Klarenz Barlow, Komponist und Hochschuldozent für Komposition an der Musikhochschule Köln, berichtet über seine umfangreichen Erfahrungen mit Notendrucksoftware.
Die Geschichte des computerunterstützten Notendrucks hängt mit der Geschichte der Computermusik eng zusammen. Die erste Computermusik entstand vor beinah 40 Jahren. Damals waren die wichtigsten Pioniere Lejaren Hiller, der seine legendäre »Illiac Suite« für Streichquartett mit Computerhilfe schuf, und Max Mathews, der die digitale Klangsynthese erstmals zur Musikerzeugung einsetzte. Nach Europa kam die digitale Klangsynthese erst sehr spät. Beispielsweise erhielt ich 1972 das digitale Ergebnis einer in Köln entworfenen elektronischen Komposition nirgends näher als in Stockholm. Dabei konzentrierte sich in Europa musikbezogene Computerarbeit vor allem auf die Hilfe beim Komponieren.
Seit Anbeginn der geschriebenen Musik haben Komponisten zur kontrollierteren Handhabung ihrer Kunst Kompositionsregeln erschaffen; die Isorhythmie im 14. Jahrhundert, die Fuge im 17., die Zwölftontechnik im 20. sind nur einige wenige Beispiele. Teile dieser Regeln waren algorithmisch so eindeutig strukturiert, daß sie ohne Verfälschung der Ergebnisse einem Rechenknecht anvertraut werden konnten. Es lag daher immer nahe, für solche Zwecke die Technologie der Zeit zur Arbeitserleichterung und -präzisierung hinzuzuziehen. Selbst Mozart veröffentlichte eine variable Komposition als Bausatz aus Motiven und Gesetzen — er ermutigte den »Benutzer«, mit Hilfe von Würfeln ständig neue Kombinationen der vorgegebenen Elemente zu »komponieren«, woraus völlig akzeptable Menuette und andere Tanzstücke entstanden.
Anfang der sechziger Jahre war der Hauptvertreter der Computermusik in Europa Jannis Xenakis, der in Paris Ensemblestücke unter Einbeziehung der Wahrscheinlichkeitsrechnung komponierte. Die Computeranlage druckte diese Werke immer in der für die Interpreten unbrauchbaren Form von Buchstaben und Zahlen aus. Der Komponist übertrug sie in mühevoller Arbeit in besser lesbare Noten. Die ersten Bemühungen, diesen Weg durch Automatisierung abzukürzen, gehen wieder auf das Konto von Lejaren Hiller, der 1965 ein Notendruckprogramm entwickelte. Hauptanforderung an das Ergebnis war Lesbarkeit, nicht Schönheit.
Etwa sechs Jahre später stand ich als junger Komponist vor einem ähnlichen Problem. Es erwies sich als sehr aufwendig, ein mit Hilfe des Siemens-Computers der Universität Köln komponiertes und ausgedrucktes Stück für Violoncello, Posaune, Vibraphon und Schlagzeug in Noten umzuschreiben. Von Hillers Programm hatte ich keine Ahnung; außerdem wäre es unübertragbar gewesen. Folglich ließ ich eine Notation vom Computer simulieren, die rechtwinklig zur Druckzeile verlief — Notenlinien wurden mit senkrechten Strichen, Notenköpfe mit Nullen usw. gedruckt.
Dieses Notenbild, wenn auch unschön, bildete eine viel bessere Grundlage zum Umschreiben oder Abspielen als die sonst gewohnten Zahlen. Dennoch beschloß ich 1972, ein »richtiges« Notenprogramm mit Plotterausgabe zu entwickeln. Die Arbeit dauerte ein ganzes Jahr. Ich schrieb in »Fortran«. Die Sprache Pascal, mit der ich heute hauptsächlich arbeite, gab es damals noch nicht. Die Eingabe nahm ich über Lochkarten vor, die Druckausgabe dauerte zwei Stunden; bis ich lernte, an zwei Programmen gleichzeitig zu arbeiten (eine für mich immer noch schizophrene Angelegenheit), hatte ich sämtliche Cafes in der Nähe des Rechenzentrums kennengelernt. Die Plotterausgabe gab es erst am nächsten Tag. Damit erzielte ich eine gut leserliche zeitproportionale Darstellung von verschiedenen Notenwerten (ohne »n-tolen«) sowie von Notenköpfen mit Hälsen und Vorzeichen. Diese Darstellung reichte aus für ein 56seitiges an diesem Computer komponiertes Bläsertrio.
1976 wollte ich dieses Programm (genannt » * SC«) erweitern; leider gelang es wegen zu chaotischer Programmierung nicht, mich wieder in den Quellcode hineinzudenken. Die erneute Programmierung kostete ein weiteres Jahr Zeit. Die einzige merkliche Arbeitsverbesserung: Die Druckausgabezeit verringerte sich von zwei Stunden auf zwanzig Minuten.
