Kandinsky: Den Vektoren auf der Spur

Vektororientierte Malprogramme sind trotz aller Vorzüge spärlich gesät. Kandinsky bietet treppchenfreien Genuß zum Sharewarepreis.

Vektororientierte Zeichenprogramme haben den Vorteil, daß Ihre Zeichnungen auf jedem Peripheriegerät - vom 9-Nadler bis zum Laserdrucker - in der maximal möglichen Qualität ausgegeben werden. Auf Pixel-Basis arbeitende Applikationen bilden den herkömmlichen Prozeß des Zeichnens zwar präziser nach, die Umgewöhnung auf objektbezogenes Zeichnen geht jedoch schnell und lohnt sich.

Sowohl im kommerziellen als auch im Shareware- und Public Domain-Bereich gibt es ein reichhaltiges Angebot an vektororientierten Programmen für Atari-Computer. Kein Wunder, bringt doch der in den ROMs als Teil des Betriebssystems enthaltene VDI bereits die wichtigsten Grundfunktionen mit. Zur Bereitstellung weiterer Basisroutinen wird zumeist ein nachzuladendes GDOS benötigt. Hier haben Sie reichhaltige Auswahl: NVDI, der populärste Ausgabebeschleuniger, enthält ein schnelles GDOS. Alternativen sind das AMCGDOS von Arnd Beißner (ältere Versionen sind frei kopierbar) und das neue Speedo-GDOS von Atari.

Click-Move-Click

Kandinsky, ein neues Shareware-Zeichenprogramm, unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von seinen Mitbewerbern um die Gunst der Anwender. Dagegen weicht das Bedienungskonzept der nach dem russischen Künstler Wassily Kandinsky, einem Meister der expressionistischen Malerei, benannten Software vom Standard ab. Der Programmierer, Ulrich Roßgoderer, kehrte dem »Click-and-Drag«-Verfahren den Rücken. Seine Methode bezeichnet er mit »Click-Move-Click«, was bedeutet, daß Sie beispielsweise zum Zeichnen einer Linie zwei Schritte ausführen müssen: Zuerst klicken Sie einmal an den Startpunkt der Linie, bewegen dann den Mauspfeil an den gewünschten Zielpunkt und klicken zum Schluß erneut. Im Vergleich zum etablierten Verfahren, bei dem die Maustaste während des Positionierens gedrückt gehalten werden muß, soll sich daraus eine Steigerung der Genauigkeit und - so Roßgoderer - Schonung des Zeigefingers ergeben. Ob Sie die eine oder andere Methode favorisieren, ist eine Frage des Geschmacks.

Die zweite Besonderheit von Kandinsky fällt schon beim ersten Start des Programmes auf, wenn es nach dem Pfad für die BGI-Fonts fragt. Diese Vektor-Zeichensätze sind auf die Funktionsbibliothek »BGI« von Borland, die eine einheitliche Programmierung grafischer Ausgaben für alle »Turbo«-Sprachen gewährleisten soll, zugeschnitten. Im Pure-C-Paket für Atari, dem Nachfolger von Turbo C, sind die BGI-Zeichensätze und -Routinen ebenfalls enthalten. Kandinsky wurde mit diesem Compiler entwickelt und kann sowohl mit GDOS-Zeichensätzen, als auch mit BGI-Fonts umgehen. Vorteile der letztgenannten: Sie sind beliebig drehbar und, da vektorisiert, frei skalierbar. So fallen die häßlichen Effekte, die bei der Vergrößerung und Verkleinerung von Pixel-Zeichensätzen auftreten, weg.

