Wie kommt man zu einem Praktikum bei Atari USA? Ganz einfach: Man fragt Atari-Boß Sam Tramiel auf der Atari-Messe nach einem Job. Informatik-Student Hane—Martin Kröber traute sich: mit Erfolg.
Noch vor einem Jahr war Hans-Martin Kröber (23) ein Atari-Fan wie jeder andere. Begeistert von den Tramiels und ihrer Entwickler-Crew gehörte er zur ST-Gemeinde der ersten Stunde, besuchte regelmäßig die Atari-Messe und folgte seiner Leidenschaft gleich nach der Schule mit der Aufnahme eines Informatik-Studiums. Die typische Karriere eines Atari-Enthusiasten? Möglich. Und wahrscheinlich wäre Hans-Martins Geschichte schon hier zu Ende. Doch »wenn man immer an der Uni mit dem ganzen Theorie-Kram sitzt«, produziert ein wacher Geist manch' ausgefallene Einfälle: »Wenn Du so ein großer Atari-Fan bist, wieso machst Du dort nicht einmal ein Praktikum?«, geistert es monatelang während langatmiger Vorlesungen durch Hans-Martins Hirnwindungen. Der Algorithmus ist klar: IF Praktikum bei Atari THEN frage Sam Tramiel.
Die Gelegenheit bietet sich im August 1988 auf der Atari-Messe in Düsseldorf. Unbefangen spricht der gerade 21-jährige den Atari-Boß an, der gibt ihm seine Karte mit den Worten »Ist o.k. Schreib mir mal.« Als nach zwei Monaten noch immer keine Antwort des vielbeschäftigten Konzernchefs auf die schriftliche Bewerbung eingetroffen ist, beschließt Hans-Martin, das Atari-Heiligtum durch eine Hintertür zu betreten. Als Schlüssel dient die USENET-Adresse von Roy Good, damals Product-Manager bei Atari USA: »Es ging ganz locker über E-Mail los«, wie sich Hans-Martin heute erinnert. In einem Brief über das elektronische Netzwerk erkundigt sich Hans-Martin bei Roy Good über den TT und fragt nach dem Verbleib seiner Bewerbung. Roy Good antwortet prompt: Nein, der TT braucht noch etwas Zeit, aber über die Bewerbung würde er mit Sam sofort reden. Kurze Zeit später gibt es grünes Licht aus USA. Hans-Martins Referenzen: Informatik-Student im 6. Semester, gute C-Kenntnisse, etwas UNIX-Erfahrung und ST-Fan. Geplanter Praktikumsbeginn: Frühjahr '89. Doch so schnell schießen dann nicht einmal die Amerikaner: Denn sobald ein Antrag auf Arbeitserlaubnis vorliegt, mahlen die bürokratischen Mühlen besonders langsam. Selbst Studenten, die dort ein Praktikum durchführen möchten, benötigen ein spezielles Visum. Am Anfang steht die Bewerbung beim »Council of International Educational Exchange« in Bonn. Zu den zahlreichen Papieren, die der Arbeitgeber beibringen muß, gehört die Garantie, der Praktikant nähme keinem Amerikaner den Arbeitsplatz weg. Auf der CeBIT '89 notiert sich Roy Good die von den Behörden geforderten Unterlagen und stellt Hans-Martin dem Leiter der UNIX-Gruppe vor: »Henry Plummer drückte mir gleich eine Liste mit Büchern in die Hand, die ich mir zum Thema XWindows angucken sollte«. Kurz nach der CeBIT erreicht Hans-Martin endlich der Brief mit den ersehnten Unterlagen, einschließlich Arbeitsvertrag. Weitere Monate vergehen, im vergangenen August trifft Hans-Martin erneut Henry Plummer (39) in Düsseldorf auf der Atari-Messe und lernt dabei auch Bob Hudson, Ataris XWindows-Spezialisten kennen. Zwei Wochen später sitzt Hans-Martin im Flugzeug nach San Francisco. Es regnet in Strömen, als Henry Plummer den Studenten aus Germany am Samstag den 16. September vom Flughafen abholt. Der folgende Montag ist Hans-Martins erster Arbeitstag: »Insgesamt arbeiten in der Zentrale etwa 300 Leute. In der unteren Etage sind die Buchhaltung, Verwaltung und die Finanzabteilung untergebracht. Im oberen Stockwerk arbeiten die Entwickler, ein Drittel dieser Fläche belegt die Rechtsabteilung. An der Fensterseite befinden sich die Büros der leitenden Angestellten. Der Rest ist ein mit Trennwänden unterteilter großer Raum«. Dort bekommt Hans-Martin seinen »Cube«, ein würfelförmiges Büro, in dem er zunächst TOS-Netzwerke testet. Die ersten zwei Wochen wohnt Hans-Martin in einem Motel, danach mietet Atari eine kleine Wohnung an und stellt ihm ein altes Dienstauto zur Verfügung. Beides kostenlos, versteht sich. Hans-Martin arbeitet sich in XWindows ein und unterstützt das sechsköpfige UNIX-Team bei seiner Arbeit. Mindestens ein Mal pro Woche gibt es ein Statusmeeting zum Thema: »Wer macht was, wie weit sind wir, was müssen wir noch tun?«. Hans-Martin befaßt sich überwiegend mit grafischen Tools zur Systemverwaltung. Mit Allen Char entwickelt Hans-Martin einen »Styleguide« für die äußere Erscheinungsform von Programmen, selbständig definiert der Student aus Hildesheim Richtlinien: »Wie man GEM-Programme unter UNIX anpaßt«. Seit Januar läuft die Implementierung der Tools.
Die »tolle Arbeitsatmosphäre« wirkt sich auch auf das Privatleben aus: Weihnachten feiert Hans-Martin in Henry Plummers Familie, das Team geht häufig zusammen Essen, abends trifft man sich im Kino oder spielt zu Hause Strategiespiele. Hans-Martin fährt oft nach San Francisco, die Universitäten Berkeley und Stanford beeindrucken ihn ebenso wie Palo Alto und Silicon Valley: »Alles hinterläßt einen sehr grünen und gepflegten Eindruck. Viel liegt an dem guten Wetter, denn selbst im Dezember hatten wir 16 Grad und einen blitzblauen Himmel.«
Kaum überraschend, daß sich Hans-Martin überlegt, sein Studium in den USA fortzusetzen und halbtags bei Atari zu arbeiten. Doch selbst die versierten Atari-Anwälte sehen keine Chance, ein dauerhaftes Visum mit Arbeitsgenehmigung zu besorgen. Geschätzte Wartezeit: drei Jahre. Seit der vergangenen CeBIT ist Ataris einziger Praktikant also wieder Student in Hildesheim. Zurückkehren möchte er als fertiger Informatiker, denn sein Aufenthalt »hat alle Vorstellungen übertroffen«.
Vorerst bekommt er von Atari einen TT gestellt und entwickelt als freier Mitarbeiter neue System-Software. Auch Henry Plummer ist voll des Lobes für seinen Schützling: »Hans-Martin hat nicht nur Team-Geist und ist sehr talentiert. Er kommt vom ST, seine Art, die Sache grafisch anzugehen, tat uns gut. Hans-Martin ist einfach nicht UNIX-geschädigt.«