Das Aufwendigste an der Entwicklung von »*SC« war die metrische Einteilung. Die von meinen Kompositionsprogrammen ausgegebenen Dauerwerte (z.B. drei Viertelnoten gefolgt von fünf Achteln usw.), waren vom Takt unabhängig — bei »ametrischer« Musik (in Neuer Musik keine Seltenheit) ist das Metrum eine Ermessensfrage, die offenbleiben sollte. Zum Beispiel fragte mich einmal ein auftretender Pianist, ob nicht ein gewisser Abschnitt in %- statt in %-Takt notiert werden könnte; das fände er besser. So mußte ich nur die Angabe »D2« (=%: D=4. Buchstabe, 2=binärer Logarithmus von 4) durch »13« (=%) ersetzen, und schon konnte das Programm die Dauern neu aufspalten, die neu plazierten Notenköpfe wo nötig mit Bindebögen versehen und die Balkenrichtung gegebenenfalls ändern. Takte waren in diesem Programm frei zu definieren, z.B. 7/8 wahlweise als 2+2+3 oder 4+3 oder 2+3+2 oder 3+2+2 oder 3+4 Achtel.
Eine wichtige Eigenschaft von »*SC« ist seine modulare Struktur. Es besteht aus vier Phasen, deren Ein- und Ausgaben sich in einem Texteditor verändern oder gänzlich neuformen lassen [1]. Die erste Phase (KSC) ermöglicht die schnelle Eingabe von Tonhöhen, Dauern und Dynamik über die Computertastatur. Phase 2 (LSC) bringt die Noten in Takten unter, führt alle Layout-Überlegungen durch und gibt eine Liste von Einzelheiten wie z.B. Köpfen, Hälsen, Balken, Bögen usw. mit deren kartesischen Koordinaten aus. Aus dieser Liste ließe sich heute eine Eingabedatei für Postscript mühelos herstellen. Die dritte Phase (MSC) verwandelt diese Liste in Vektoranweisungen für einen Plotter, wegen vereinfachter Übertragbarkeit auf nur drei Werte beschränkt: X, Y und Farbe (Schwarz oder Weiß). Die vierte Phase bewirkt die einfache Weitergabe dieser Werte an das Zeichengerät.
»*SC« fand seine bisher letzte Verwendung 1984 für das Drucken eines Ensemblestücks. Das war das Jahr, in dem MIDI seinen Einzug in die digitale Musikwelt spektakulär vollzog. In diesem Jahr kaufte ich einen Computer mit MIDI-Schnittstelle — zu einem Preis, für den heute um die zwanzig 1040 STs zu haben wären. Damit entwickelte ich ein großes Programmpaket zur Verarbeitung von MIDI-Dateien. Auch hier verspürte ich nicht die geringste Neigung, die MIDI-Befehle mit Taktangaben von vorneherein festzulegen — mir reichte eine einfache Zeitangabe in Sekunden und Millisekunden. Dieses Programmpaket (»MIDIDESK«) kann z.B. eine Datei zwischen bestimmbaren Anfangs- und Schlußtempi beschleunigen oder verlangsamen (mittels des Moduls »midi-VARY«), eine solche Beschleunigung mit einer solchen Verlangsamung parallel vereinen (mittels »midiFUSE«) und dann gleichzeitig abspielen — ein Vorgang, der im Taktdenken nicht zulässig wäre.
Eines der Module von »MIDIDESK« ist »midiNOTE«, ein 1986 geschriebenes Notendruckprogramm. Da es nicht taktorientiert arbeitet, zeigt es Noten zeitproportional. Dadurch stellt es die kompliziertesten Zeitverhältnisse grafisch dar, ohne daß die rhythmische Spielbarkeit wichtig ist. Das Programm notiert nur Notenlinien, Notenschlüssel, Notenköpfe mit Vorzeichen und Dynamik, den Rest überläßt es dem Filzstift. Mit diesem Programm konnte ich ein Klaviertrio mit großer Klarheit notieren, dessen Zeitschichtigkeit sich überlappende Takte, sich überlappende »n-tolen« und dergleichen notwendig machte.
Wenn ein modernes Notendruckprogramm den Anspruch erhebt, durch fließende Quantisierung eine auf MIDI-Tastaturen vorgenommene Improvisation gleich zu notieren, so wird die Schwierigkeit der Umsetzung der registrierten Zeitwerte in sinnvolle Pulswerte heruntergespielt. Beschränkt sich das Spiel auf binär verwandte Dauern (Viertel, Achtel, Sechzehntel usw.), ist der Algorithmus noch relativ einfach. Treten aber komplexere Rhythmen auf, so versagen praktisch alle heute verfügbaren Programme, einschließlich der von mir geschriebenen. Es fehlt noch eine Methode zu Erfassung verschiedener, dicht beieinander vor kommender »n-tolen«. Ebenfalls fehlt eine Methode zur sinnvollen enharmonischen Verwechslung — es kann ja sein, daß eine Musik in H-Dur eingespielt wird mit dem Wunsch, Dis statt Es zu sehen, ohne dabei die Tonart durch fünf Kreuze angeben zu müssen.
