Die GEM-Benutzeroberfläche des ST hält sich durch ihr erweiterbares Desktop alle Türen offen, den wechselnden Bedürfnissen der Anwender zu entsprechen. Bis zu sechs eigenständige Programme lassen sich nach Wunsch in der Menüleiste des Desktops ergänzen. Doch nicht jedes Programm kommt in Frage...
Als Atari vor drei Jahren den Sprung ins kalte Wasser wagte und als erster Computerhersteller die von Digital Research entwickelte grafische Benutzeroberfläche GEM (Graphics Environment Manager) übernahm, war die Basis für die einfache Bedienung von Jack Tramiels jüngstem Kind geschaffen.
Die vereinfachte Bedienung hat allerdings einen entscheidenden Nachteil: Sie ist so einfach, daß die Funktionalität des Computers darunter leidet. Außer dem Öffnen von Fenstern, dem Wechsel von einem Ordner zum anderen und dem Anklicken einzelner Dateien bleibt dem Anwender kaum etwas, das er ohne Hilfe weiterer Programme mit dem Computer tun kann.
Bis auf eine Handvoll Befehle, die im Desktop-Menü untergebracht sind, fehlt jeglicher Zugriff auf die Systemfunktionen. Was sich in kommandoorientierten Betriebssystemen mit ihrem festen Befehlsvorrat zwar umständlich, aber immerhin überhaupt erreichen läßt, bleibt dem GEM-Anwender zunächst verschlossen. Nur mit dem GEM kann er beispielsweise weder auf die eingebaute Uhr noch auf die Speicherverwaltung des STs zugreifen.
Den Entwicklern des GEM bei Digital Research war natürlich bewußt, daß die Bedienungsfreundlichkeit an einer zu simplen Funktionsauswahl leidet: Niemand findet auf Dauer Gefallen an einer Benutzeroberfläche, bei der er schon für elementare Funktionen ein weiteres Programm laden muß. Sie wählten deshalb einen Kompromiß, der es jedem Anwender gestattet, die Funktionspalette des Desktop den individuellen Bedürfnissen anzupassen. Das Zauberwort für diesen Zweck heißt »Accessory«.
Bei jedem Bootvorgang (Einschalten oder Reset) lädt der ST automatisch alle Programme mit der Endung »ACC« in seinen Speicher, die sich auf der Diskette oder Festplatte befinden. So entlastet er den Anwender vom manuellen Aufruf der Accessories, die immer in GEM eingebunden sind.
GEM unterstützt bis zu sechs Accessories gleichzeitig, eine größere Anzahl auf Diskette ignoriert der ST. Er lädt auch nur so viele Accessories in den Speicher, daß mindestens noch 128 KByte als Arbeitsspeicher frei bleiben.
Accessory wird wörtlich mit »Zubehör« übersetzt, was ihre Funktion treffend beschreibt. Accessories sind oft benötigte Hilfsprogramme, die ständig in der Desktop-Menüleiste verfügbar sind. Da sie auch aus laufenden Programmen heraus per Mausklick aktiviert werden, erreichen Accessories eine große Flexibilität. Es gibt zwei Gruppen von Accessories: Sie teilen sich in systembezogene und anwendungsorientierte Hilfsprogramme.
Der Urvater aller systembezogenen Accessories auf dem ST ist das »Control-Panel«, das mit jedem ST ausgeliefert wird. Erst mit diesem Kontrollfeld beeinflußt der Anwender die jeweiligen Voreinstellungen, wie die Farben, das Datum, die Uhrzeit, die Mausgeschwindigkeit und andere Parameter. Da sich Accessories in der Menüleiste des Desktop befinden, läßt sich das Kontrollfeld zum Beispiel während der Arbeit mit einem Malprogramm aufrufen, um die Farbpalette zu verändern.
Da Accessories in der Regel kurz und somit relativ schnell zu programmieren sind, wuchs die Palette der verfügbaren Programme seit dem Erscheinen des ST schnell. Viele dieser Programme entstammen dem Public Domain-Bereich. Ständig angezeigte Digitaluhren, kleine Programme, die bei Benutzungspausen den Bildschirm schützend abschalten und RAM-Floppies gehörten zu den ersten Accessories von Drittherstellern. Ein paar Monate später gesellten sich in die Runde der System-Accessories »resetfeste« RAM-Disks, deren Inhalt auch nach einem Systemreset erhalten bleibt. Mit der Zeit wurden die kleinen Hilfsprogramme immer trickreicher: Formatierungsprogramme, die bis zu 200 KByte mehr Speicherplatz aus einer Diskette herausholen, wurden ebenso angeboten wie Accessories, die einen Speicher- und Diskettenmonitor in sich vereinigen. Mit Spoolern lassen sich parallel zur Arbeit am Computer Texte ausdrucken. Auch die progressive Maussteuerung verbessert den Bedienungskomfort wesentlich.
