MIDI-Anwendungen haben den Atari einst groß gemacht. Und immer noch arbeiten viele Musiker mit dem Atari. In den Niederlanden wird derzeit eine neue Sequenzer-Software für diese große Anwenderschar entwickelt. Wir durften exklusiv einen ersten Blick riskieren.
Es ist in der Tat etwas paradox: In den 80er und frühen 90er Jahren war der Markt der MIDI-Sequenzer auf dem Atari heiß umkämpft, um nicht zu sagen: überflutet. Zu den professionellen Lösungen Notator (bzw. Logic) und Cubase gesellten sich unzählige kleinere Ansätze, und auch der Share- und Freewaremarkt konnte einige interessante Programme für Hobbymusiker bieten. Aber gerade das Hauptanwendungsgebiet für Atari-Computer, nämlich die Erzeugung von Musik via MIDI, wurde in den letzten knapp zehn Jahren sträflich vernachlässigt. Mit dem Abwandern von Logic und Cubase Audio auf PC und Mac schien auch die Motivation der meisten Entwickler alternativer Lösungen gewichen zu sein - gerade so, als ob über Nacht alle Musiker den Atari verlassen hatten. Man stelle sich vor, DTP- und Textverarbeitungsprogramme wären vom Atari gewichen, nur weil Calamus und papyrus auch auf dem PC laufen...
Die Realität sieht anders aus: Gerade Hobbymusiker schätzen den Atari immer noch als einfach zu bedienenden und zuverlässigen Musikcomputer. Und ein ST ist noch in mehr professionellen Studios zu finden, als so mancher Anwender glauben mag. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Ähnlich wie ein Synthesizer bootet der Atari schnell, braucht zum Betreiben der MIDI-Schnittstelle keine zusätzlichen Treiber, und auch beim Live-Einsatz kann sich der Musiker auf seinen Computer verlassen.
Der Markt der Sequenzer-Software lässt sich dabei durchaus mit dem der Textverarbeitungen vergleichen: Zwar sind in beiden Märkten die Programme kontinuierlich erweitert worden, viele der neuen Funktionen sind für Hobby-Anwender aber gar nicht interessant. Und so verwundert es nicht, dass viele Musiker immer noch ihren Notator oder ihr Cubase schätzen, die teilweise schon über zehn Jahre auf dem Buckel haben - die benötigten Funktionen zum professionellen Sequencing sind auch hier in Hülle und Fülle vorhanden, genauso wie ein gut aussehender Brief auch ohne weiteres auf einer zehn Jahre alten Textverarbeitung geschrieben werden kann.
Trotzdem wünschen sich auch Atari-Anwender eine Sequenzer-Software, die heutige Hardware besser ausnutzt und optisch ansprechender aussieht, als die reinen Schwarzweiß-Programme á la Notator. Eine komplette Neuentwicklung kommt aus den Niederlanden: Guido Goebertus, Entwickler des analogen Sequenzer-Simulators AEX (siehe Test der aktuellen Version 2 in dieser Ausgabe) arbeitet derzeit an dem MIDI-Programm "Easy Sequenzer". Für ein exklusives Preview überließ er uns eine erste interne Betaversion seiner Software.
