Stufenloser Weg zum Zeichnerglück - Kurs: Einführung in das Vektorzeichnen (1)

Mit zunehmender Verbreitung von DIP steigen die Ansprüche an hochwertige grafische Vorlagen für unterschiedlichste Einsatzbereiche. Vektorzeichnungen eignen sich besonders gut für diese Aufgaben. Allerdings erfordert das Zeichnen mit Vektoren völlig andere Techniken als die gute alte Pixelsetzerei.

Kennen Sie einen Fadenzähler? Das ist eine kleine Lupe mit Stehvorrichtung. Die meisten Fadenzähler lassen sich zusammenklappen und finden so bequem Platz in den Hosen-und Hemdentaschen der Angehörigen des Druckgewerbes. Ursprünglich stammt das unscheinbare Werkzeug aus der Textilindustrie, von wo es auch seinen Namen bezog. Vor rund zehn Jahren, in meiner Studienzeit, war mir die kleine Lupe noch verhaßt. Ich lernte sie in den Händen meines kritischen Professors kennen, der sie gnadenlos auf die kritischen Stellen meiner Reinzeichnungen stellte und sein Auge auf das kleine Instrument legte. Unsaubere Linienanschlüsse, ausgefranste Ziehfederstriche... nichts blieb dem so ausgerüsteten Prüfer verborgen. Nicht selten mußte ich mehrstündige Arbeiten nach der Fadenzählerprüfung wiederholen. Eine Vergrößerung der Reinzeichnung unter der Repro-Kamera hätte die unsauberen Stellen gnadenlos mitvergrößert. Später wurde die kleine Lupe aus diesem Grunde ein unentbehrliches Utensil zur Selbstkontrolle und Qualitätsprüfung und steht heute wie selbstverständlich auf meinem Schreibtisch.

Der Fadenzähler ist der gleiche geblieben, geändert hat sich aber das Material, auf dem er sich niederläßt.

Vor zehn Jahren war es der mit einer Ziehfeder bearbeitete Reinzeichenkarton und gelegentlich eine Lithographie, heute sind es Satzbelichtungen aus dem Computer. Computer wurden damals von Designern nicht akzeptiert. Der große technologische Fortschritt hieß »Bildschirmtext«, und was da zu sehen war, erforderte keinen Fadenzähler.

Die Ecken der Megapixel-Grafiken (von der Typographie möchte ich lieber ganz schweigen) ließen Computer als ernsthaftes Arbeitsgerät für die Entwurfsarbeit nicht zu, und an Druckvorlagen hätte damals niemand auch nur zu denken gewagt.

Dann kam die skeptisch beobachtete Revolution der kleinen, sündhaft teuren Apfclki-sten. Hatte wenige Jahre zuvor der Designer Wim Crowel noch ein neues Buchstaben-Alphabet für Computer entworfen, weil sich ansehnliche Schrift in den damals gebräuchlichen Auflösungen nicht erzielen ließ, so erlaubte »Pagemaker 1.0« plötzlich eine brauchbare Satzherstellung. Anders sah die Sache beim Bildmaterial aus. Faszination lösten zwar die Computer-Malprogramme aus, die sich an den herkömmlichen Zeichengewohnheiten des Menschen orientierten, aber dem Fadenzählertest hielten ihre Pixel-Ergebnisse nicht stand.

Als die ersten Atari STs den Weg in die Anwender-Gemeinde antraten, entstand in kürzester Zeit eine Flut solcher Malprogramme. Üblicherweise malte man mit den Bildschirmpunkten, die Bildgröße entsprach der Größe des Bildschirms. Beim ST bedeuteten das fast immer die 640x400 Schwarzweiß-Pixel des guten alten »SM124«. Die Farbauflösungen des ST waren schon wieder zu grob. Für Skizzen und Entwürfe eigneten sich diese Malprogramme bereits hervorragend. Wer viel zeichnet, wußte gleich den Vorteil zu schätzen, daß selbst die hundertste Korrektur keine Spuren auf dem Untergrund hinterließ. Die derzeit verfügbaren Nadeldrucker lieferten auch für den privaten Bereich brauchbare Druck-Ergebnisse. Für den professionellen grafischen Einsatz waren diese Pixelbilder allerdings kaum zu verwenden.

Pixel und Vektor: die Theorie

Die innerhalb weniger Jahre vollzogene rasante Entwicklung der Computergrafik auf Personal-Computern hat auch den ST inzwischen zu einer angesehenen Maschine in der Druckvorlagenherstellung gemacht. Die Pixelprogramme sind auf einem professionellen Niveau angelangt. Längst arbeiten sie nicht mehr mit einer 1:1 Bildschirmauflösung. Die Bildformate sind inzwischen bei den meisten Programmen nur noch vom freien Speicherplatz abhängig. Fast noch wichtiger ist die Anpassung an die Druckerauflösung. Dabei steht, ausreichend Speicherplatz vorausgesetzt, für jeden Druckpunkt ein Pixel auf dem Monitor zur Verfügung.

