Der universelle Texteditor Tempus 2.0

Seien wir doch einmal ehrlich. Von den hunderttausend wunderschönen Funktionen unseres Textverarbeitungsprogramms benutzen wir die meisten Funktionen höchst selten. Oder verzieren Sie etwa Briefe an Geschäftspartner regelmäßig mit dem digitalisierten Konterfei Ihres höchst markanten Kopfes? Wie oft benötigen Sie tatsächlich einen randscharf gedruckten Sütterlin-Font für den monatlichen Brief an Freund Georg in Achwieschnell?

All’ diese netten »Sparifankerln« (bayerischer Ausdruck für hübsche, aber nicht unbedingt notwendige Dinge) faszinieren zwar viele Anwender und — zugegeben — auch uns Softwaretester, aber zur täglichen Schreibarbeit benötigen gerade Vielschreiber wie zum Beispiel Journalisten oder Autoren kaum mehr als das, was eine simple Schreibmaschine seit jeher zu bieten hat: Texteingabe mit automatischem Zeilenumbruch am Zeilenende, einen Tabulator für Täbellen und, wenn man sehr anspruchsvoll ist, Blocksatz für Briefe.

Natürlich hat niemand etwas gegen Luxus einzuwenden, auch nicht bei der Textverarbeitung. Nur darf der luxuriöse »Wasserkopf« das Textwerkzeug nicht in seiner wichtigsten Aufgabe bremsen, nämlich Texte bequem, sicher und vor allem schnell zu erfassen und auch zu bearbeiten.

Leider fiel die Suche nach einem solchen Textwerkzeug für ST-Computer wie die Jagd auf die sprichwörtliche »karierte Kuh« aus. Es war einfach nicht aufzuspüren. In der Sparte der zeilenorientierten Programmtext-Editoren jedoch gibt es das gemusterte Rindvieh schon seit mehr als einem Jahr. »Tempus, der Editor«, so die Werbung des Herstellers CCD in Eltville, hat auf seinem Gebiet Maßstäbe gesetzt hinsichtlich Arbeitstempo und Bedienungskomfort.

Bei genauer Betrachtung verhindert lediglich die ausschließlich zeilenorientierte Textverwaltung von Tempus den Einsatz dieses spezialisierten Programmtext-Editors als universelles Erfassungsund Bearbeitungssystem für Texte aller Art. Eine Tempus-Fassung mit zusätzlicher Fließtext-Verwaltung — automatischem Zeilenumbruch — würde sicherlich bei den nicht programmierenden Nur-Schreibern viele Freunde finden.

CCD hat solche Überlegungen im neuen »Tempus 2.0« verwirklicht, das jetzt zum Preise von 129 Mark (bis 31.10.88 109 Mark) auf den Markt kommt. Doch selbstverständlich konnte sich Tempus-Programmierer Manfred Schülein mit »Lappalien« wie Fließtextverarbeitung im Tempus-Tempo bei weitem nicht begnügen. Schon das pure Gewicht des mitgelieferten Handbuches mit über 200 Seiten läßt erahnen, daß der Funktionsumfang von Tempus mehr zugenommen hat, als es die Steigerung der Programmgröße auf etwa 70 KByte vermuten läßt. Bei genauem Studium des sprachlich und didaktisch gleichermaßen gut gelungenen Handbuches kommt man aus dem Staunen bald nicht mehr heraus. Können Sie sich auf Anhieb vorstellen, was Syntaxdiagramme in einer Editor-Anleitung zu suchen haben?

Nehmen wir es vorweg: Sie können Tempus 2.0 weitgehend den eigenen Bedürfnissen anpassen. Die Anpassungen gehen bis zu einer vollständigen Umdefinierung der Tastatur. Alle Tempus-Funktionen, selbst die Wahlknöpfe in den Dialogboxen, sind parallel zur Maussteuerung über frei wählbare Tästen-Codes zu bedienen. Eine Imitation der Tastastur-Benutzeroberfläche von »Wordstar« stellt für Tempus kein Problem dar. Nach einer Neudefinition spielt Tempus »Wordstar« mit Ihnen, allerdings sehr, sehr schnell.

