Was ist »Word Perfect«? Das Textprogramm mit den vierfach belegten Funktionstasten, sagen die einen. Die kundenfreundliche Firma, die bei jedem Problem weiterhilft, sagen andere. Die amerikanische Gesellschaft verfügt über ein ausgezeichnetes Renommee in aller Welt. Schließlich ist Wordperfect das unter MS-DOS meistverkaufte Textsystem in den USA und es gewinnt seit einiger Zeit auch in Europa immer mehr Anhänger. Das viertgrößte Softwarehaus Amerikas verkaufte bisher über eine Million Exemplare ihres Dauerhits.
Aber was hat Wordperfect mit dem Atari ST zu tun?
Im letzten Jahr kündigte Wordperfect an, seine Textverarbeitung auch dem Atari ST auf den Leib zu schneidern. Das war sicherlich eine gut kalkulierte Entscheidung: Die ST-Serie bietet viel Speicherplatz und einen hervorragenden Schwarzweiß-Monitor und ist somit für Vielschreiber eine ideale Hardware- Umgebung. Zudem fehlt noch immer ein Profi-Textsystem, das alle Finessen der Schreibkunst in sich vereint. So weit, So gut. Im Oktober lieferte WordPerfect die ersten Exemplare für die ST-Serie in den USA aus. In Deutschland gelangten sie in die Hände gespannter Journalisten, die natürlich dieser kleinen Sensation freudig entgegensahen. endlich ein Textprogramm für Profis! Den hochgesteckten Erwartungen folgte schnell eine herbe Enttäuschung. Was da ausgeliefert wurde, war geradezu gespickt mit den sprichwörtlichen Wanzen - an ein sinnvolles Arbeiten war nicht zu denken. Zwei Tage später stoppte die deutsche Niederlassung die Auslieferung und gelobte, alsbald eine fehlerfreie Version nachzureichen. Die Programmierprofis in Utah hatten enorme Schwierigkeiten, ihr Textsystem in die GEM-Umgebung einzupassen.
Während die deutschen Atari-Fans nicht mehr viel von Wordperfect hörten, gab es in den USA eine breite Diskussion über das neue Textprogramm. Viele Benutzer tauschten in den Computernetzen ihre Erfahrungen aus: Man arbeitete trotzig mit der fehlerhaften Version und hoffte auf bessere Zeiten. Ein Wordperfect-Anwender berichtete gar, er sichere seinen Text jede Minute einmal in einer resetfesten RAM-Disk. Dann könne Wordperfect abstürzen, das sei dann aber nicht so schlimm...
Hier ist schon nach 50 Seiten Schluß. Wordperfect nutzt nicht den gesamten Speicher des ST.
Schließlich gab (und gibt) es gute Gründe, auf Wordperfect zu hoffen. Fußnoten und Endnoten, Proportionalschrift und Blocksatz, Rechnen im Text, echte Spaltenverarbeitung, Mailmerging und Makroprogrammierung sind die Pluspunkte des Programms in der IBM-Welt, an dessen Grenzen ein »normaler« Anwender höchst selten stößt. Im GEM-Gewand bot schon die Oktober-Version für den ST bei gleichem Funktionsumfang wahlweise die Bedienung über Maus und Funktionstasten, so daß sich mit ihr einfacher arbeiten ließe als auf dem PC. Im März dieses Jahres schienen die Träume jedoch vorbei zu sein. »Wordperfect zieht sich aus dem Atari-Markt zurück« - das war die Meldung, die rasant durch amerikanische Computernetze zog. Was war passiert? Drei Jugendliche hatten die sechs Wordperfect-Disketten komplett in ein Netz eingespeist. Jedermann konnte nun via Modem eine Raubkopie aus der Computermailbox auf den heimischen Schreibtisch holen. Das funktionierte nur, weil Wordperfect im Interesse aller ehrlichen Kunden auf einen Kopierschutz verzichtet. Diese dreiste Aktion brachte in der Firmenzentrale »das Faß zum Überlaufen«. Man hatte schon vorher festgestellt, daß auf dem Atari-Markt mehr raubkopiert wird als anderswo. Ernsthafte Anwender und Journalisten schafften es schließlich, die Firma davon zu überzeugen, daß Wordperfect in der Mailbox eine Einzelaktion der Jugendlichen war.
Mittlerweile wird nun in Deutschland die amerikanische Version vom 29. Januar ausgeliefert, die gegenüber derjenigen vom Oktober schon erheblich besser läuft. Aber für einen Testbericht ist es zu früh. Denn Wordperfect auf dem Atari ST funktioniert noch nicht fehlerfrei. Wir konnten im Dauertest zahlreiche Fehler und viele »Bomben« ausmachen, die einer sinnvollen Arbeit mit dem Programm entgegenstellen. Dazu gehört etwa, daß beim Editieren manchmal mehrere Wörter vornehmlich an Absatzenden verschwinden. Schließlich mußten wir feststellen, daß die Fußnotenverwaltung nicht korrekt ihren Zweck erfüllt. Mehrere Fußnoten auf einer Seite bewirken eine Streckung des Textes nach unten: Die letzten Fußno- ten und die Seitenziffer erscheinen auf der Folgeseite. Auch der Absatzschutz und der potentielle Seitenumbruch versagten ihren Dienst gänzlich. Diese und einige andere Programmfehler müssen schnell behoben werden.
Kleiner Fehler am Rande: die letzte Zeile rückt nur wortweise noch
Schwerwiegender sind jedoch konzeptuelle Mängel, die bei uns im Testlabor auf Unverständnis stießen. Bei einem ganzen Megabyte freiem Speicher im Atari ST bleiben unter Wordperfect lediglich 120 KByte für den Text - vorausgesetzt Sie verzichten auf Accessories. Das sind etwa 60 bis 70 Seiten. Wenn der Text gar länger als 80 KByte ist, verweigert das Programm den Ausdruck des geladenen Textes. Erst mit dem abgespeicherten Dokument und der Funktion »von der Diskette drucken« läßt sich Wordperfect zur Herausgabe des Textes bewegen. Dieser Kritikpunkt ist insofern gravierend, als der automatische Aufbau eines Inhalts- und Stichwortverzeichnisses nur dann funktioniert, wenn der gesamte Text im Speicher steht. Warum Wordperfect nicht den gesamten Speicher des STs nutzt, konnten wir nicht ermitteln.
Sehr irritierend fiel zudem die langsame Arbeitsgeschwindigkeit auf. Selbst auf einem PC der kleinsten Ausbaustufe haben wir den Eindruck, daß Wordperfect dort schneller läuft.
Nun versieht im ST ein Prozessor seinen Dienst, der für Geschwindigkeitsrekorde immer wieder zu haben ist. Wordperfect macht aber offenbar keinen Gebrauch vom Potential dieser Hardware. Das Editieren, Suchen und Ersetzen und Bewegen im Text verläuft im Schneckentempo. Bei längeren Texten geht die Arbeitsgeschwindigkeit auf ein Minimum zurück.
Unser Fazit: Wordperfect auf dem Atari ST wäre eine tolle Sache. Was derzeit auf den Markt geworfen wird, ist jedoch noch weit davon entfernt, dem Namen der Firma Ehre zu machen.
Andererseits glauben wir nicht, daß die Firma Wordperfect ihr Image durch eine unbrauchbare Version für den Atari ST gefährden würde. Dafür haben die Leute aus South Oren in Utah schlechtweg zu viel Ehrgeiz, wirklich perfekt zu sein. Wie der Name schon sagt.
Wordperfect GmbH, Frankfurter Str. 33-35, 6236 Eschborn, Tel. 06196/481722