Editorial: Datenautobahn

Ob Schüler, Student oder Berufstätiger, viele von uns vertrödeln täglich viel Zeit im Berufsverkehr: morgens in überfüllten öffentlichen Verkehrsmitteln hin, abends im Stau zurück. In der Mittagspause hastig hineingeschlungenes Fastfood oder lauwarmen Mampf aus der Kantine. Dabei geht viel Lebensqualität verloren.

Vor allem für am Schreibtisch orientierte Büroarbeiten bietet sich eine bequeme und umweltschonende Alternative: Heimarbeit. Wo aufwendige Elektronik sowieso schon vorhanden ist, macht’s die moderne Kommunikation möglich. Schon eine simple Telefonleitung reicht aus, um Computer auf einfache Weise miteinander zu verbinden und so Daten problemlos zwischen heimischem Arbeitsplatz und ferner Zentrale auszutauschen.

Die Vorteile liegen auf der Hand: die Arbeitsatmosphäre ist angenehmer, niemand räuchert einen aus, durch freie Zeiteinteilung lassen sich Dinge besser organisieren. Die Produktivität steigt nicht nur durch die eingesparte Zeit, sondern auch durch höhere Motivation. Man verbringt nicht mehr viele Stunden im Kohlenmonoxid, das private Auto (oder zumindest der Zweitwagen) kann abgeschafft werden. Manche Autobahn bleibt dann zweispurig, krausige Kettensägenmassaker an idyllischen Alleen bleiben uns erspart. Privater wie öffentlicher Geldbeutel — auch im Gesundheitswesen — werden es danken.

Außerdem: Wenn Firmen nicht mehr ihre mietentreibenden Glaspaläste benötigen, haben Innenstädte wieder eine Chance, mit erschwinglichem Wohnraum menschlich zu werden, und nicht nach Geschäftsschluß das Revier Tauben und gescheiterten Existenzen zu überlassen.

Doch was für die Gesellschaft überwiegend mit Vorteilen verbunden ist, kann für den einzelnen ins Auge gehen. Eigener Herr zu sein, kann auch Subunternehmertum bedeuten, wie es in anderen Branchen schon lange praktiziert wird. Das Beziehungsgeflecht, das über die reine Arbeitsleistung hinausgeht, reißt: keine sozialen Leistungen wie Krankenkasse oder Altersversorgung, genaueste Kontrolle und Abrechnung der individuellen Arbeitsleistung. Bei Urlaub oder Krankheit muß man vom finanziellen Polster leben. Arbeitsmittel (Computer, Telefon, Arbeitsraum) müßten u. U. selbst finanziert werden. Wer da nicht auf Zack ist, bleibt schnell auf der Strecke.

Ohne täglichen Umgang mit Kollegen, verarmen soziale Kontakte, der Single wird zum Einzelgänger. Plausch oder Betriebsausflug fallen weg. Betriebsrat oder Gewerkschaften, die den Arbeitnehmer bei möglichen Ungerechtigkeiten unterstützen, können sich nur schlecht etablieren. Bei unsicherer Arbeitsmarktlage läßt sich mancher möglicherweise auf Bedingungen ein, die er normalerweise abgelehnt hätte.

Die Arbeit zu Hause bietet die Chance, Ballungsräume vor dem Verkehrskollaps und den Konsequenzen zu bewahren. Es kommt also darauf an, diese Umwelt und Gesundheit schonende Alternative sozial vernünftig abzusichern. Fragt sich nur, ob eine Politik, die mehr an kurzfristig machtpolitisch relevanten Lösungen interessiert ist, derart langfristig zu denken und zu handeln vermag.


Thorsten Luhm
Aus: ST-Magazin 04 / 1993, Seite 3

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