High auf Atari: Marijuana Mail im Praxistest

Eine Alternative zu Marijuana Mail ist für STinG- bzw. STiK-Anwender MyMail von Erik Hall. Das Programm bietet fast alle Funktionen, die man in der PC-Welt vom Outlook Express her kennt und wird ambitioniert weiterentwickelt. Nicht allzu gelungen ist jedoch die GEM-Im-plementierung.

Zu bekifft zum Mailen?

Haben die Entwickler des E-Mail-Clients Marijuana Mail vielleicht zuviel geraucht? Sollte der Tester vielleicht vorsorglich auch lieber einen Joint ziehen? Ungewöhnliche Fragen für einen Software-Test.

Der Atari ist besonders in Verbindung mit dem Internet-Stack STiNG bzw. STiK mit einer Vielzahl von Internet-Programmen gesegnet. Für nahezu alle Anwendungen, sei es das Web-Surfen, der Chat via IRC oder ICQ oder gar die Wettervorhersage gibt es eigene Programme. Etwas stiefmütterlich wurde hingegen bisher der Bereich der E-Mail-Clients mit Nachschub versorgt. MyMail hält sich (trotz eines enormen Funktionsumfangs) nicht an alle GEM-Standards und schleicht besonders auf 68000er-Maschinen vor sich hin, aMail erweist sich bei vielen Anwendern als buggy und ambitionierte Projekte wie Infitra wurden leider eingestellt. So manch ein STinG-Benutzer mag etwas neidisch auf den iConnect-Standard schauen, gibt es hier doch mit dem ASH EMailer eine sehr gelungene, wenn auch kommerzielle und nur unter Multitasking-Systemen nutzbare, Anwendung.

Ein in deutschen Landen noch relativ unbekannter Ansatz kommt aus Polen. Marijuana Mail liegt derzeit in der Version 0.1.67 vor. Das Programm erhebt ebenfalls nicht den Anspruch, mit dem EMailer zu konkurrieren - ganz im Gegenteil: Das Programm wurde bewusst schlank gehalten, sodass auch Low-End-Anwender ihren Atari für das Schreiben und Empfangen elektronischer Nachrichten nutzen können. Das ausführbare Programm umfasst in der aktuellen Version lediglich knapp 167 KBytes, was auch einen Betrieb auf einem Atari 1040 ST, der nur mit einem Diskettenlaufwerk ausgerüstet ist, ermöglichen sollte.

Ebenso langmütig präsentiert sich Marijuna Mail in der Auswahl seines Betriebssystems: In unserem Test lief das Programm problemlos unter TOS 2.06, TOS 4.x und MagiC 6.1. Laut Angaben des Entwicklers wird sogar ein Atari mit TOS 1.0 unterstützt - ein Programm für Minimalisten also. Die einzige Empfehlung, die der polnische ausspricht, ist ein installiertes NVDI-System, ansonsten können Programmfenster nicht bewegt werden.

Eine recht ausführliche englischsprachige Dokumentation liegt im reinen ASCH-Format vor. Eine Online-Hilfe im ST-Guide-Format ist derzeit nicht vorgesehen.

Installation

Minimalismus muss sich nicht auf den Funktionsumfang und einen gewissen Komfort auswirken - Atari-Entwickler haben sich schließlich schon immer hervorragend darauf verstanden, viel Leistung in erstaunlich kleine Codes zu stecken. Die erste Überraschung erwartet den Anwender bei der Installation des Programms. Marijuana Mail verlangt nicht etwa ein Hangeln durch verschiedene Setup-Fenster, sondern kommt komplett mit einem eigenen Installationsprogramm daher. Dass dieses optisch nicht gerade ein Schmuckstück ist, wird besonders Betreiber von Schwarzweiß-Auflösungen (wenn wir schon von Minimalisten sprechen, dann auch richtig) nicht weiter stören. Jedenfalls dient es zur übersichtlichen Eingabe der für einen E-Mail-Verkehr wichtigen Server- und Benutzerdaten. Etwas störend ist aber doch, dass das Installationsprogramm den gesamten Bildschirm benutzt, eine Unterbringung in einem eigenen GEM-Fenster wäre bei allem Minimalismus wohl nicht zu viel verlangt.