Ein Projekt mit Geschichte. Bei dem Namen "Easy Sequenzer" horchen jetzt vielleicht einige Anwender auf, die schon mit dem guten, alten "Brotkasten" gearbeitet haben: Das Projekt wurde nämlich vor über zehn Jahren für den C64 entwickelt. Doch lassen wir Guido selbst zu Wort kommen: «Die Atari-Version ist eigentlich die zweite Inkarnation des Easy Sequenzer. Das Programm wurde vor über zehn Jahren komplett in 6502-Assembler für den Commodore 64 entwickelt. 1994 "verstarb" dann mein C64, also beschloss ich, auf den Atari STE mit Cubase zu wechseln. Obwohl ich noch heute ein Cubase-Fan bin, habe ich immer schon gedacht, dass das Programm in Sachen Flexibilität, Kompositions-Geschwindigkeit und Benutzerfreundlichkeit nicht ausgereift ist. Ich hörte mir dann irgendwann ein Tonband mit einigen meiner eigenen alten Kompositionen an, die mit dem Easy Sequencer produziert wurden, und ich war selbst erstaunt, wie gut diese Stücke klangen. Ich erinnere mich daran, dass die meisten dieser Songs in nur wenigen Stunden, statt in Tagen oder gar Wochen, geschrieben wurden. Ich entschloss mich, das Programm komplett neu zu schreiben - doch diesmal für meinen Lieblings-Musikcomputer, den Atari. Außerdem sollten eine Menge neuer Funktionen hinzukommen.
Easy Sequencer steckt wie erwähnt noch in den Kinderschuhen. Das derzeitige Konzept sieht so aus, dass das Programm 16 monophone Spuren bietet, die frei einem MIDI-Kanal zugeordnet werden können. Dies ist auf den ersten Blick etwas enttäuschend, denn es ist nicht ganz nachzuvollziehen, warum der niederländische Entwickler komplett auf die Polyphonie heutiger MIDI-Geräte verzichtet. Jeder der 16 Kanäle spielt also eine Note zur Zeit ab, polyphone Akkorde werden demnach nicht unterstützt. Dies entspricht heute wieder beliebter werdenden Vintage-Synthesizern wie dem Minimoog. Wer Akkorde innerhalb von Easy Sequencer erzeugen will, muss dafür mehrere Spuren benutzen. Dieser Retro-Ansatz mag ja für viele Musiker etwas Besonderes sein, trotzdem ist der Verzicht auf Polyphonie mehr als schade und es steht zu hoffen, dass der Entwickler diese künstliche Einschränkung im fertigen Programm fallen lässt.
Doch auch hier soll der Entwickler persönlich zu Wort kommen: «Die Anwendung von Monophonie ist keine Limitierung, das sieht nur auf den ersten Blick so aus.», erzählt Guido. «Wenn man darüber nachdenkt, ist sie im musikalischen Sinn sogar sehr logisch. Der Anwender kann immer noch 16 Stimmen gleichzeitig erzeugen, was eine ganze Menge ist. Die Polyphonie einer Rockband beträgt 11, vielleicht 12 Stimmen - sechs für die Gitarre, eine oder zwei für den Bass, vier für den Schlagzeuger. Die Idee hinter dem Easy Sequenzer ist in erster Linie Übersichtlichkeit. Meiner Ansicht nach müssen die gesamten musikalischen Daten in einem Fenster zu finden sein - Spuren, Parts, Song- und Programmeinstellungen. Dies ist ein sehr hoher Anspruch, gleichzeitig müssen die dargestellten Daten so einfach wie möglich zu erfassen sein. Ich entschied mich also für den vorliegenden Ansatz, und zu meiner eigenen Überraschung funktioniert er hervorragend. Schon mit der C64-Version des Easy Sequencer habe ich jede Art von Musik, von Jazz bis Rock, gemacht. Sogar Musik für ein Ballett habe ich geschrieben, die sehr orchestral war. Mir gingen aber nie die Spuren aus.
Die kleinste musikalische Struktur des Easy Sequencer wird als Sequenz bezeichnet. Eine Sequenz besteht aus 16 monophonen Spuren. Jede Spur kann bis zu 32 Noten aufnehmen, was zum Beispiel komplexe Rhythmus-Muster zulässt. Die Sequenzen werden in sogenannte "Parts" arrangiert. Jeder der 99 Parts kann bis zu 16 Sequenzen aufnehmen. Dem Anwender stehen also insgesamt 1584 Sequenzen zur Verfügung. Innerhalb eines Songs können bisher jedoch nur 48 Parts benutzt werden.
