Schrift-Akrobatik mit Netz und doppeltem Vektor - Calamus-Oline: DTP mit Salto fontale

Atemlose Stille im großen DTP-Zelt des Zirkus Atarani. Gebannt starren die versammelten Publisher durch die sicheren Stäbe des Rastergitters in die GEM-Manege. Der berühmte ST-Dompteur Diego Maggiocampo führt gerade seine gemischte Raubtier-Gruppe vor. Mit geübtem Schwung läßt er die Debugging-Peitsche knallen. Gehorsam springen Times-Löwen und Swiss-Tiger durch die Textrahmen und laufen auf eckigen Pfaden um Calamusio, den dicken Vektorgrafik-Elefanten, herum.

Schmetternde Fanfaren und schnarrende Trommelwirbel kündigen die Haupt-Attraktion an. Bislang unbestätigten Meldungen der monochromen Sensationspresse zufolge will der vielversprechende Diego (bei den Journalisten auch als »II Verifico« bekannt) am heutigen Abend erstmalig eine fantastische Programmnummer präsentieren. Außer dem Namen ist bisher nichts in die Öffentlichkeit gedrungen. Was verbirgt sich hinter dem geheimnisvollen Programm »Calamus-Oline«?

Wie immer, wenn es um DTP mit ST und Calamus geht, sitzt Ihr ST-Magazin in der ersten Reihe. In unserer Exklusiv-»Reportage« erfahren Sie alles über »Calamus-Oline«, die neue Zusatzsoftware zum bekannten Desktop Publishing-Programm »DMC-Calamus«.

Fließend: Grauwertverläufe in allen Richtungen

Calamus-Oline produziert Schriftzüge für Überschriften oder Logos in nahezu beliebigen Formen und Schriftläufen und kombiniert die Schriftzüge je nach Wunsch mit Flächen verschiedenster Gestalt. Schriftzüge und Flächen lassen sich in variablen Grautonverläufen darstellen. Das Programm speichert die Arbeitsergebnisse als Vektorgrafiken, die Calamus in entsprechende Rahmem importiert und anschließend wie Metafile-Grafiken weiterbearbeitet.

Diese grobe Beschreibung der Funktion von Oline läßt allenfalls erahnen, zu welch grandiosen Leistungen das Programm tatsächlich fähig ist. Einen anschaulichen Eindruck vermitteln Ihnen die Bildschirm-Hardcopies und Beispielausdrucke dieses Artikels. Die genaue Erläuterung der Bedienungselemente und Einzelfunktionen dieses in der ST-Software bisher einmaligen Programmes verschafft Ihnen einen tieferen Einblick in Oline.

Laut Angaben des Herstellers DMC ist Calamus-Oline gegen Ende des ersten Quartals 1989 lieferbar. Im Verkaufspreis von 349 Mark sind die Programmdiskette mit Beispielgrafiken und eine kurze Anleitung zum Einheften in das Calamus-Handbuch enthalten. Die Anleitung lag uns während des Testes noch nicht vor.

Oline benötigt ein ST-System mit mindestens 1 MByte freiem RAM und einem Monochrom-Monitor. Die GEM-Benutzeroberfläche ist an die Calamus-Oberfläche angepaßt. Die wichtigsten Bedienungselemente befinden sich in einem Piktogrammfeld am linken Bildschirmrand. In einer Menüleiste mit drei Pull-Down-Menüs sind die Dateioperationen und einige Grundeinstellungen des Programmes zugänglich. Gut 75 Prozent des Bildschirmes nimmt das Arbeitsfenster mit GEM-Rahmen, Rollboxen und Rollpfeilen ein.

Am oberen Rand des Piktogrammfeldes sehen Sie vier kleine Wahlfelder zum Einstellen des Darstellungsmaßstabes (Ganzseite, Vergrößern, Verkleinern) und zum Einschalten der stufenlosen Lupe. Die Maximalgröße einer Oline-Grafik beträgt etwa 16 x 16 Zentimeter. Dies ergibt auf dem Atari-Monochrom-Monitor SM124 bei Ganzseitendarstellung annähernd eine Abbildung im Maßstab 1:1, auf einem Großmonitor wie dem Matrix-Mat-Screen M110 sogar ein vergrößertes Bild.