Übrigens können verschiedene Anwenderprofile erstellt und später per Aufklappmenü ausgewählt werden - durchaus nicht alltäglich in Atari-Mailern.

Das Programm

Der etwas ambivalente optische Eindruck des Installers wird durch das Hauptprogramm zum Glück nicht bestätigt. Marijuana Mail präsentiert sich mit einer GEM-Oberfläche, die (unter MagiC) recht modern und vor allem aufgeräumt wird. Der größte Anzeigebereich gehört den vorhandenen E-Mails, darüber ermöglicht eine Piktogrammleiste die Navigation innerhalb des Programms. Unterhalb des dargestellten Postfachs wird angezeigt, wie viele neue Nachrichten enthalten und wie wie viele davon bisher ungelesen sind. Diese Statusleiste dient aber noch einem anderen Zweck: Fährt der Anwender über die dargestellten Piktogramme, so wird er hier ihre Funktion informiert. Über den Nachrichtenstatus gibt auch eine weitere Iconleiste am linken Rand des Hauptfensters mit jeweils geöffneten und geschlossenen Briefumschlägen Auskunft.

Da Marijuana Mail wie erwähnt recht gut die GEM-Oberfläche des Atari nutzt, ist es wenig verständlich, warum das Arbeitsfenster nicht in seiner Größe veränderbar ist. Zwar platziert sich das Fenster je nach Bildschirmauflösung recht intelligent auf dem Desktop, sodass der Anwender immer einen angenehm großen Bereich des angewählten Postfachs sieht, der Resizer wird jedoch vergeblich gesucht. Hier sollte nachgearbeitet werden, was besonders Benutzer von hohen Auflösungen mit Grafikerweiterungen sicherlich sehr freuen würde.

Voreinstellungen

Der Installer hat ganze Arbeit geleistet: Der Anwender muss in keinen Voreinstellungs-Fenstern weitere Einstellungen vornehmen, um Server-lnformationen oder ähnliches nachzutragen. Allerdings werden diese Daten auch nirgends wieder aufgeführt, der Anwender muss also nochmals die Installationsroutine aufrufen, wenn er zum Beispiel den Provider wechselt. Eine mögliche Editierung der Daten innerhalb der Voreinstellungen wäre zumindest in diesem Fall etwas eleganter. Auch die einmal eigegebene Signatur kann scheinbar nicht nachträglich editiert werden.

Ansonsten weiß die Funktion zur Begrenzung des möglichen E-Mail-Umfangs zu gefallen. Riesige Anhänge können so intelligent vermieden werden, was Benutzern kleiner ST-Systeme sicher entgegen kommt. Mit Platzhaltern kann eine einleitende Antwortzeile voreingestellt werden. Viele Optionen gibt es hier zwar nicht (genauer gesagt nur zwei), aber immerhin...

Zwei Faktoren fallen allerdings als Ärgernis auf: Der modale Voreinstellungsdialog (im Gegensatz zu anderen Programmfenstern) blockiert das Multitasking. Außerdem ist er nicht verschiebbar, es sei denn, die Systemerweiterung "Let'em fly" ist geladen.

Die Nutzung einer aktuelleren GEM-Library wäre hier wohl angebrachter. Weiterhin ist es recht problematisch, dass kein eigener Pfad für ein E-Mail-Verzeich-nis abgelegt werden kann. Ist die Partition, auf der Marijuana Mail installiert ist, zu kleine für ankommende Nachrichten, wird eine Fehlermeldung ausgegeben. Dies ist sicherlich dem Konzept zu "verdanken", dass das Programm auch von einer einzelnen Diskette zu betreiben bleiben soll. Die zusätzliche Pfadeinstellung hätte jedoch niemandem wehgetan.

Schreiben von Nachrichten

E-Mail-Nachrichten werden in einem programmeigenen Editor verfasst. Marijuana Mail sieht derzeit leider nicht die Voreinstellung eines externen Texteditors wie Luna oder qed vor. Der vorgegebene Editor ermöglicht lediglich die simple Texteingabe, Blockfunktionen etc. sind nicht vorhanden, allerdings können Texte aus dem GEM-Clipboard übernommen werden. Die Empfängeradresse kann auf Wunsch aus einem einfachen Adressbuch ausgewählt werden, bei dessen Aufruf es unter MagiC jedoch einen kompletten Systemabsturz zu verzeichnen galt.