Anwendungsorientierte Accessories zielen darauf ab, das normale Bürozubehör überflüssig zu machen.
Der Anfang war mit einfachen Taschenrechnern gemacht, die sich per Mausklick auf den Monitor zaubern ließen. Schon früh erwies sich das »Snapshot-Accessory der Textverarbeitung »1st Word« als das geeignete Mittel, beliebige Bildschirminhalte auf Diskette zu kopieren und in anderen Programmen weiterzubearbeiten. Kalender und Adreßverwaltungen ließen auch nicht lange auf sich warten. Die große Anzahl einzelner Accessories löste dann aber einen neuen Trend aus: Da die sechs verfügbaren Menüeinträge oft nicht ausreichen, wurden Accessories angeboten, die mehrere Funktionen in sich vereinigen. Diese Multi-Accessories sind prinzipiell nach demselben Strickmuster entworfen: Terminkalender, Taschenrechner, Notizblock und eine Uhr gehören zur Grundausstattung.
Die Euphorie der Anwender hält sich bei den Multi-Accessories aber auch heute noch in Grenzen. Im Gegensatz zu den durchschnittlichen 20 KByte Speicherbedarf schlucken einige der Multi-Accessories, wie zum Beispiel Side-Click, über 100 KByte des wertvollen Speichers. Mehrere solche Accessories und eine installierte RAM-Disk bringen dann auch Speicher-Protzer wie den ST leicht in Bedrängnis. Zudem dauert das Booten des Computers von Diskette bei mehreren großen Accessories nervtötend lange.
Unabhängig von den Funktionen eines Accessories ist die Einbindung in die GEM-Benutzeroberfläche Vorbedingung, um aus einem Programm ein Accessory zu machen. Ein Accessory unterscheidet sich durch ein normales GEM-Programm nur darin, daß der Source-Code nach dem Compilieren anders gelinkt wird.
Nach der Initialisierung des ST folgt die Initialisierung der grafischen Benutzeroberfläche GEM. Sie macht mit einem Anteil von etwa 60 Prozent den größten Brocken des ST-Betriebssystem TOS (Tramiel Operating System) aus.
Die von GEM bereitgestellten Grafik- und Windowroutinen sind in zwei große Bibliotheken aufgeteilt. Elementare Grafikfunktionen, die das Zeichnen von Linien und Kreisen übernehmen, sind im VDI (Virtual Device Interface), der unabhängigen Geräteschnittstelle untergebracht. Der Programmierer muß sich dank des VDIs nicht darum kümmern, ob die Grafikausgabe seines Programmes auf dem Bildschirm, dem Plotter oder auf eine Diskettendatei erfolgt.
Die zweite GEM-Bibliothek trägt den Namen AES (Application Environment Services). Die AES-Bibliothek enthält Routinen, die den VDI-Routinen übergeordnet sind. Das AES ist zum Beispiel für die Pull-Down Menüs und die Window-Verwaltung verantwortlich und greift dabei auf die elementaren Grafikfunktionen des VDI-Moduls zurück. Das VDI sorgt also für einen direkten Kontakt zur Hardware, das AES übernimmt die gesamte Kommunikation mit dem Anwender.
Eine weitere Aufgabe des AES ist die Verwaltung der Accessories.
Obwohl GEM eigentlich kein Multitasking von Anwenderprogrammen unterstützt, also nur ein Programm zur gleichen Zeit ausführen kann, enthält die AES-Bibliothek ein Modul, das alle gleichzeitig laufenden Systemprozesse koordiniert. Der sogenannte Dispatcher ist der Kern dieses versteckten Multitasking. Neben der Bildschirmverwaltung koordiniert der Dispatcher das Hauptprogramm und bis zu sechs einzelnen Accessories. Die Accessories sind in die Taskverwaltung des Dispatchers eingebunden, da sie zu jedem Zeitpunkt und unabhängig vom gerade laufenden Hauptprogramm erreichbar sein sollen. Im Gegensatz zum Hauptprogramm laufen die Accessories aber im Hintergrund. Ihnen wird nur Rechenzeit eingeräumt, wenn sie vom Anwender durch Anklicken aktiviert werden. Digital Research bezeichnet diesen Ablauf als »begrenztes Multitasking«, da der Dispatcher nicht in der Lage ist, laufende Programme zu unterbrechen.
Der Anwender muß sich glücklicherweise nicht um die komplizierte Organisation des GEM und die Einbindung der Accessories kümmern. Nur »unsauber« programmierte Accessories, die sich im Ablauf nicht mit anderen Accessories vertragen, führen vereinzelt zu Problemen. Derartige Hilfsprogramme bilden aber glücklicherweise die Ausnahme. (Tarik Ahmja)