Kampf gegen Windmühlen: Organisation und Arbeitsweise der Cracker-Szene

Das ST-Magazin berichtet exklusiv über die Organisation und Arbeitsweise der Cracker-Szene.

Weitgehend unbemerkt von den meisten ST-Anwendern existiert eine Untergrundszene von ST-Freaks, die sich, in kleinen Gruppen weltweit straff organisiert, auf das Entfernen des Kopierschutzes neuester Programme spezialisiert. Software-Piraten mögen für sich noch nichts Ungewöhnliches sein, sie betreiben ihr Geschäft schon seit den Kindertagen der Computerei. Der Organisationsgrad der ST-Szene und die technischen Fertigkeiten einzelner Cracker auf dem ST dürften Außenstehende aber überraschen.

»Cracker-Crews« arbeiten grundsätzlich unter Pseudonymen. »42-Crew«, »The Carebears«, »Flexible Front«, »Gigabyte-Crew«, »B.O.S.S.«, »Delta Force« sind nur ein paar zufällig ausgewählte Namen aus dem mehrere Dutzende Gruppen zählendem Cracker-Netz, das sich allein über West-Europa erstreckt. Die Reihen sind fest geschlossen, die »ST-Cracker können sich aufeinander verlassen, weil sie sich untereinander kennen«, so ein Insider.

Ihren Anfang nahm die Cracker-Szene vor gut vier Jahren mit dem Erscheinen des ST, als sich junge Computer-Freaks zu kleinen Gruppen zusammenschlossen, in denen sie gemeinsam Software »knackten«, also den Kopierschutz entfernten. Diese Programme tauschten sie wiederum bei anderen Crackern gegen neue Programme ein, deren Kopierschutz ebenfalls entfernt war. Viele ST-Freaks erlangten durch das Cracken beachtliche Kenntnisse über Assembler-Programmierung und den ST. Ihr Know-how spiegelt sich in sogenannten »Intros« wider, kurze Demo-Programme, die die Cracker heute als »Markenzeichen« vor frisch geknackte Programme setzen. Die technische Qualität dieser Intros übertrifft mit aufwendigen Grafik-Effekten und erstaunlicher Musik nicht selten das eigentlich geknackte Programm: »Auf Dauer ist es interessanter, eigene Software zu entwickeln als die Programme anderer Leute auseinanderzunehmen. Jeder Programmierer nimmt jedes bessere Programm auseinander. Man lernt sehr viel dabei, denn man schaut sich ja nicht nur den Kopierschutz, sondern auch einzelne Routinen an. Dabei findet man oft gute Sachen und verbessert sie«, so einer von fünf deutschen Crackern, mit denen das ST-Magazin sprach.

1989 hat sich die Cracker-Landschaft erneut gewandelt. Viele der zersplitterten kleinen Gruppen haben sich europaweit zu zwei unterschiedlichen Vereinigungen zusammengeschlossen, die mittlerweile in der Szene dominieren, namentlich: »The Bladerunners« und »The Union«.

Wozu das alles?

Die Mitglieder dieser Vereinigungen rekrutieren sich überwiegend aus Deutschland, Frankreich, England, Holland und Schweden. Das Arbeiten in einem länderübergreifenden Verbund gewährleistet eine schnellere Verbreitung der neuesten Software. Außerdem erlaubt es diesen Gruppen, die über ein beträchtliches Programmier-Know-how verfügen, die koordinierte Zusammenarbeit an neuen Intros oder Demo-Programmen. »Die besten 68000er-Programmierer sitzen in Deutschland«, so ein holländischer Experte zum ST-Magazin. »Auch in England und Schweden gibt es sehr gute Leute. Die Amerikaner haben das Heft aus der Hand gegeben, als sie PC-Freaks wurden. Seitdem sich der PC dort durchgesetzt hat, ist technisch gut gemachte Software in den USA so gut wie - ausgestorben.«

