1st Word plus: Auch Gutes ist noch zu verbessern

Schwierigkeiten mit 1st Word plus, die zum Teil erst bei intensiver Arbeit auftreten

Aus guten Gründen ist »1st Word plus« das meistverkaufte Textprogramm für den Atari ST. Studenten, Diplomanden und andere Vielschreiber haben die Vorzüge des GEM-Programms schätzen gelernt: schnelle Einarbeitung, sinnvoller Funktionsumfang und logische Bedienungsführung. Dennoch gibt es auch bei einem guten Programm noch vieles, was sich verbessern ließe.

Zunächst das Handbuch. 1st Word plus ist ein Programm, das alle Fähigkeiten moderner Textverarbeitung bietet, dementsprechend groß ist der Funktionsvorrat. 69 Seiten Handbuch sind schlichtweg zu wenig, zumal, wenn die Anleitung schlecht gegliedert und unvollständig ist. Da fehlt zum Beispiel der Hinweis, daß man in Kombination von Shift- und Cursortaste alle vier Ecken des Bildschirms erreicht. Unerwähnt bleibt die Funktion, ein markiertes Blockende durch einen Doppelklick neu festzulegen. Auch wird nicht aufgeführt, daß die Einstellung im Accessory »Control.ACC« in letzter Instanz über eine Pause zwischen zwei Seiten für Einzelblätter entscheidet — unabhängig vom Eintrag in der Druckeranpassung. Viele Funktionen sind zu kurz abgehandelt. Es fehlen Beispiele für absolute Anfänger, besonders bei den Abschnitten zur Druckeranpassung, die für viele Neulinge eine scheinbar unüberwindbare Hürde darstellt.

Die Geschwindigkeit von 1st Word plus ist für kleinere Abhandlungen sicherlich ausreichend. Schwierig wird es, wenn der Text wächst. Scheinbar endlos dauert es, bis das Programm eine größere Textdatei geladen hat. Vor allem »Speichern & weiter«, die notwendige Sicherheitskopie zwischendurch, ist eine höchst unangenehme Prozedur bei Texten, die etwa 20 Seiten und mehr umfassen. Die Ursache allen Übels liegt in der Laderoutine. Im Gegensatz zu anderen Programmen, die einen ganzen Sektor auf einmal von der Diskette holen, liest 1st Word plus jeden Text Byte für Byte ein, um ihn noch beim Laden zu formatieren. Das dauert unter Umständen sehr lange. Im direkten Vergleich mit »Steve« ist 1st Word plus bei den Diskettenoperationen ungefähr 10mal langsamer. Ähnliches gilt für die meisten Editorfunktionen. Das Suchen und Ersetzen, das Springen im Text und das Neuformatieren sollten endlich durch eine Assembler-Routine beschleunigt werden.

Die Trennbreite ist fest vorgegeben

Die Trennhilfe ist sicherlich nicht nur für Donaudampfschiffahrtskapitäne von Interesse. Der deutsche Algorithmus funktioniert mit großer Zuverlässigkeit, und man könnte vor Freude bis zu den Backenzähnen strahlen, wenn da nicht ein kleiner Fehler im Programm steckte: 1st Word plus trennt keine Wörter, die mit dem Anführungszeichen (") oder den Einschließungszeichen (» und «) markiert wurden. Da man außerdem das weiche Trennungszeichen nicht per Hand eingeben kann, muß 1st Word plus trickreich überlistet werden: Zunächst trennt man den Text ohne die oben genannten Zeichen und dann fügt man diese nachträglich ein. Ein weiterer Kritikpunkt an der Trennhilfe sei nicht verschwiegen: Der Algorithmus verfügt über eine fest eingestellte Trennbreite, die nicht zu verändern ist, das heißt, ab einem bestimmten Grenzwert erfolgt ein Trennvorschlag. Für Zeitungsdrucker, die mit schmalen Spalten arbeiten, ist der Grenzwert zu hoch vorgegeben. Wie wäre es denn mit einem Menü, in dem man die Trennbreite — je nach Textgattung — individuell einstellen kann?

Ein neues Lexikonkonzept für die Rechtschreibkorrektur wurde inzwischen in der aktuellen Version 2.02 implementiert. Sie enthält einen Online-Spelling-Checker, der bei jedem falschen Wort einen dezenten Piepston von sich gibt, weist aber dafür einige gravierende Nachteile gegenüber der Version 1.89 auf. So kann man sein mühsam zusammengestelltes altes Lexikon nicht mehr weiter verwenden. Sie haben richtig gelesen, das neue (umfangreichere) Wörterbuch ist nicht kompatibel zu demjenigen der alten Version. Außerdem liefert das Laden des Lexikons allemal einen guten Grund für die Kaffeepause. Denn bis zu 5 Minuten dauert die ganze Prozedur schon.

Verlags- und Zeitschriftenautoren haben mit 1st Word plus besondere Schwierigkeiten. Für ihre Erfordernisse ist es in der Regel unabdingbar, die Fußnoten an das Ende eines Textes zu befördern. Für den eigenen Bedarf sollen die Fußnoten oft am Seitenende stehen, — die meisten Verlage und Redaktionen bestehen jedoch darauf, einen Text mit Endnoten in die Hand zu bekommen. Leider sieht 1st Word plus die Umwandlung von Fußnoten in Endnoten nicht vor. Schließlich wird immer wieder kritisiert, daß die vorhandene Fußnotenverwaltung umständlich zu handhaben sei. Man möchte beispielsweise bei der Eingabe eines Fußnotentextes schnell mal wissen, was in der vorherigen und in der folgenden Anmerkung steht. Praktisch wäre es, wenn man im Fußnotenfenster zwischen den einzelnen Anmerkungen vor- und zurückblättern könnte.

