ColdFire-Talk II - Neue Chance für den Markt?

Im Sommer vermeldete Fredi Achwanden, der bisherige Chefentwickler des ColdFire-,,Atari", dass es ihm derzeit aus persönlichen Gründen nicht weiter möglich ist, an der Realisation eines neuen Atari-Nachfolgers zu arbeiten. Während einige Atari-Anwender wieder einmal die Flinte ins Korn warfen, bemühte sich das ColdFire-Team um Alternativen, damit das ehrgeizige Projekt weitergeführt werden konnte. In Atari-Kreisen wurde Rodolphe Czuba, Entwickler von Erweiterungskarten wie der Centurbo 060, immer wieder als heißester Aspirant gehandelt. Hilfe kam jetzt aus unerwarteter Richtung: Die Firma Wilhelm Mikroelektronik, seit Jahren nicht mehr im Atari-Markt tätig, bot die Fortführung des Projekts auf einem bereits vorhandenen Board-Design. Noch im Oktober will man sich mit dem ColdFire-Team treffen, um Einzelheiten zu besprechen.

Thomas Raukamp unterhielt sich mit Jörg Wilhelm, Geschäftsführer der Wilhelm Mikroelektronik GmbH.

Herr Wilhelm, Ihr Interesse an der Realisierung eines Atari-Clones kam ja aus heiterem Himmel. Vielen Atari-Anwendern wird der Name „ Wilhelm Elektronik""noch bekannt Vorkommen. Stellen Sie uns Ihr Unternehmen doch bitte kurz vor.

Die Wilhelm Mikroelektronik GmbH existiert seit 1987 und ist spezialisiert auf Komponenten für Netzwerkanbindungen. Für diese Entwicklungen werden zurzeit 35 Mitarbeiter beschäftigt.

Welche Verbindungen haben oder hatten Sie zum Atari-Markt?

Bis 1994 wurden Scanner, LC-Displays, Grafikkarten und Grafiksoftware für den Atari-Markt hergestellt. Damals waren noch 10000er-Stückzahlen im Atari-Markt möglich. Die Produktnamen Charly, Charly Image und Spektrum werden Atari Fans aus dieser Zeit bestimmt bekannt sein.

Wie sind Sie damals eigentlich zum Atari gekommen?

Unser erstes Produkt war ein LC-Dis-play, das sich für die Projektion mit einem Tageslichtprojektor im Schulbetrieb eignete. Bei seiner Vorstellung war der Atari ST der leistungsfähigste bezahlbare Computer mit grafischer Bedienoberfläche.

Was schätzen Sie besonders am Atari-System?

Stabil laufende intelligente Software, die wenig Speicherplatz benötigt und trotzdem eine sehr hohe Leistungsfähigkeit besitzt, fasziniert mich. Die Atari-Plattform war dafür bekannt.

Einstmals Hersteller der Charly-Scanner für den Atari ST: Jörg Wilhelm, Geschäftsführer von Wilhelm Mikroelektronik.

Wie kam nun die Verbindung zum ColdFire-Team zustande?

Eigentlich eher zufällig. Ich habe nach Informationen gesucht und bin auf eine Atari-Seite mit Hinweisen auf das Projekt gestoßen. Da wir zurzeit an einer Hardwareplatform arbeiten, die auch für die Atari-Welt geeignet erscheint, habe ich Kontakt aufgenommen. Wir prüfen zurzeit, welche Möglichkeiten der Realisierung in Frage kommen.

Was zeichnet Ihrer Ansicht nach den ColdFire-Prozessor für einen Einsatz im Atari-System aus? Wie kompatibel ist der ColdFire wirklich zur 68k-Linie?

Ein Großteil der 68k-Befehle kann direkt ausgeführt werden, für die anderen gibt es direkt von Motorola eine Bibliothek. Der Registeraufbau ist auch weitgehend identisch. Hintergrund der ColdFire-Entwicklung war ja immer, Kompatibilität zu gewährleisten und trotzdem Stromverbrauch und Systemkosten zu reduzieren.

Wäre eine Emulation durch ein schnelles PowerPC-System nicht vorzuziehen? Immerhin müssen doch auch beim ColdFire viele Dinge, zum Beispiel die MMU, emuliert werden...

