16 Millionen Farben für jeden - Ataris neuer Chefentwickler Richard Miller


27 Jahre ist er jung. Er studierte theoretische Physik und ist seit fünf Jahren erfolgreicher Chip-Entwickler: Richard Miller, der neue Chefentwickler bei Atari Sunnyvale. In einem ausgedehnten Interview verriet uns der Nachfolger von ST-Vater Shiraz Shivji, wie er die Zukunft von Ataris Computern sieht.

ST-Magazin: Mr. Miller, wie fühlt man sich als neuer Chefentwickler bei Atari, wenn man erst 27 Jahre alt ist?

Richard Miller: Es ist ein harter Job, und es gibt sehr viel zu tun.

Die Arbeit ist aber unglaublich aufregend und ich fühle mich sehr glücklich. Dafür habe ich in den letzten fünf Jahren auch hart gearbeitet. Es ist eine wunderbare Chance, mit der Finanzkraft Ataris neue Produkte zu entwickeln und auf den Markt zu bringen.

Statt an einer oder zwei Entwicklungen zu arbeiten, haben wir jetzt zehn oder mehr gleichzeitig. Über die ganze Welt verteilt sitzen kleine Atari-Entwicklerteams, von denen sich jedes auf ein Projekt konzentriert. Auch ich habe in der Vergangenheit auf diese Art am Atari-Transputer mitentwickelt. Ein kleines entschlossenes Team motiviert sich selbst und erzielt tolle Ergebnisse. Wenn Sie nur ein großes Team haben, das an einem Ort entwickelt, werden die Produkte immer ähnlicher. Nur wenige neue Ideen entstehen. Innovation ist rar.

Damit haben gerade die Großen in unserer Branche zu kämpfen. Unsere Teams arbeiten in England, Deutschland, Frankreich, Sunnyvale, Colorado, Dallas, Japan und Taiwan. Alle Gruppen arbeiten eigenständig und geben uns dadurch viel mehr Anstöße als mit einer zentralisierten Entwicklungs-Abteilung.

Neue Ideen erreichen uns auch von außenstehenden Entwicklern, wie zuletzt bei unserer Spiele-Konsole, die ein erstklassiges Team von Epyx entwickelte.

ST-Magazin: Nach langer Entwicklung hat Atari nun neue Produkte wie die ATW oder den TT fertiggestellt. Was aber kommt danach?

Richard Miller: Nun, wir kündigen neue Produkte frühestens drei Monate vor der ersten Auslieferung an. Das macht mir das Leben sehr viel leichter. Daher kann ich im Moment nur über allgemeine Trends reden und keine detaillierten Angaben machen. In den letzten Jahren hat Atari nicht gerade viele neue Computer herausgebracht.

Obwohl die Entwicklung konstant verlief, bekam keine Entwicklung den letzten Schub zur Produktionsreife. Außenstehende verstehen wahrscheinlich nicht, was die Herstellung einiger 10000 Einheiten für eine Produktionsplanung erfordert. Das ist ein riesiges Unternehmen.

ST-Magazin: Was ist daran so schwierig?

Richard Miller: Eine Entwicklergruppe denkt ins Blaue, entwickelt Chips, konzipiert neue Architekturen, baut Prototypen, macht erste Tests und verfügt am Ende über 10 oder 20 Geräte. Die Produktions-Ingenieure fertigen davon 1000 Computer an. Sie experimentieren mit unterschiedlichen Bauteilen und verschiedenen Zulieferern. Dabei kann sehr viel passieren. Für den ST kommen die Chips von einem halben Dutzend Zulieferer. Die optimale Kombination und das beste Layout der Bauteile zu finden, erfordert sehr viele Versuche. Wir experimentieren, bis wir das Muster mit der besten Qualität bei günstigsten Produktionskosten gefunden haben. Diese Arbeit läßt sich nicht automatisieren und erfordert viel Erfahrung und noch mehr Prototypen.

ST-Magazin: Was waren Ihre wichtigsten Stationen vor Atari?

Richard Miller: Ich habe in London theoretische Physik studiert. Da beschäftigt man sich mit Physik, sehr viel Mathematik, Kosmologie, schwarzen Löchern, Relativität, Quantenmechanik, allen diesen wundervollen, aber vollkommen nutzlosen Dingen. Als Student habe ich in meiner Freizeit Computer entwickelt.

Nach der Uni entwickelte ich Peripherie für den QL. Zu seiner Zeit war der QL ein toller Computer, sein Manko waren jedoch die fehlenden Disketten-Lauf-werke. Also konstruierte ich ein vernünftiges Disketten-Inter-face für den QL, das dann sehr erfolgreich war. Danach ging ich zu Sinclair Research, um am QL-Nachfolger mitzuarbeiten. Es war ein toller Computer, so wie der QL von Anfang an hätte sein sollen: mit echten Disketten-Laufwerken, super Grafik und 68000-Prozessor. Wir waren gerade fertig, da kaufte Amstrad Sinclair Research auf. Das war es dann.