Anders als Lösungen wie Cubase oder auch Sweet Sixteen gibt es im Easy Sequencer keine zusätzlichen Editoren-Fenster. Alle Funktionen werden innerhalb eines Arbeitsbildschirms bearbeitet, was die Benutzerfreundlichkeit erhöhen soll. Der Anwender hat also stets alle Funktionen im Blick.
Wer den analogen Sequenzer AEX auf dem Falcon mag, wird den Easy Sequencer lieben: In einem ähnlichen Chrome-Design präsentiert sich die überaus übersichtliche Benutzeroberfläche - vorausgesetzt, das Programm läuft auf einem Atari Falcon mit 256 Farben. Auch Auflösungen mit 2 oder 16 Farben werden unterstützt - dann sieht das Ganze natürlich nicht so gut aus. 640 x 400 oder 640 x 480 Bildpunkte sind aber zwingend notwendig, eine Grafikkarten-Unterstützung scheint nicht vorgesehen.
Das Konzept der Bedienung ist ähnlich wie beim analogen Sequenzer AEX: Die wichtigsten Bedienungselemente sind in stets sichtbaren, eigenen Fenstern untergebracht. Die Bedienung erfolgt (jedenfalls bisher) komplett per Tastatur, und da auch AEX keine Mausunterstützung bietet, steht zu befürchten, dass auch beim Easy Sequencer darauf verzichtet wird. Auch hier gilt zu hoffen, dass der Entwickler noch nacharbeitet für die Endversion. Wer AEX mittlerweile in- und auswendig kennt, wird keine Probleme mit dem neuen Programm haben, da die Tastaturbelegung identisch ist.
Jeder einzelnen Spur bzw. MIDI-Kanal können ähnlich wie bei AEX verschiedene Kontrolldaten in Echtzeit zugewiesen werden. Dazu gehören Lautstärke-, Panorama-, Chorus und Transponier-Daten. Ein integrierter Effektprozessor bietet bis 127 Effekte, aus denen der Anwender auswählen kann, um in Echtzeit das Ausgangsmaterial zu beeinflussen.
Die Noten und MIDI-Kontrolldaten können direkt im Programm selbst eingegeben werden. Es muss also kein externes MIDI-Keyboard zum Einspielen vorhanden sein. Theoretisch kann der Anwender also mit einem Atari und einem Expander arbeiten. Außerdem werden externen MIDI-Clocks unterstützt.
Der Easy Sequencer kann seine Verwandtschaft mit AEX nicht verheimlichen. Daten aus dem analogen Sequenzer-Simulator lassen sich direkt importieren und weiterverarbeiten. Beim Export liegt ein Filter für das SMF-Format vor.
Selten hat mich ein Programm mit so gemischten Gefühlen zurückgelassen wie die erste Betaversion des Easy Sequencer für den Atari. Auf der einen Seite überzeugt die moderne optische und übersichtliche Gestaltung, auf der anderen Seite sind die gewollten Limitierungen (Monophonie, Tastaturbedienung, keine Grafikkartenunterstützung) schwer nachzuvollziehen. In der endgültigen Version muss sich erweisen, ob der Easy Sequencer eine neue Alternative besonders für Falcon-Benutzer darstellt (nur diese können bisher die übersichtliche Oberfläche auch in ihrer ganzen farbigen Pracht bewundern) oder "nur" eine Retro-Spielerei á la AEX wird. Eigentlich warten Atari-Fans schon lange auf eine echte, zeitgemäße und optisch ansprechende Alternative zu Systemen wie Creator und Cubase, auch wenn diese nicht ganz den professionellen Leistungsstand der Klassiker erreichen müsste...
http://members.chello.nl/g.goebertus/
Wir danken in diesem Zusammenhang Guido Goebertus für die Überlassung einer ersten Betaversion des Easy Sequencer. Bedenken Sie: Eine Vorschau ist noch kein Test und soll lediglich einen ersten Einblick in das Programm gewähren. Bis zur finalen Version kann sich also noch eine Menge ändern.