Natürlich ist dies nur im Bereich der Nadel- und Laserdrucker realistisch. Eine normale Grafik für die Satzbelichtung innerhalb eines Calamus-Dokuments würde bei solcher Bearbeitung extremen Speicherplatzbedarf erfordern. Auch eine Änderung der Auflösung bei der Satzbelichtung hätte schlimme Folgen für die Qualität. Will man die Grafiken nur auf dem Nadel- oder Laserdrucker ausgeben, lassen sich mit dieser Auflösung hervorragende Ergebnisse erzielen. Angesichts der zahlreichen Geschäftsleute, die ihre Werbung mit Calamus selbst gestalten und ausschließlich auf dem Laserdrucker ausgeben, haben die Pixel-grafik-Programme einen festen Platz auch im Business-Einsatz erreicht. Geschickt gesetzte Pixel akzeptiert der Grafiker gelegentlich auch bei der Satzbelichtung. Dann muß aber die Gesamtgestaltung die unter dem Fadenzähler so grob und eckig erscheinenden Punkte rechtfertigen.

Das größte Manko aller Pixelgrafiken tritt immer dann auf, wenn Größen- oder gar Proportionsänderungen gefordert sind. Solche Änderungen sind immer mit Qualitätsverlusten verbunden. Die mühsam auf dem Monitor gesetzten Punkte sind plötzlich verschoben, zu groß, rechteckig oder ergeben ein verunstaltendes Moiré-Muster. Ist die Grafik für den DTP-Einsatz vorgesehen, dann stellt sich schnell heraus, daß die ursprüngliche Größe nun doch nicht so gut zum Layout paßt oder schlimmstenfalls mehrfach in unterschiedlichen Größen benötigt wird.

Da die große Bedienungsfreundlichkeit der modernen Pixel-Malprogramme kaum zur Neuzeichnung des Bildes motiviert, wird lieber schnell einmal gepfuscht und die Pixel-Verunstaltung wohl oder übel hingenommen. Bei Eigenproduktionen oder wenig anspruchsvollen Kunden mag das noch angehen. Auftragsarbeiten hingegen machen schnell Bekanntschaft mit dem oben erwähnten Fadenzähler und werden in der Regel gnadenlos reklamiert.

Seit sich Desktop Publishing auf dem Atari zu einer ernsthaften Anwendung gemausert hat, weht auch in der Zeichenbranche ein frischer Wind. Vektorgrafik heißt das Zauberwort, das alle Grafiker in seinen Bann schlägt. Jeder Bestandteil einer Vektorgrafik ist durch mathematische Funktionen beschrieben und nichtaus einer festen Anzahl von Pixeln zusammengesetzt. Entsprechend läßt sich die gewünschte Größe und Form solcher »Objekte« ohne Qualitätsverlust fast beliebig verändern, ohne daß der Anwender damit große Mühe hätte. Vektorgrafik-Programme sind im Vergleich zur unübersehbaren Flut der Malprogramme bisher dünn gesäht. Ein Grund dafür ist sicher der mangelnde Bedarf während der ersten ST-Jahre. Ohne die Forderung nach hochwertiger Ausgabe auf Satzbelichtern bestand keine Notwendigkeit, die in der der Bedienung zunächst ungewohnten Vektorgrafik-Programme zu nutzen. Vektorzeichnen hat nämlich herzlich wenig mit den Zeichengewohnheiten des Menschen zu tun. Der Bedienungs-Luxus der Pixel-Zeichner mit ihren Möglichkeiten, Bildelemente zu radieren oder auszuschneiden und neu zu montieren, existiert in dieser Form bei den Vektorzeichenprogrammen nicht.

Lange Zeit gab es mit »Easy Draw« lediglich ein bekanntes objektorientiertes Zeichenprogramm für den ST Seit »Calamus« hat sich auf diesem Gebiet viel getan. Aus den oben beschriebenen Gründen stieg die Nachfrage nach Vektorzeichenprogrammen gewaltig an. Fast alle bedeutenden Software-Hä user im ST-Markt, die sich mit Grafik-Anwendungen befassen, bieten inzwischen auch Vektorgrafik-Program me an. Eine weitere Anpassung des Marktes an die Bedürfnisse der Anwender ist das steigende Angebot an fertigen Vektorgrafiken für den Business-Bereich. Gab es lange Zeit nur die Calamus Vektorgrafik-Bibliothek, so bieten endlich auch andere Firmen Copyright-freie Vektorgrafik-Sammlungen an. Doch auch Anwender einer solchen Vektor-Bibliothek kommen letztlich nicht um eine Einarbeitung in die Grundprinzipien des Vektor-Zeichnens herum. Erst durch,«die Bearbeitung vorhandener Grafiken gelingt eine individuelle und kreative Gestaltung der eigenen Vorstellungen. (wk)

# Vektorzeichen-Software

• »Arabesque/Arabesque Professional«
Shift, 2390 Flensburg

• »Easy Draw«
Computerware Sender, 5000 Köln

• »TmS-Graphics«
TmS, 84G0 Regensburg

• »MegaPaint Professional«
Tommy Software, 1000 Berlin

• »Outline Art«
DMC, 6229 Walluf

• »Vektorbilder-Archiv«
ST Profi Partner, 2400 Lübeck

Die Unterschiede zwischen Raster- und Vektorgrafik sieht man schon beim Vergrößern

Kursübersicht

Teil 1: Ein wenig Historie □ Pixel und Vektor, die Theorie
Teil 2: Das Vektor-Prinzip □ der Umgang mit Bezierlinien
Teil 3: Lösungswege beim Vektorzeichnen □ Logotypes selbst entwerfen


Rüdiger Morgenweck
Aus: TOS 04 / 1991, Seite 59

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