Auf der Programmdiskette befinden sich neben der Programmdatei TEM-PUS.PRG ein Programm zur CCD-übli-chen Installation mit Seriennummer und Namenseingabe sowie die zwei Textdateien DRUCKER.INS und QUELLDAT. INS (Beispieldateien zur Tempus-Anpassung).

Tempus 2.0 ist auf dem Monochrommonitor und in der mittleren Farbauflösung des ST lauffähig. Nach Programmstart erscheint auf dem Bildschirm der bekannte Tempus-Desktop mit der Datei-Auswahlbox. Die Dateityp-Bezeichnungen in den Wahlknöpfen der Auswahlbox sind editierbar und an die Bedürfnisse des Benutzers anzupassen. Diese Einstellung sowie alle anderen Veränderungen lassen sich selbstverständlich speichern und stehen beim nächsten Programmstart direkt zur Verfügung. Tempus verwaltet die Texte dynamisch in vier GEM-ähnlichen Fenstern. Die Text-Grundparameter wie Seiten- und Zeilenlänge, Textmodus als Quelltext (zeilenorientiert) oder Fließtext, Fonts, Tabulatorweite, etc. sind an das benutzte Textfenster gebunden. Jedem der vier gleichzeitig bearbeitbaren Texte dürfen unterschiedliche Parameter-Kombinationen zugeordnet sein. Tempus hat auch in der Version 2 nichts von seiner »Spritzigkeit« verloren. Im Gegenteil, Manfred Schülern konnte die Geschwindigkeit für zeilenweises und bildschirmweises Scrollen nochmals steigern. Die Meßwerte finden Sie in der Tabelle. Im linksbündigen Fließtext sind keine Unterschiede zum Quelltextmodus meßbar, lediglich der Blocksatz bremst den Tatendrang der Scrollroutine ein wenig. An dieser Stelle wollen wir eine Behauptung aus ST-Magazin, Ausgabe 5, korrigieren. Der dort wiedergegebene Vergleich der Scrollgeschwindigkeiten zwischen Tempus und »Ist Adress« beruhte auf unterschiedlichen Zeilenlängen und Fensterhöhen. Unter gleichen Bedingungen erreicht Tempus 1.0 die gleichen Werte. Tempus 2.0 übertrifft diese Fabelwerte um einen meßbaren Betrag.

Der Desktop der Version 2.0 hat sich äußerlich nur wenig geändert. Die Icons für Massenspeicher, Drucker, Blockspeicher, Papierkorb und vier Fenster sowie zehn Anklickfelder für die vorbelegten Funktionstasten wurden unverändert von der Vorgänger-Version 1.0 übernommen.

Die acht Pull-Down-Menüs dagegen hat CCD im Vergleich zu Tempus 1.0 umarrangiert. »Datei« enthält die Funktionen zum Laden und Speichern der Textdateien. Tempus speichert die Texte in ASCII-Dateien, kann jedoch beliebige Dateien laden. Eventuell vorhandene Steuerzeichen erscheinen im Text, da Tempus bis auf Null alle übrigen 255 ASCII-Zeichen darstellen kann. In den Menüs »Marken« und »Block« kontrolliert die Maus Textbewegungen und Blockoperationen. Das Menü »Speziell« hat zwei Neueinträge zu verzeichnen. Der Menüpunkt »Hierarchietest« überprüft Programmtexte oder Ausschnitte solcher Texte auf Einhaltung der »Klammerebenen«. Die Zeichen (oder Zeichenketten) für Beginn und Ende einer Hierarchie-Stufe sind frei editierbar. Daher läßt Tempus beispielsweise in Pascal-Programmen die Begriffe »BEGIN« und »END« als Stufenbegrenzer zu. Die auf Mausklick (Menüpunkt »Zeichentabelle«) eingeblendete Dialogbox bietet alle

Die Menüleiste von Tempus 2.0: Ein Pull-Down-Menü weniger, dafür viele zusätzliche Funktionen. Die neuen Befehle sind in »Text«, »Modus« und »Parameter« zu finden. Der Fließtext-Modus, die Zeichenkonversion und eine superschnelle Textformatierung machen Tempus zum Universal-Editor für Vielschreiber.