Diese Mängel treten nicht auf bei der manuellen Eingabe populärerer Musikarten, wo Tonart und Taktart von vornherein feststehen; die Programmentwicklung hat sich auf eine solche Verwendung beschränkt, denn die schnelle Massenabnahme besitzt ja Priorität.
Ein weiteres Beispiel ist die Entwicklung der FM-Klangsynthese in den mittleren siebziger Jahren durch John Chowning, einen Komponisten Neuer Musik. Heute gibt es preiswerte FM-Synthesizer überall. Aber die immerwährende Beschränktheit musikimmanenter Hard-und Software wird gänzlich vom Popmusikbedarf diktiert; die Neue Musik, Geburtshelfer sämtlicher neuerer Musiktechnologien, hat überhaupt keinen Einfluß auf die Entwicklung.
Ich habe die Notendruckprogramm-Industrie seit ihrem Anfang mit Interesse verfolgt, besonders seitdem vor ein paar Jahren die ersten interessanten Programme auf den Markt kamen. Im Juni 1989 veranstaltete ich (als Dozent für Computermusik an der Musikhochschule Köln) ein Seminar zu diesem Thema — sechs der bekanntesten Programme stellte ich einem interessierten Publikum vor. Es zeigte sich, daß der Schwerpunkt eindeutig bei der manuellen Eingabe und Korrektur liegt; an MIDI-Dateien zum Beispiel muß nach der Eingabe so viel »herumgedoktort« werden, daß man sich manchmal fragt, ob es nicht lohnender wäre, sie per Hand einzugeben. Einfache Automatisierungen, die ein jeder Texteditor aufweist (z.B. »Suche« oder gar »Suche und Ersetze«), fehlen häufig. Ein weiteres Manko ist die rhythmische Aufteilung der Pausen. Befindet sich beispielsweise in einem %-Takt eine einzige Achtelnote am Anfang, so sollte die darauffolgende Pause als Achtel, Achtel, punktiertes Viertel notiert werden, doch nicht als Halbe, Achtel (!).
Der Unterschied zwischen grafisch intelligenter und musikalisch intelligenter Arbeit ist nicht ausreichend verdeutlicht — grafische Wünsche, die auf Popebene musikalisch unverständlich sind, lassen die meisten Programme nicht zu. Musik und Grafik sollten getrennt zu bearbeiten sein und nach Bedarf aufeinander wirken. Was auch fehlt, ist die ausreichende Austauschbarkeit des Layouts unter den Programmen. Jedes Programm sollte eine Liste mit detaillierter Information (Kopf, Hals, Vorzeichen, Balken, Dynamik usw.) ausgeben, die ein anderes Programm lesen kann — nur so ist die stundenlange manuelle Arbeit am Notenbild herüberzuretten.
Gerade habe ich die Arbeit an einem Stück für großes Orchester beendet, das bei den Donaueschinger Tagen für Neue Musik 1989 aufgeführt wird. Es ist größtenteils mit Computerhilfe algorithmisch komponiert und in MIDI-Dateien abgelegt. Zur Notierung zog ich erstmals ein kommerzielles Programm meiner eigenen Software vor. Meine Wahl fiel auf das zur Zeit teuerste, das angebliche »Nonplusultra« unter den Programmen (auf Macintosh). Die Ausgabe ist schön (danke Postscript!), aber der dreimonatige Weg dahin mehr als steinig.
Abgesehen von der mittlerweile bekannten Benutzer-Unfreundlichkeit dieses Programms ist meinem Mitarbeiter eine Menge Interessantes widerfahren: Beispielsweise lang anhaltende, vom Programm selbst komponierte »Geistertöne«, deren Notenköpfe mit bis zu fünfzig Hilfslinien in Horn 5 verwurzelt und bei den Oboen zu finden waren. Oder Stimmen, die das Programm gänzlich verschluckte. Überraschend auch mehrtönige Motive, die hin und wieder aus einer Stimme ungebeten in eine andere hineinkopiert wurden. So mußte ein Team in tagelanger Arbeit Takt für Takt, Stimme für Stimme die Partitur durchsieben, um die Fehler zu tilgen. Wahrscheinlich bleibt ein Komponist wie ich weiterhin auf eigene Notendrucksoftware angewiesen. (wk)
[1]. Das ganze Programmpaket wird in der Zeitschrift Darmstädter Beiträge (Schott Mainz 1984) ausführlich beschrieben.