MultiTOS berücksichtigt

Die Benutzeroberfläche von Kandinsky ist komfortabel. Auf Wunsch werden alle Dialogboxen in Fenstern dargestellt, was dem Betrieb unter MultiTOS entgegenkommt. Der Programmierer verwendete die »My-Dials« von Olaf Meisiek, dem Autor des Resource Construction Sets »Interface«. Deshalb können alle Dialoge »fliegen«, d. h. sie sind frei über den Bildschirm verschiebbar und verdecken somit nie wichtige Informationen. Auch die Bedienung der Dialogboxen per Tastatur machen die MyDials möglich. Die Zeichenfunktionen werden in einem Fenster als Icons dargestellt. Praktisch: Sie können eine Funktion auch bei nicht aktiviertem Funktionsfenster auswählen, indem Sie beim Klicken auf das Symbol die rechte Maustaste gedrückt halten. Die rechte Maustaste erfüllt in Kandinsky noch andere Zwecke: Befindet sich der Mauspfeil über einem Objekt Ihrer Zeichnung, erscheint nach einem Klick mit ihr die jeweils zugeordnete Optionen-Dialogbox. So können Sie sich viele Mausbewegungen in die Menüleiste sparen. Wenn Sie ein Objekt selektiert haben, wechseln Sie durch einen Klick mit der rechten Maustaste in den Modifikationsmodus, der zum Verändern der Lage und Ausmaße dient.

Zeichenfunktionen sind reichlich vorhanden. Neben Standardobjekten wie Strichen, Kreisen, Ellipsen und Rechtecken bietet Kandinsky Ihnen auch Bézierkurven. Eine Freihand-Zeichenfunktion vermissen wir allerdings noch. 256 durch Rasterung erzeugte Graustufen sorgen für Abwechslung bei Mustern und Schattierungen. Damit Ihre Zeichnungen exakt werden, können Sie sowohl ein Fadenkreuz als auch Béziertangenten und eine ständige Koordinatenanzeige zuschalten. Diese versorgt Sie nicht nur mit Informationen über die Position des Mauszeigers; sie gibt auch den aktuellen Winkel, die Winkeldifferenz und die prozentuale Fläche beim Zeichnen von Kreisbögen an - praktisch für Tortendiagramme. Damit ein kleiner Patzer nicht gleich eine ganze Zeichnung unbrauchbar macht, ist für fast alle Funktionen eine Undo-Funktion vorgesehen, die den letzten Schritt rückgängig macht. Nützlich bei der Eingabe von Text ist die Editier-Box, in der Sie mehrere Zeilen Text ohne Attribute schneller als im Grafikfenster eingeben können.

Kontaktfreudige Software

Der Kommunikation mit dem Rest der Welt sind dank cleverer Programmierung kaum Grenzen gesetzt. Über das GEM-Klemmbrett können Sie Grafiken und Text austauschen, letzteres sogar innerhalb der Dialogboxen. Kandinsky unterstützt das durch die Shell »Gemini« etablierte VA-Protokoll zum Informationsaustausch mit Accessorys. Wenn es an die Ausgabe Ihrer Zeichnungen geht, steht Ihnen eine Druckerauswahlbox zur Verfügung, die vielfältige Möglichkeiten bietet. Alle in der GDOS-Konfigurationsdatei angemeldeten Treiber - beispielsweise für Drucker, GEM-Metafiles, Plotter und Faxmodems - können Sie als Ausgabeziel angeben. Zusätzlich läßt sich ein Skalierungsfaktor in Prozentpunkten angeben.

Der Sharewarebeitrag von 30 Mark ist für Kandinsky gut angelegt. Ehrliche Anwender haben das Privileg kostenloser Updates auf die jeweils neueste Version gegen Einsendung einer Diskette im frankierten Rückumschlag.

Das Programm wird stetig weiterentwickelt. Eine kontextsensitive Hilfsfunktion ist, wie auch mehrere Umwandlungsfunktionen für Grafik-Objekte, in Vorbereitung. Das Handbuch zu Kandinsky war zum Zeitpunkt unseres Tests kurz vor der Fertigstellung.

Für den Einstieg in die Welt des vektororientierten Zeichnens ist dieses stabil laufende Programm empfehlenswert. thl

Ulrich Roßgoderer, H.-K.-Schmid-Straße 64, W-8037 Olching

Kandinsky finden Sie auch in Mailboxen des MausNet, unter anderem in der MAUS Münster2 oder auf unserer Leser-Service-Diskette (siehe Infokasten »Leser-Service«!!)


Patrick G. Dubbrow
Aus: ST-Magazin 07 / 1993, Seite 86

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