E-Mails können bisher anscheinend nur im US-ASCII-Format entworfen werden. Der ISO-8859-1-Standard ist zwar auswählbar, produziert aber Müll bei den Umlauten. Deutsche Umlaute können daher bisher nicht eingegeben werden.

Senden und Empfangen

Eine geschriebene Nachricht wird im Outgoing-Verzeichnis abgelegt und kann mit dem entsprechenden Piktogramm verschickt werden. Über die GEM-Oberfläche werden Nachrichten auch schnell vom Server abgerufen. Über den Sendestatus gibt jeweils ein Fortschrittsbalken Auskunft. Etwas merkwürdig ist dabei, dass Marijuana beim Öffnen neuer Fenster (also zum Beispiel zum Senden) immer das Hauptfenster komplett schließt. Warum öffnet sich das neue Fenster nicht einfach über dem Arbeitsfenster? Aber sei's drum: Die Dialoge für das Senden und Empfangen sind optisch durchaus sehr ansprechend.

Minimalismus macht sich auch in der Frage der Anhänge breit: Diese können einer Nachricht schlicht und einfach nicht hinzugefügt werden. Beim Empfangen werden Anhänge, die größer als 200 KBytes sind, nicht dekodiert - immerhin würde dies wahrscheinlich den Umfang einer Diskette sprengen. Der Anwender müsste hier theoretisch also ein Zusatz-Tool wie ESS-Code benutzen. Aber diese Frage erübrigte sich in unserem Test sowieso: War eine Mail größer als 99 KBytes, stürzte Marijuana Mail scheinbar zugekifft mit Bytes ab. Ist eine Mail übrigens größer als der in den Voreinstellungen festgelegte Wert, fragt das Programm vor dem Abholen nochmals nach.

Eingegangene Nachrichten werden nach einem Doppelklick in einem eigenen Anzeigefenster dargestellt. Hier finden sich hinter einigen Piktogrammen auch Funktionen zum Antworten, Weiterleiten, Ausdrucken uns Speichern von Mails. Außerdem kann direkt aus dem Anzeigefenster die nächste Nachricht angesprungen werden. Zwei zusätzliche Icons sorgen für unerwarteten Komfort: Angzeigt werden können die Organisation und der E-Mail-Client des Absenders.

Wer übrigens versteckte Funktionen beim Senden und Empfangen von Nachrichten nutzen möchte, der sollte sich etwas eindringlicher mit der Dokumentation befassen. Diese enthält nämlich einige Tastaturkommandos, die etwas mehr Optionen - so zum Beispiel das Belassen von Nachrichten auf dem Server auch nach dem Abholen oder das Markieren von E-Mails - bieten. Die Menüleiste bleibt hingegen spärlich.

Fazit

Dürften Amish-Leute einen Atari benutzen, würde ich ihnen einen 1040 ST mit Diskettenstation und Marijuana Mail als E-Mail-Client empfehlen - wahrscheinlich würde das Programm allerdings schon wegen seines anstößigen Namens durchfallen. Marijuana Mail empfiehlt sich für Atari-Anwender, die in erster Linie ein einfach zu bedienendes Werkzeug suchen, um hin und wieder eine E-Mail zu verfassen. Trotz einiger Highlights und einem größtenteil netten optischen Eindrucks bleiben die Funktionen extrem rudimentär, was ja auch schließlich das Programmkonzept erst ausmacht. Potenzial für eine Weiterentwicklung auch für größere Atari-Systeme bietet die Applikation auf jeden Fall - schade, dass sie nicht Open Source ist.

Andere, ambitioniertere Anwender greifen trotz aller optischen Nachteile lieber zu MyMail, falls der Internet-Stack STiK oder STinG heißen soll.

[1] http://marijuana.atari.org


Thomas Raukamp
Aus: ST-Computer 03 / 2003, Seite 48

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