Ich denke, dass eine Emulation der MMU (Speichermanagment) aufgrund der Konstruktion nicht erforderlich ist. Zukünftige ColdFire Prozessoren besitzen ohnehin eine integrierte, leistungsfähige MMU. Auch in der Gesamt-Systemleistung erwarte ich eine sehr hohe Leistung. Ganz nebenbei kommt das System ganz ohne Lüfter aus.

Ein erster Schaltplan des ColdFire-Systems - streng genommen ein System von PCI- und ACP-Slots

Das hört sich gut an. Welcher ColdFire-Prozessor käme Ihrer Ansicht nach derzeit für einen Einsatz in einem Atari-System in Frage?

Wir haben den MCF5407 für das aktuelle System vorgesehen. Er wird durch ein miniServe-Board unterstützt.

Welche Rechenleistung ist somit möglich?

Der Prozessor bietet eine Leistung von 316 MIPS. Mit Coprozessor liegt die Gesamtleistung bei ca. 540 MIPS.

Können schon Aussagen über Schnittstellen (USB, PCI etc.) getroffen oder angedeutet werden?

Vorausgesetzt, dass wir uns im Oktober für die Fertigung entscheiden, wird das System über USB 1.1, 32-Bit PCI Bus, Ethernet 10/100, Audio-Synthesizer und Echtfarbgrafik bei 1280 x 1024 Bildpunkten bereits in der Grundversion verfügen.

Müsste so ein Board neu entwickelt werden oder steht es Ihnen bereits zur Verfügung?

Wir müssten nur ein vorhandenes Design auf die mechanischen Anforderungen anpassen.

Das ColdFire-Board von Medusa Systems sollte nicht unter EUR 1500 - erhältlich sein. Kann man schon Preisangaben zu einem möglichen Board machen?

Für den Vorverkauf des Basissystemboards wird der Preis bei EUR 696.-inkl. Mehrwertsteuer liegen. EUR 999.-für ein Gesamtsystem mit Festplatte, Gehäuse, Maus, Tastatur etc. sehe ich als psychologische Grenze. »

Über einen Veröffentlichungstermin zu reden, ist sicher zu früh, oder?

Da hängt vieles von der Software ab. Wir könnten Entwicklersysteme zum Jahreswechsel bereitstellen. Im Oktober werden wir eine detailierte Zeitplanung festlegen.

Erst einmal muss ja Einigkeit geschaffen werden. Wie soll es erst einmal weitergehen?

Bevor hier irgendwie weitergehend geplant wird, möchte ich das ACP-Tref-fen Anfang Oktober abwarten.

Wird sich Ihr Unternehmen auch an der Software-Entwicklung bzw. an der Anpassung des Betriebssystems beteiligen?

Zurzeit gibt es bei uns fast keine freien Kapazitäten in der Software-Entwicklung. Aber natürlich werden wir erfolgreiche Systeme zukünftig entsprechend unterstützen wollen.

Im Atari-Markt lassen sich derzeit keine Gewinne mehr erzielen. Hand aufs Herz: Was ist für Ihr Unternehmen die Motivation zur Unterstützung der Atari-Anwender?

Ja, da bin ich bestimmt realistisch. Wir werden das Projekt nur bei ausreichendem Interesse (also mindestens 100 Systeme) realisieren. Unsere Hoffnung liegt dabei weniger im Gewinn als in der Verbreitung von Informationen über unsere miniServe-Plattform, die auch Bestandteil des Atari-Systems sein wird.

Gleichzeitig denke ich aber, dass für Atari-Systeme durchaus ein Markt in der Zukunft existiert. Eine bezahlbare Platform wird der erste Schritt dahin sein.

Vielen Dank für die ersten Informationen.

Ich bedanke mich für Ihr Interesse und werde Sie über jede Neuigkeit auf dem Laufenden halten.

Wilhelm Mikroelektronik GmbH, Süggelstr. 31, D-44532 Lünen wilhelm.de


Thomas Raukamp
Aus: ST-Computer 10 / 2002, Seite 20

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