Schließlich gibt es bei der Fußnotenverwaltung einen Fehler im Programm, der zwar nur sehr selten, dann aber mit fatalen Folgen auftaucht. Es ist das Problem der »zerstückelten Dateien«. Nach Berichten von Anwendern und eigenen Erfahrungen konnten wir feststellen, daß bei längeren Texten (100 KByte und mehr) mit vielen Fußnoten folgendes Problem auftaucht:

Die Fußnoten sind teilweise »tot«, das heißt, man sieht zwar die hochgestellte Anmerkungsziffer, aber dahinter verbirgt sich keine Fußnote mehr. Der Doppelklick auf die Ziffer bleibt wirkungslos.

Hier gibt es nichts mehr zu retten. 1st Word plus hat eine Datei regelrecht »zerstückelt« und damit unbrauchbar gemacht.

Teilweise verschieben sich die Fußnotenziffern in den Text hinein an eine neue Stelle und löschen dabei einzelne Buchstaben im Haupttext.

Im schlimmsten Fall passiert es, daß ein ganzes Dokument bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt wird (Bild). Geisterzeichen tauchen auf und Buchstaben beziehungsweise Worte werden im ganzen Text wahllos gelöscht.

Das eigentlich Fatale an der ganzen Sache ist, daß man während der Textbearbeitung zunächst nichts bemerkt. Erst wenn das Dokument wieder im Speicher steht, sieht man, was passiert ist. Und dann ist es schon zu spät.

Atari und GST wissen Bescheid

Oftmals ist die Arbeit von Wochen dahin. Einige Anwender berichteten uns, gerade vor dringenden Abgabeterminen (Staatsexamen, Diplomarbeit) sei dieses Problem aufgetaucht. Eine Jurastudentin meinte gar, sie sei in dem Moment, als sie den Schaden entdeckte, »10 Jahre älter geworden«.

Was hat es mit dem Phänomen auf sich? Wir haben direkt bei Atari in Raunheim nachgefragt. Eine erste schriftliche Anfrage im November 1987 wurde lapidar beantwortet: Wahrscheinlich läge die Fehlerursache darin, daß die Anwender »unsauber« programmierte Accessories verwendet hätten. Inzwischen sind wir jedoch auf Fälle gestoßen, bei denen die Benutzer nachweislich ohne Accessories beziehungsweise nur mit dem »Control«-Accessory gearbeitet hatten. Ein längeres Telefongespräch (Februar 1988) brachte folgende Auskunft: Atari kennt das Problem, hat aber Schwierigkeiten, im eigenen Hause den Fehler nachzuvollziehen. Einige Anwender haben deshalb bereits »zerstückelte« Dateien an Ataris Zentrale geschickt. Gleiches gilt für GST. Die englischen Programmierer von 1st Word plus wissen ebenfalls Bescheid, aber auch nicht mehr.

1st Word plus ist seit Februar 1987 auf dem Markt. Seitdem hat es mit Ausnahme des neuen Korrekturkonzepts keine grundlegenden Neuerungen am Programm selbst gegeben. Erste Gerüchte über »zerstückelte« Dateien waren bereits im Sommer letzten Jahres zu hören. Viele Anwender fragen zu Recht, ob 1st Word plus überhaupt noch weiterentwickelt wird. Atari teilte dazu mit, es werde auch in Zukunft noch einige Verbesserungen geben. Beispielsweise wird daran gedacht, auch das Ausdrucken mit anderthalbfachem Zeilenabstand einzubauen. Mehr war aus der aktuellen Gerüchteküche vorerst nicht zu vernehmen.

Es wird in jedem Fall noch einige Zeit dauern, bis 1st Word plus tatsächlich fehlerfrei ist. Was ist bis dahin zu tun?

Sie sollten von allen wichtigen und längeren Texten regelmäßig Sicherheitskopien auf einer zweiten Diskette an fertigen.

Es empfiehlt sich, umfangreichere Texte zunächst in kleine Teile aufzuteilen (jeweils nicht länger als 100 KByte) und diese erst am Schluß für den endgültigen Ausdruck zusammenzufügen. Sie müssen dann unbedingt den gesamten Text neu formatieren, weil die Fußnotennumerierung der angehängten Teile automatisch geändert wird.

Machen Sie keine Backups mit »Speichern & weiter«. Sie sehen sonst nicht, ob sich im Text bereits merkwürdige Veränderungen vollzogen haben.

Schließlich sollten Sie sich für »Ihr« Textprogramm engagieren. Schreiben Sie an Atari oder GST, machen Sie Verbesserungsvorschläge und reichen Sie Ihre Ideen ein. Denn nur durch Wünsche und Ideen der Anwender läßt sich ein gutes Programm noch verbessern.

(Michael Spehr/Ulrich Hofner)

Anschriften:

GST Holdings Ltd.
91 High Street Longstanton Cambridge England

Atari Corp. Deutschland GmbH
Frankfurter Straße 89-91 6096 Raunheim



Aus: ST-Magazin 05 / 1988, Seite 52

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