Danach arbeitete ich ziemlich lange als Berater. In dieser Zeit habe ich u. a. zusammen mit Jim Westward in Cambridge den »Z88«-Laptop entwickelt. Das dauerte so sechs Monate. Anschließend ging ich zu Perihelion. Jack Lang wollte einen RISC-PC (Reduced Instruction Set Computer) bauen. Wir suchten Finanziers, doch die wollten uns mit Leib und Seele gleich mit einkaufen. Das war furchtbar. Auf der CeBIT ’87 trafen wir dann Sam und Jack Tramiel. Sie waren sehr begeistert. Als ich am 1. Juli mit Shiraz Shivji die Spezifikationen des Systems Unterzeichnete, begann das Projekt. Am 2. November waren die ersten fünf Maschinen rechtzeitig zur Comdex fertig. Das Design der ganzen Hardware dauerte nur drei Monate. Es war wirklich ein harter Sommer. Oft kletterten wir morgens nach einer durchgearbeiteten Nacht durchs Fenster und frühstückten auf einer Barke, die dort festgemacht war. Eine großartige Arbeitsweise.

ST-Magazin: Das werden Sie in Kalifornien wohl vermissen?

Richard Miller: Oh nein, in Kalifornien gibt es alles.

ST-Magazin: Mr. Miller, mit welchem Computer würden Sie den TT vergleichen?

Richard Miller: Der TT ähnelt offensichtlich dem Apple Macintosh II. Die Performance des TT ist jedoch besser.

ST-Magazin: Wieso?

Richard Miller: Die Architektur ist viel innovativer, das I/O-System und der Prozessor ein wenig schneller. Dazu kostet der TT weniger als die Hälfte eines Macintosh II. Aber ich mag die Vergleiche mit Apple nicht, denn ich sehe keine direkte Konkurrenz. Wir versuchen, hochwertige professionelle Computer für den Konsumenten-Markt zu entwickeln. Wir denken an Dinge wie MIDI, digitalen Sound und gute Grafik. Apple ist eher im Geschäftsbereich aktiv. Unsere Preise orientieren sich an sehr großen Stückzahlen.

ST-Magazin: Der TT ist zwar relativ billig, zielt aber dennoch auf einen anderen Markt als der ST.

Richard Miller: Klar. Wir entwickeln Computer nie für einen bestimmten Markt. Nie würde ich sagen: Wir machen jetzt einen Computer für Desktop Publishing oder für Musiker. Sehen Sie sich an, was passiert: Shiraz gab dem ST die beiden MIDI-Ports. Er dachte, es wäre eine gute Idee. Niemand hätte sich damals träumen lassen, wo man den ST heute überall findet. Nicht nur bei Musikern, sondern auch in der Industrie, überall. Ein neuer Computer muß einfach sehr viel können, spezielle Märkte ergeben sich aus seiner Leistung. Ich halte den TT für ein großartiges Arbeitspferd. Er wird das billigste Unix-System auf dem Markt sein und besitzt einen VMEbus. Wir haben uns für den VMEbus entschieden, damit die Familie kompatibel bleibt.

So wird es auch einen ST mit VMEbus geben. Das ist besonders für den deutschen Markt wichtig. Nirgendwo in der Welt wird der VMEbus häufiger eingesetzt.

ST-Magazin: Wie soll eigentlich eine normale VME-Karte in das jetzige TT-Gehäuse passen?

Richard Miller: In den normalen TT passen nur VME-Karten halber Bauhöhe. Aber auch für Standard-Karten werden wir eine Lösung anbieten.

ST-Magazin: Wie sieht es mit Ethernet-Karten aus?

Richard Miller: Wir werden diese und andere Netzwerkkarten anbieten. Auch einen MS-DOS-Emulator wird es geben.

ST-Magazin: Wird der TT der neue ST sein oder gehört er zu einer ganz anderen Produktlinie?

Richard Miller: Hier haben wir sogar eine Gemeinsamkeit mit IBM und Intel. Selbst ihr 80486-Prozessor muß kompatibel zum 8088 sein. Auch für uns ist die Kompatibilität eine Schwierigkeit. Dennoch hat die Entwicklung des TTs und des STs noch lange nicht ihr Ende erreicht: Perfekter Sound mit 16-Bit-CD-Qualität ist billig und verfügbar. Er sollte in jedem Computer eingebaut sein. Grafik mit 24 Bit Auflösung pro Pixel ist heute kein Problem mehr. Die nötige Hardware läßt sich leicht auf einem Custom-Chip unterbringen.

Erst in ein paar Jahren wird es wirklich schwierig sein: Wohin wollen wir noch, wenn die Computer perfekten Klang erzeugen und Grafik mit 16 Millionen Farben darstellen? Besser geht es dann nicht mehr.

ST-Magazin: Aber wir arbeiten mit einem ST von 1985, und es gibt keinen konkreten Grund, zu glauben, daß sich in naher Zukunft daran etwas ändert. 24 Bit pro Pixel und CD-Sound erscheinen möglich, aber niemand bietet bis heute diese Hardware an. Nicht einmal Atari.

