbar mit einem Luftballon aus Legosteinen, beim Aufblasen entstehen Duplosteine und schließlich Briketts. Der Ballon wird mit wachsender Größe immer gröber, bei Verformungen zerfällt er bis zur Unkenntlichkeit. Ein Vektor-Ballon läßt sich hingegen unbegrenzt vergrößern oder verformen, die Konturen bleiben stets gleich scharf. Der Grund liegt in der unterschiedlichen Information, die dem Computer bei den beiden Illustrationsarten vorliegt. Ein Kreis als Rastergrafik ist für Ihren ST oder TT nichts anderes als eine Ansammlung von Punkten, ein Kreis als Vektorgrafik ist für Ihren Computer aber die mathematische Funktion »Kreis«. Dieser Kreis bleibt auch dann ein Kreis, wenn Sie ihn vergrößern, er wird zum Oval, wenn Sie ihn in die Breite oder Höhe ziehen.
Die einfachen Vektorzeichenprogramme stellen eine Ansammlung von Grundformen zur Verfügung. Das sind leere oder gefüllte Flächen (Kreise, Rechtecke, Vielecke) und Linien (gerade oder gebogen), die als »Objekt« zum Zeichnen zur Verfügung stehen. Gefüllte Flächen werden unabhängig von der Größe immer mit dem gleichen Muster gefüllt. Aus diesem »Material« setzen Sie sich jetzt nach dem Baukastenprinzip Ihre Grafik zusammen. Ihr ST verwaltet dabei stets die einzelnen Objekte. Um einen Luftballon zu gestalten, benötigen Sie also bei einem einfachen Vektorzeichenprogramm einen Kreis, mehrere gebogene Linien und einige Füllflächen.
Stellen Sie sich vor. Sie haben das passende Material auf Klarsichtfolien gezeichnet. Sie müssen nun die einzelnen Folien so übereinanderlegen, daß ein Ballon entsteht. Wichtig ist dabei die Reihenfolge, in der Sie die einzelnen Objekte schichten. Sollen Linien- oder Flächenteile verdeckt sein, so müssen sie unter der verdeckenden Fläche liegen. Ebenso gehen Sie bei der Gestaltung mit Vektorgrafik-Software vor. Anstelle von Folien haben Sie hier sogenannte »Rahmen« mit Objekten, die Sie einzeln verschieben oder umschichten können. Anders als bei realen Folien lassen sich die Rahmenobjekte allerdings jederzeit in Größe, Form, Füllung, Linienstärke oder Farbe verändern.
Bei der Arbeit mit einem einfachen Vektorgrafik-Programm setzt sich bereits das simple Luftballon-Beispiel aus einer Vielzahl einzelner Rahmenobjekte zusammen. Für komplexere Aufgaben wird die Rahmenvielzahl hier sehr schnell unübersichtlich, außerdem besteht während der Arbeit stets die Gefahr, versehentlich einen der Rahmen zu verschieben und damit die Arbeit zu gefährden. Glücklicherweise lassen sich aber verschiedene Rahmenobjekte zu einem »Gruppenrahmen« zusammenfassen, so daß Ihr Luftballon zu einem einzelnen Objekt wird. Dieses neue Objekt können Sie wiederum vervielfältigen und in einer komplexeren Grafik weiterverarbeiten.
Die Arbeit mit vorgegebenen Objekten ist sehr umständlich und auf Dauer unbefriedigend. Moderne Vektorzeichenprogramme verfügen deshalb über die Möglichkeit, Objekte selbst zu gestalten. Hierzu bedarf es der sogenannten Bezierlinien. Diese Linien lassen sich wie ein Gummiband in die gewünschte Form ziehen. Um bei unserem Beispiel zu bleiben:
Der Luftballon wird also nicht aus vorgegebenen Flächen und Linien zusammengebastelt, sondern mit frei verformbaren Linien gestaltet. Dazu muß man den Ballon gedanklich zunächst in eine Anzahl von kleinen Teilstücken »zerlegen«. Setzen Sie dann den Anfangs- und Endpunkt einer Linie und formen sie anschließend so, daß sie den Vorstellungen entspricht. Ist der Ballon aus einer Anzahl Bezierlinien geformt, so wird er zu einem Gruppen-Objekt zusammengefaßt und steht als einzelner Rahmen für die weitere Gestaltungsarbeit zur freien Verfügung. Diese Methode ist nicht nur schneller und präziser, sondern auch bei weitem bedienungsfreundlicher als das einfache Zusammenfügen geometrischer Grundformen.
Auch Text läßt sich in der Regel in die Grafik einfügen.
Die Buchstaben der Vektorzeichensätze sind im Grunde nichts anderes als Vektorobjekte, die Sie wiederum in die Gestaltung einbeziehen. Interessant ist die Verwendung von Text besonders für den Entwurf von Logotypes (Geschäftszeichen bei Unternehmen). Leider bieten bisher nur wenige Vektorzeichenprogramme die Verwendung von Calamus- oder Postscript-Schriften, und die mitgelieferten Zeichensätze gleichen oft mehr den Normschriften aus der guten alten Schablonen-Schreibzeit.