Die restlichen 27 Icons im zweigeteilten Piktogrammfeld dienen zur Auswahl der Arbeitswerkzeuge in den zwei Funktionsbereichen Objekteditor und Pfadeditor. Im oberen Teil mit insgesamt 15 Icons steuert Oline die Objektfunktionen, weitere 11 Icons in der unteren Hälfte des Piktogrammfeldes erlauben die Bearbeitung von sogenannten Pfaden, die Oline-Objekte in vielfältiger Weise beeinflussen. Das 27. Icon symbolisiert einen universellen Vektorrechner, der sowohl Objekte als auch Pfade bearbeitet und daher in beiden Editoren aktiv ist. Auf dieses außerordentlich interessante Instrument gehen wir später ein.

Hier dreht und wendet sich der Text

Oline verwaltet Schriftzüge in Verbindung mit einem Vektorpfad. Dieser bildet die Basislinie des Schriftzuges. Ein Oline-Textobjekt besteht also stets aus den beiden Bestandteilen Schriftzug und Vektorpfad. Dabei beziehen sich Drehtextobjekte auf einen linearen, durch Anfangs- und Endvektor definierten Pfad, Kreistextobjekte auf einen aus mehreren Bézierlinien gebildeten Kreisbogen und Pfadtextobjekte auf einen frei zu gestaltenden Pfad, der aus geraden Vektorlinien und Bézierlinien gemischt zusammengesetzt sein darf. Bézierlinien sind durch insgesamt vier Vektoren definiert, nämlich durch Anfangs- und Endvektor sowie durch zwei zusätzliche Vektoren, die die jeweilige Linienkrümmung bestimmen.

Pfad und Text eines Schriftzuges lassen sich separat editieren. Der lineare Pfad eines Drehtextobjektes erlaubt lediglich die Änderung seiner Neigung, die Bézierpfade der Kreis- und Pfadtextobjekte hingegen können nahezu alle beliebigen Formen von der sanft gewellten Linie bis hin zur verschlungenen Schleife annehmen. So zwingt Oline zumindest in softwaretechnologischer Hinsicht selbst dem einfallsreichsten »Schriftenjongleur« keinerlei Grenzen auf.

Auch der Schriftanteil der Textobjekte ist auf vielfältige Weise variierbar. Die Dialogbox zum Editieren der Schriftzüge begrenzt die Textlänge pro Objekt auf eine Zeile mit maximal 140 Buchstaben. Oline bietet die gewohnten Textausrichtungen links- und rechtsbündig, zentriert oder im Blocksatz. Die Buchstabenabstände lassen sich sowohl global als auch individuell über einen integrierten Kerning-Editor einstellen.

Die Neigung der Einzelbuchstaben folgt wahlweise der Pfadneigung oder einem fest einstellbaren Winkel. Treppenstufenartige Schriftzüge entwerfen Sie zum Beispiel als Drehtextobjekt mit einer Pfadneigung von 45 Grad in Verbindung mit einem festen Buchstabenwinkel von 0 Grad. Bei einem Wert von 90 Grad für den Drehtextpfad entsteht ein senkrechter Schriftzug.

Als Schrifttypen benutzen Sie sämtliche Calamus-Fonts. Anders als in Calamus lassen sich die Buchstaben nicht nur schwarz oder weiß ausgefüllt darstellen, sondern auch mit beliebigen Grauwerten zwischen 0 Prozent (weiß) und 100 Prozent (schwarz). Grauwertverläufe von Buchstabe zu Buchstabe innerhalb eines