Scrollen eines Textes mit 7613 Zeilen, 75 Zeichen/Zeile, 21 Zeilen/Bildschirm

--------- Quelltext bildschirmweise Fließtext, linksb. Fließtext, Blocksatz
Sekunden 24,2 24,2 29,2
Zeilen/Sekunde 315 315 258
Bildschirme/Sekunde 15 15 12
bildschirmweise mit 7613 Leerzeilen
Sekunden 8,2
Zeilen/Sekunde 924
Bildschirme/Sekunde 44
zeilenweise mit Blitter scrollen (ohne Blltter 18 Prozent langsamer)
Sekunden 143,5 144,1 162,5
Zeilen/Sekunde 53 53 47

Text mit 630 KByte im Quelltextmodus
mit 40310 Leerzeichen Suchen und Ersetzen

-------- Sekunden Vertauschungen/Sekunde
Leerzeichen gegen ” # " 24,3 1659
Leerzeichen gegen ” # # " 35,3 1142
gegen Leerzeichen 32,4 1244
Leerzeichen gegen "#####" 35,9 1123
"#####" gegen Leerzeichen 34,9 1155

Tempus macht Tempo: Meßwerte für verschiedene Editor-Funktionen zeigen die Geschwindigkeitssteigerung des neuen Tempus

ASCII-Zeichen zur Übernahme in die Texte an. Alternativ kann der Benutzer viele Zeichen direkt über Tastenkombinationen oder als Dezimalwerte eingeben. Die beiden letzten Methoden funktionieren sogar in den Eingabefeldern der Tempus-Dialogboxen. Die meisten neuen Errungenschaften von Tempus 2.0 finden sich hauptsächlich in den Menüs »Text«, »Modus« und »Parameter«, soweit sie durch Mausbedienung zugänglich sind. Das Menü »Modus« steuert die Umschaltung zwischen zeilenorientierter Quelltextverarbeitung und den beiden Fließtexteinstellungen »linksbündig« und »Blocksatz«. In beiden Fließtextmodi formatiert Tempus die Texte direkt bei der Eingabe, sogar beim Einfügen und Ausschneiden von Texten. Natürlich in Tempus-Geschwindigkeit, also ohne merkbare Verzögerung. Wir haben die Direktformatierung einem extremen Test unterzogen. Mit ein paar Tricks und mehrfachem Kopieren erzeugten wir einen 495 KByte langen Text mit 6188 Zeilen ä 75 Zeichen, der weder Leerzeichen noch Zeilenvorschübe enthielt. Für Tempus bildete dieser Text praktisch ein einziges Wort. Zum Einfügen eines Zeichens in die erste Zeile benötigte Tempus nicht mehr als 6,4 Sekunden und hatte tatsächlich einen Buchstaben aus der Zeile 6188 in die Zeile 6189 geschoben.

Die Anpassung von zeilenorientierten Texten an den Fließtextmodus und die erforderliche Neuformatierung steuern die entsprechenden Menüpunkte im Menü »Text«. Hier sind auch die Funktionen Suchen und Ersetzen vertreten, die seit jeher zu den Paradedisziplinen von Tempus gehören. Wie aus unserer Tabelle hervorgeht, zeigt Tempus der Konkurrenz erneut, was perfekte Assembler-Programmierung zu leisten vermag.

