Editorial: Kleider machen Computer

Wer kennt sie nicht, Kellers Erzählung vom karrierebesessenen Schneiderlein? Vom kecken Scharlatan, der seine arme Haut unter feinem Tuch versteckt, um seine Mitmenschen in mondäner Manier an der Nase herumzuführem.

Wir leben schon lange mit der Erkenntnis, daß die »feine Schale« ihre Wirkung selten verfehlt. Wenn es darum geht, das Image aufzupolieren, Makel zu verstecken, heiligt der Erfolg die Mittel.

Ein Computer schickt sich nun an, ein neues Kapitel der Heuchelei um Glanz und Schein aufzuschlagen.

Industrie und Wirtschaft sind ein konservativer Markt, in dem Big Blue und Konsorten unangefochten regieren. Dieser Markt verlangt nach schnelleren Computern für schnellere Anwendungen. Auf der Suche ist man auch auf Atari's Kraftzwerg gestoßen. Doch statt exzellente Leistung und niedrigen Preis auszuschöpfen, verlegt man sich aufs Versteckspiel. Mit neuem Outfit erscheint dann der amputierte 68000-Athlet im Rampenlicht, den man überall dort beschnitten hat, wo sich Komfort und Atari-Logo zu zeigen drohen.

Klar, die Nachfrage regelt auch hier das Angebot. Wenn der ST für den rauhen Firmen-Einsatz tauglichere Gehäuse oder wasserdichte Tastaturen erhält, so leuchtet das ein. Warum aber versieht ein Hersteller seinen 30000-Mark-ST-Umbau mit einem minderwertigen Monitor und setzt auch sonst alles daran, die Abstammung »seiner« Entwicklung zu verschleiern, etwa durch Verstümmelung des Betriebssystems? Beispiele wie dieses gibt es viele.

GEM und hohe Auflösung ade -schließlich soll der Konzernmanager nicht merken, daß er sich möglicherweise für den gleichen Computer entscheidet, mit dem sein Sohnemann daheim so eifrig »Pac Man« spielt. Denn gut ist doch immer nur das Teure mit dem nüchternen Anstrich, oder? Fragt man in den Chefetagen nach dem ST im Einsatz, sinkt die Redseligkeit gegen Null. Man will eben nicht mit einem »Spielcomputer« in Verbindung gebracht werden. Jener Spielcomputer, mit dem BMW die Steuerelektronik für den Turbodiesel entwickelt und die ESA ihre Raumfahrtprojekte simuliert.

Falsches Statusdenken zählt leider auch hier mehr als Leistung. Was fehlt, ist die Einsicht, daß auch Computer nicht am Schein zu messen sind.


Matthias Rosin
Aus: ST-Magazin 12 / 1988, Seite 3

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