Schriftzuges sind ebenfalls vorgesehen. Die Zeichengröße ist in Yioo -Millimeter-Stufen bis zur Maximalgröße des Arbeitsfeldes (exakt 163,84 Millimeter) einstellbar. Alternativ übernimmt Oline eine automatische Anpassung der Zeichengröße an Pfad- und Textlänge. Die drei Icons in der zweiten Zeile des Piktogrammblocks steuern Pfadobjekte, die nicht mit Texten verknüpft sind, und Rechtecke mit einstellbarem Grauwertverlauf. Beliebig geformte Grauwertflächen (nicht mit Grauwertverlauf) entwirft man im Pfadeditor. Ein Linienzug aus geraden Vektorlinien und/oder Be-zierkurven bildet die Flächenbegrenzung, die entsprechende Fläche erscheint beim Umschalten in den Objekteditor. In einer dabei eingeblendeten Dialogbox können Sie den Grauwert der Fläche und ihre Darstellung mit oder ohne Begrenzungslinie auswählen. Für besondere Effekte läßt sich die Pfadfläche sogar in ein Strahlenbündel verwandeln, das Oline von einem beliebig zu positionierenden Punkt (durch einen »Reißnagel« dargestellt) auf den Rand der Fläche projiziert.

Die Zeilen 4 und 5 des Piktogrammblockes stellen die von Calamus her bekannten Funktionen zur Objekt Verwaltung bereit. Hier ziehen Sie Objektrahmen auf, verschieben diese oder ändern ihre Größe, Sie legen Kopien an oder löschen einzelne Objekte. Ferner können Sie mehrere Objekte übereinandersta-peln, ganz oder teilweise verdeckte Objekte oben auf den Stapel legen oder das ganz oben liegende Objekt in den Hintergrund befördern.

Im unteren Teil des Piktogrammbalkens befinden sich die Auswahl-Icons für die Funktionen des Vektorpfadeditors. Wie zu Anfang bereits erwähnt, stellt dieser Editor gerade Vektorlinien und Bezierlinien zur Verfügung. Ein Pfad darf maximal 256 Elemente enthalten, vereinfacht gesagt also bis zu 256 Vektoren (Koordinatenpaare), zwischen denen Linien gespannt sind.

Bei der vektoriellen Beschreibung solcher Pfade bleibt die Vektorenanzahl gleich, egal ob es sich bei einer Linie um eine Gerade oder um eine Bezierlinie handelt. Zwei rechtwinklige geschlossene Pfade besetzen also je fünf Vektoren, vier Dreieckpfade je vier Vektoren. Die 256 Vektoren stellen gleichzeitig auch die obere Grenze für die Elementanzahl aller gleichzeitig aktiven Pfade dar.

Die Vektorpunkte lassen sich mit der Maus frei oder in einem festen Raster setzen. Einzelne oder mehrere Punkte lassen sich jederzeit wieder aus dem Pfad entfernen. Alle Punkte (auch die Hilfspunkte einer Bézierlinie) sind nachträglich verschiebbar. Hilfsfunktionen zur automatischen Verrundung von Pfaden oder zur Umkehr der Drehrichtung eines Pfades (wichtig bei der Strahlendarstellung von Pfadflächen), sowie ein Klemmbrett zum Zwischenspeichern von Teilpfaden komplettieren das Werkzeugangebot.

Bedienung à la Calamus: Piktogrammblock und Pulldown-Menüs

Die Arbeitsgeschwindigkeit von Oline erweist sich als ausreichend schnell, obwohl das Programm bei jeder Ergänzung oder Änderung der dargestellten Elemente nicht nur den veränderten Bildschirmbereich, sondern das komplette Arbeitsfenster neu aufbaut. Wegen der dadurch bedingten Bildaufbauzeiten muß Oline leider darauf verzichten, sofort beim Verschieben der Vektor- oder Bézierpunkte die veränderte Linie anzuzeigen.

Funktionen zum Ausdrucken von Grafiken bietet Oline nicht an. In diesem Punkt verläßt sich das Programm voll auf Calamus. Leider läßt Calamus seinen Helfer Oline dabei gelegentlich im Stich, denn die uns zum Test vorliegenden Versionen hatten bei komplexen Oline-Grafiken noch mit »Kommunikationsproblemen« zu kämpfen. Verkraftet Calamus allerdings die Oline-Produkte, so glänzen die Druckresultate dank der vektororientierten Oline-Grafik durch optimale Qualität. Sie ist lediglich vom Auflösungsvermögen des Druckers abhängig. Dennoch ist die Erweiterung von Oline um eine Kontrolldruckfunktion der Grafiken im l:l-Maßstab wünschenswert. Allen genannten Einschränkungen zum Trotz: Mit Hilfe der oben beschriebenen Editierwerkzeuge für Vektorpfade entwerfen Sie schnell und komfortabel beliebig geformte und verzierte Schriftzüge. Doch damit ist Oline noch lange nicht am Ende seiner Fähigkeiten angelangt. Wenn Sie unsere bisherige Beschreibung der Oline-Bedienungselemente mit der Abbildung des Piktogrammfeldes vergleichen, fällt Ihnen sicherlich sofort auf, daß wir einige Icons noch nicht angesprochen haben.