Die Meßwerte bei der Zeichenkonvertierung gaben uns zunächst Rätsel auf. Die Konvertierung aller Leerzeichen in Nummerzeichen (ASCII-Wert 35) brachte je nach Testtext 10000 bis 34000 Vertauschungen pro Sekunde, bezogen auf die Anzahl an Leerzeichen im Text. Ein Anruf bei Tempus-»Vater« Manfred Schülern löste das Rätsel. Die rasend schnelle Konversionsroutine tauscht nicht nur die Leerzeichen aus, sondern alle Zeichen der Texte. Zeichenpaare aus zwei identischen Zeichen in der Konversionstabelle bewirken nämlich auch einen Austausch, allerdings gegen dasselbe Zeichen. Damit beträgt die tatsächliche Austauschrate gut 200000 (zweihunderttausend) Vertauschungen pro Sekunde. Soviel zu den wichtigsten Neuerungen in der grafischen Benutzeroberfläche von Tempus 2.0. Das eingehende Studium des Handbuches bringt jedoch noch weitere interessante Details ans Licht. Die Tempus-Tastatur hält beispielsweise Edit-Kommandos bereit, die das Herz eines jeden Programmierers und Schreibers erfreuen. Dazu gehören so ausgefuchste Funktionen wie das automatische Zwischenspeichern des aktiven Textfensters mit Einstellen von Speicherintervall und Speicherpfad, das Duplizieren, Täuschen und Transportieren von Einzelzeilen, das horizontale Verschieben von Blöcken oder die Programmierung von Befehlsmakros. Die Befehlsmakros fassen mehrere Tempus-Funktionen, die alle durch Tastendruck auslösbar sein müssen, zu Befehlsgruppen zusammen, die durch eine Tastenkombination abzurufen sind. Sie lassen sich auf verschiedene Weise erzeugen. Das für reine Anwender bequemste Verfahren bietet eine Art »Mitschnitt« während der normalen Editorbedienung. Weniger komfortabel aber dafür um so flexibler stellt sich die textliche Definition in einer Installationsdatei dar. Beispiel: QUELLDAT.INS mit der Grundeinstellung. Leider hält die Makrobearbeitung an, sobald Dialogboxen aufgerufen werden müssen. Nach Beantwortung der Dialogfrage mit Tastatur oder Maus läuft das Makro jedoch weiter. Kritik ist — zumindest bei reiner Schreibanwendung — auch an den Druckfunktionen zu üben. Briefeschreiber wären sicher dankbar, wenn der Blocksatz nicht nur auf dem Bildschirm, sondern auch auf dem Druckpapier zu sehen wäre. Bleibt noch über eine kleine aber manchmal tatsächlich nützliche Frechheit von Tempus zu berichten. Welcher Texteditor außer Tempus besitzt wohl den Größenwahn, eine Scroll-Bremse — einstellbare Rollbalkenverzögerung in der Tempus-Parameter-Dialogbox — im Programm zu integrieren? Tempus 1.0 war der schnellste Programmtext-Editor für die Atari STs. Diese Stellung kann sein Nachfolger Tempus 2.0 überzeugend festigen und ausbauen. Eine Fülle neuer Funktionen und der integrierte Fließtextmodus machen Tempus 2.0 zu einem derzeit konkurrenzlos schnellen Texterfassungssystem. (hb)

Wertung

Produktname: Tempus 2.0
Preis: 129 Mark (bis 31.10.88 109 Mark)
Update-Preis: 50 Mark (bis 31.10.88 35 Mark)
Hersteller: CCD, Eltville

Stärken:

□ komfortable grafische Benutzeroberfläche □ viele Funktionen □ programmierbare Befehlsmakros □ freie Programmierung der Tästatur □ überragende Arbeitsgeschwindigkeit

Schwächen:

□ Makros stoppen in Dialogboxen □ kein Blocksatz beim Ausdruck

Fazit: Konkurrenzlos schneller Texteditor mit Textverarbeitungsmerkmalen


Wolfgang Fastenrath
Aus: ST-Magazin 10 / 1988, Seite 58

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