Unabhängig davon, welche Funktionen Ihr Vektorzeichenprogramm bietet: Sie stapeln beim Anfertigen Ihrer Grafik stets verschiedene Objektrahmen, vergrößern, verkleinern oder vervielfältigen einzelne Bildelemente und komponieren mit diesem Material Ihre Illustration. Vergleichbar ist diese Arbeit mit einem »Klebelayout«, bei dem einzelne Bildelemente aus Papier oder Folie geschnitten und zusammengefügt werden. Haben Sie sich erst einmal an diese Art des Geslallens gewöhnt, wollen Sie die Vorteile der nuram Anfang umständlich wirkenden Arbeitsweise nicht mehr missen.
Bezier, Bezier... da war doch was. Genau, irgendwann in der Schulzeit, Mathe-Unterricht. Aber was der nun im einzelnen gemacht hat? Dem Anwender kann es glücklicherweise egal sein. Für einen Vektor-Zeichner steht Bezier für eine Linienart, die wesentlichen Anteil an der Gestaltungsfreiheit beim Vektorzeichen hat. Kurz gesagt: Bezierlinien machen ein Vektorzeichenprogramm erst interessant. Auf einfache Art und Weise schaffen Sie sich dank dieser Linien auch komplizierte Objekte. Beziers erlauben ungehemmte Kreativität und rasche Änderungen während der Arbeit. Im Grunde sollte man diese Linien Gummiband nennen.
Flexibel lassen sich Beziers in die gewünschte Form ziehen. Selbst schwierige Rundungen stellen beim Vektorzeichnen kein Problem dar. Je nach verwendeter Software unterscheidet sich die Arbeitsweise geringfügig, die Unterschiede betreffen in der Regel allerdings nur den Bedienungskomfort.
Sie setzen einen Anfangs- und einen Endpunkt für die Linie. Auf dem Monitor erscheint üblicherweise ein gerader Strich, mittig mit einem kleinen Kreuz versehen. Jedenfalls optisch, denn eigentlich sind hier zwei übereinander liegende Kreuze vorhanden. Diese Kreuze sind die Endpunkte von zwei Tangenten. Der jeweils andere Endpunkt der Tangenten liegt am Anfang und am Ende des Striches. Zur Erinnerung, eine Tangente ist eine gerade Linie, die an einer Rundung anliegt. Sieht man den Strich auf dem Monitor also als Kreis mit unendlichem Radius - da ist er wieder, der alte, längst vergessen geglaubte Mathe-Unterricht aus grauer Schulzeit so liegen die Tangenten des Anfangs- und Endpunktes exakt auf dem Strich. Nun kann und will aber kaum jemand einen Kreis mit unendlichem Radius gebrauchen. Eine schön gebogene Kurve ist gefordert. Also greift man sich ein Tangentenende mit der Maus und verschiebt es. Je nach verwendeter Software offenbart sich das folgende Wunder in flackerfreier Echtzeitdarstellung oder nach einem kurzen Bildschirmflimmern. Je nachdem wie Sie die beiden Tangenten plazieren, entstehen die tollsten Kurven. Manche Programme machen die Tangenten auch sichtbar, eine wichtige Erleichterung. Mit etwas Übung zeichnen Sie mit Bezier-Kurven die aufwendigsten Formen. Einige Programme bieten die Funktion, Rasterbilder, beispielsweise aus dem Scanner, in den Hintergrund zu legen. Wie auf einem Transparentpapier ziehen Sie dann eine Vektorzeichnung aus der Vorlage, etwa einem Firmenlogo. Sie setzen an kritischen Punkten Linienenden und passen durch Verschieben der Tangenten die Beziers an die Vorlage an. Dabei entsteht jeweils ein Objekt, wenn der Endpunkt der zuletzt gesetzten Linie auf dem Anfangspunkt der ersten Linie endet. Gestalten Sie beispielsweise den Buchstaben »O«, so sind zwei Bezier-Objekte nötig, der äußere und der innere Kreis.
Beim ersten Versuch, ein solches »O« oder ein anderes Objekt mit Außen- und Innenform zu gestalten, passiert meist etwas Schreckliches. Anstelle des gewünschten Objektes ist ein Scherenschnitt entstanden. Die äußere Form stimmt, aber innen ist alles schwarz. Kein Grund zur Panik. Der gute ST oder TT weiß in so einem Fall einfach nicht, was Sie wollen. Er zeichnet die Innenform als eigenes Objekt, das nun schwarz auf schwarz liegt wie der Schornsteinfeger im Tunnel. Sagen Sie Ihrem ST, was Sie wollen. Sie ändern hierzu lediglich die »Drehrichtung« der Innenform und schon bekommen Sie das gewünschte Loch.
Die meisten Programme erlauben das Speichern und Einfügen von Einzelobjekten. Mit einem selbstgezeichneten oder erworbenen Archiv von Vektorzeichnungen kombinieren Sie auf einfache Art und Weise neue Elemente mit Archivmaterial oder aktualisieren vorliegende Illustrationen. Mit jeder neuen Arbeit wächst Ihr Archiv und erlaubt Ihnen, schnell auf neue Aufgabenstellungen zu reagieren. Bei der Ausgabe auf einen Satzbelichter hat Ihre Arbeit Reinzeichnungsqualität. Es lohnt sich also, ins Vektorzeichnen einzusteigen und sei es nur, weil man gekaufte Vektorgrafiken immer wieder schnell und leicht für den eigenen Bedarf verändern kann. (wk)
Teil 1: Ein wenig Historie □ Pixel und Vektor, die Theorie
Teil 2: Das Vektor-Prinzip □ der Umgang mit Bezierlinien
Teil 3: Lösungswege beim Vektorzeichnen □ Logotypes selbst entwerfen