Punkteschieber: Der universelle Vektorrechner von Oline

Diese Icons steuern nämlich mehrere Superwerkzeuge für »Schriften-Rastellis«: Zum Beispiel die Umwandlung von Buchstaben in Pfade, den Entwurf von sogenannten Kontrollpfaden und Kontrollpfadnetzen, die Verrechnung von beliebigen Objekten mit den Kontrollpfad-netzen und den bereits kurz erwähnten Vektor-Rechner, ein wahres Prunkstück für mathematisch begabte »Schriftexperten«. Durch die Kombination der Einzelfunktionen in den Superwerkzeugen wächst die Komplexität von Oline beträchtlich.

Dazu ein paar Beispiele: Oline verwandelt Buchstaben in Vektorpfade, die als Kontrollpfade für Schriftzüge dienen.

Auf einfache Weise erzeugen Sie so einen Kontrollpfad mit den Umrissen Ihrer Initialen und lassen entlang dieses Pfades einen Schriftzug aus den Initialbuchstaben fließen.

Kontrollpfadnetze können Sie im Pfadeditor aus beliebigen geschlossenen Vektorpfaden entwerfen. Nach Festlegen von vier Eckpunkten errechnet Oline ein entsprechendes Netz, das je nach Linienverlauf des Pfades sogar dreidimensional wirkende Gitternetzflächen ergibt. Kontrollnetzpfade bilden die Berechnungsgrundlage zur Projektion beliebiger Oline-Objekte (Schriftzüge, Grauwertverläufe, Pfadflächen, etc.) auf diese Gitternetze. Der Schriftzug »ST-Magazin« auf einer flatternden Fahne ist im »Mausumdrehen« fertiggestellt.

Der Vektorrechner schließlich stellt das »offene Ohr für mathematische Einflüsterungen« aller Art dar. Transformations- und Projektionsformeln rechnen jede Oline-Grafik um. Der mitgelieferte Formelsatz stellt Formeln zum Verschieben, Drehen, Spiegeln, Vergrößern, Verkleinern sowie zur Projektion von Objekten auf Kugel, Zylinder und Kegel zur Verfügung. Mathematik-Genies finden im Vektorrechner von Oline das ideale Betätigungsfeld.

Soviel zu Calamus-Oline und seinem »Salto fontale« mit Schriften und Vektorpfaden. Der Schriftzug-Zauberer aus Walluf hat sich in unserem Test als DTP-Werkzeug von höchster Funktionalität und extremer Leistungsfähigkeit erwiesen. Oline hält, was Calamus verspricht. Man darf auf weitere DMC-Produkte gespannt sein. (uh)

DMC, Dietmar Meyfeldt, Schöne Aussicht 41, 6229 Walluf

Wertung

Name: Calamus-Oline
Preis: 349 Mark
Hersteller: DMC

Stärken:

□ komfortable Benutzeroberfläche im Calamus-Stil □ arbeitet mit allen Calamus-Fonts □ leicht zu bedienender Vektorlinieneditor □ offenes System durch Vektorrechner □ Ausgabe als Vektorgrafik im Calamus-Format

Schwächen:

□ Arbeitsfläche könnte größer sein □ Kontrolldruckfunktion fehlt □ keine Ausgabe im GEM-Format

Fazit: funktionenreicher Schriftzugeditor höchster Leistungsstärke für DTP-Anwendung mit Calamus

Die Fahne flattert im Software-Wind: Oline-Grafik als Calamus-Ausdruck

Wolfgang Fastenrath
Aus: ST-Magazin 04 / 1989, Seite 17

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