Kommerzielle Aspekte spielen für die meisten Cracker nach eigenem Bekunden keine Rolle: »Wir machen das aus Spaß. Cracken ist für uns die einzige Möglichkeit, an Software zu kommen, denn die offiziellen Preise sind auf Dauer unbezahlbar. So tauschen wir die Programme halt untereinander.« Der Verkauf geknackter Programme sei »eher die Ausnahme«. Schon ein Jahr sei es her, daß ein »Großhändler« das letzte Mal aufgeflogen ist. »Der verschickte sogar Weihnachtskataloge und machte im Monat angeblich seine 10000 Mark damit. Als ihn die Polizei schnappte, saß er 14 Tage in Untersuchungshaft. Heute macht er wie gehabt weiter, nur mit Strohmännern zur Tarnung. In Berlin gibt es eine Adresse, da kopiert die ganze Familie.

Die Kommunikation untereinander läuft fast immer auf dem Briefweg, denn, so die Computerfreaks, die oft noch zur Schule gehen, »die Telefonrechnung muß geschont werden.« Verpönt sind Trittbrettfahrer, die fremde Intros als ihre eigenen ausgeben. Im Behüten der Source-Codes stehen die Untergrund-Programmierer daher ihren kommerziellen Kollegen nicht im mindesten nach. Wachsendes Können führen die vom ST-Magazin befragten Bladerunner- und Union-Cracker als einen Grund für ihre verminderten Aktivitäten in den letzten Monaten an: »Die Leute arbeiten teilweise als professionelle Programmierer. Andere haben Ärger mit der Polizei oder einfach keine Lust mehr. So fällt die Sache langsam auseinander. Zur Zeit läuft der ’Nachwuchs’ zum Amiga, denn der ST hat den schwierigeren Einstieg. Letztlich geht es aber auch beim ST mit den besten Programmierern weiter. Sie schreiben Demos, nicht um zu beweisen, wie großartig sie sind, sondern um zu beweisen, daß der Atari ST dem Amiga in Sachen Grafik um nichts nachsteht.«

Die Energie, mit der die jungen Software-Piraten das Knacken von Programmen verfolgen, macht es schwer zu glauben, daß je ein Kopierschutz den flinken Tastatur-Akrobaten widersteht. Trotzdem darf es nicht angehen, daß ehrliche Anwender durch zu hohe Software-Preise dafür die Zeche zahlen. Software-Piraterie hat auf dem ST und dem Amiga bedrohliche Ausmaße angenommen. »Zu viele Raubkopien« führten bereits einige Softwarehäuser als Grund an, um sich aus dem Markt zurückzuziehen. Andererseits sind durchschnittlich 70 Mark, die ein Spiel kostet, für jugendliche Spielefreaks eindeutig zuviel. Aber hier gilt dasselbe wie für die restliche Wirtschaft: Was ich nicht bezahlen kann, kaufe ich nicht.

Es sei daher die Frage erlaubt, ob sich die Software-Industrie nicht eher an der Realität orientieren sollte, bevor die Realität sie endgültig einholt? (tb)

Künftig auf der richtigen Seite

Viele Softwarehäuser sind Crackern auf der Spur. Sie richten jährlich Schaden in Millionenhöhe an. Trotzdem zeigen sich Softwarehäuser bereit, ehemalige Cracker als Programmierer zu beschäftigen. Ein gutes Spiel zu programmieren und sich überall zu seinem Werk bekennen zu können, ohne mit Repressalien rechnen zu müssen, macht zweifellos genauso viel Spaß, wie ein tolles Intro zu schreiben.

Natürlich ist es immer ein Risiko, sich als Cracker einem Softwarehaus erkennen zu geben. Winkt eine lukrative Anstellung oder droht ein Haftbefehl?

Wir treten dabei gern als Vermittler auf. Je mehr Cracker ihre Fähigkeiten richtig einsetzen, desto mehr tolle Programme erwarten die ST-Anwender. Allerdings gehört schon etwas mehr Durchhaltevermögen dazu, ein gutes Programm zu schreiben als einen Crackervorspann. Wer stellt sich der Herausforderung?


Tarik Ahmia
Aus: ST-Magazin 07 / 1989, Seite 146

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