Richard Miller: Doch, Atari wird so etwas anbieten.

ST-Magazin: Was halten Sie von Steve Jobs »Next«-Computer?

Richard Miller: Die Next-Workstation macht einen sehr guten Eindruck. Ich sehe in ihr einige neue Ideen verwirklicht. Auch wenn zu schönfärberisch über sie geredet wird. Aber ich mag sie, die Next ist ein hochintegriertes System. Auch wenn sie zu teuer ist. In den USA kostet sie nach wie vor 10000 Dollar. Die DMA-Architektur der Next spiegelt einen Trend in der Industrie wider:

Coprozessoren übernehmen die Hauptarbeit. Traditionelle Architektur sieht eine CPU vor, die direkt an einem zentralen Bus hängt und über ein paar Hilfs-Busse verfügt, wie z. B. das I/O-System. Heute ist der Aufbau komplexer, besonders, seitdem es Cache-Speicher gibt.

32-Bit-CPUs verfügen über einen eigenen Cache, der den Bus erheblich entlastet. Die Chip-Integration erreicht aber langsam ihre Grenzen.

Die Herstellung eines Silizium-Stückes für einen 32-Bit-Prozessor wirft schon heute viele Schwierigkeiten auf. Trotz Lichtgeschwindigkeit wird der Weg von einem Punkt des Chips zu einem anderen zu einem echten Problem. Die Leistungssteigerung vom 68030 zum 68040 fällt nur noch marginal aus.

Anstatt immer mehr auf einen Chip zu packen, setzten wir auf eine Coprozessor-Architektur. Für jeden Bereich ist ein eigener Chip zuständig: Fließkomma-Berechnung, Grafik oder auch ein Datenbank-Prozessor, der Strings sehr schnell durchsucht. Jeder Baustein verfügt über einen Cache-Speicher, der am gemeinsamen Bus angeschlossen ist. Der Cache fischt sich nur die für ihn relevanten Daten vom Bus. Alle Bausteine können so parallel arbeiten.

ST-Magazin: Ist das nicht die Amiga-Architektur?

Richard Miller: Schon. Der Amiga hatte als erster mehrere Coprozessoren. Der Haken beim Amiga ist aber der zu schmale Bus, denn es gibt keine Cache-Speicher. Der Bus ist beim Amiga ein Bremsklotz.

ST-Magazin: Wieso fördert Atari dann den Transputer nicht noch mehr?

Richard Miller: Das tun wir doch. Es war eine gute Entscheidung, die ATW in Europa zu fertigen, denn mit fünf Platinen ist ihr Aufbau kompliziert. Die Serienfertigung wird daher auch in Deutschland stattfinden. Sehr viele Vorbestellungen liegen vor, auch für OEMs. Immer noch ist die Nachfrage größer als wir zur Zeit produzieren können.

Dennoch hat auch die ATW in Zukunft noch ein gutes Stück Weiterentwicklung zu durchschreiten. Die ATW ist nicht so eine 08/15-Unix-Kiste. Davon gibt es genug. Durch unser Transputer-Konzept bildete sich eine Gemeinde echter Transputer-Freaks, die ATW ist unter allen Unix-Systemen etwas Besonderes.

ST-Magazin: Welche Eigenschaften des ST oder ST Enhanced würden Sie an erster Stelle verbessern?

Richard Miller: (denkt nach)

ST-Magazin: Es gibt einige.

Richard Miller: Ich könnte Ihnen eine ganze Liste von Verbesserungen aufzählen, an denen wir zur Zeit arbeiten. Was als erstes davon auf den Markt kommt, kann ich jetzt nicht sagen: 16-MHz-CPU mit Cache, 16-Bit-Digitalsound, mehr Schnittstellen, besonders für Video-Anwendungen, verschiedene Gehäuse, sehr viel mehr Farben, hochauflösende Grafik...

ST-Magazin: Ohne Rand...

Richard Miller: Das Grafiksystem ist frei programmierbar, ob mit oder ohne Rand bleibt jedem überlassen. Ich habe mir Euren Hyper-Screen angesehen. Die Idee ist fantastisch. Wieso sind wir nicht darauf gekommen? (lacht)

ST-Magazin: ... ein echter SCSI-Bus?

Richard Miller: Langsam geht uns auf der ST-Platine der Platz für die ganzen Anschlüsse aus.

Diese Atari-Messe finde ich sehr beeindruckend. Sie kann sich leicht mit der Apple-Expo in San Franzisko vergleichen. Zum SCSI-Bus bin ich momentan aber überfragt.

ST-Magazin: Der ST wird also kein Spielcomputer?

Richard Miller: Die beste Spiele-Hardware hat immer noch die Atari Transputer Workstation ... Daneben gibt es eine Atari-Familie, die das ganze Spektrum abdeckt. Vom 520 ST bis zum TT. (hb)

Das Interview führten Tarik Ahmia, Wolfgang Fastenrath und Horst Brandt


Tarik Ahmia
Aus: ST-Magazin 11 / 1989, Seite 141

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