Direct: Neues Gesicht für den Atari

Nachdem es um die bisherigen Paradepferde Thing! und jinnee etwas leiser geworden ist, kündigt sich aus Frankreich ein neuer Desktop an: Direct. Wir durften einen ersten exklusiven Blick wagen.

Der Standard-Desktop des Atari konnte seine Anwender nur kurze Zeit begeistern. Zwar kamen auch Anfänger schnell mit dem System zurecht, allerdings wünschten sich ambitioniertere ST-Besitzer schon schnell eine komfortablere Benutzeroberfläche für Dateioperationen. Hinzu kam, das Entwickler anderer Systeme scheinbar mehr Augenmerk auf die Oberfläche legten. So konnte der Finder des Macintosh den GEM-Desktop des Atari schon bald überholen. Auch die sich seit Anfang der 90er immer weiter verbreitenden Windows-Oberflächen konnten mit Desktops glänzen, denen Atari von Haus aus nicht genug entgegen zu stellen hatte. Etwas besser wurde die Situation erst mit der Einführung des Atari TT und des Mega STE, die viele Möglichkeiten boten, die vorher den Desktop des Mac Vorbehalten waren.

Direct gewährt dem Anwender einen Eindruck, wie eine Hintergrund auf dem Monitor aussehen wird - in diesem Fall positiv dem Beispiel Windows folgend.

So verwundert es nicht besonders, dass die Atari-Entwickler schon zu ST-Zeiten leistungsfähigere Varianten von Desktop-Systemen programmierten und anboten. Bis in die 90er Jahre hinein dominierte hier wohl GEMini den Schirm. Auf kleinen Atari-Systemen ist dieser Desktop immer noch relativ häufig anzufinden, bietet er doch immer noch eine Vielzahl komfortabler Funktionen. Bis heute legendär ist die Eingabe-Shell von Gemini, die Mupfel. Diese ermöglichte eine Navigation auf Verzeichnisebene ähnlich DOS-Systemen -nur weitaus besser. Dabei war die Mupfel in ein GEM-Fenster verpackt.

Ab Mitte der 90er Jahre entdeckten dann auch kommerzielle Anbieter die Lücke im Markt und boten eigene Oberflächen an. Application Systems stattete das erfolgreiche Multitasking-Betriebssystem kurzerhand mit einem eigenem Desktop an, der später mit der anfänglichen Alternative Ease verschmolz. Als „Edel"-Desktop brachten die Heidelberger dann jinnee heraus, das sich bis heute die Spitzenposition zumindest unter MagiC-Anwendern erstreiten konnte. Obwohl das letzte Update von jinnee mittlerweile schon wieder zwei Jahre zurückliegt, enthält der Desktop immer noch viele Leistungen, die ihn sogar über andere Betriebssysteme herausheben.

MiNT-Betreiber schwören meist auf den ebenso komfortablen Desktop Thing!. Beschleunigt wurde dessen Verbreitung auch dadurch, dass Thing! unter dem Betriebssystem N.AES als Standard-Desktop angeboten wird. Da auch der Milan mit vorinstalliertem N.AES läuft, konnte sich das Programm weiter durchsetzen.

Zwar können sowohl jinnee als auch Thing! weiterhin als Vorzeigeobjekte dienen, leider fand in den letzten zwei Jahren praktisch keine Weiterentwicklung der beiden alternativen Benutzeroberflächen statt. Auch für die Zukunft scheint hier nicht viel zu erwarten sein, da zumindest ASH sich immer weiter aus dem Atari-Markt zurückzieht und höchsten noch rudimentäre Programmpflege betreibt. Umso erfreulicher ist die Nachricht, dass in Frankreich ein Shareware-Produkt entsteht, das sogar schon weiter fortgeschritten ist: Direct heißt der neue Desktop, der neue Akzente setzen will. Entwickelt wird er von niemand geringerem als Eric Reboux, der in der Atari-Welt bereits einen klangvollen Namen hat, ist er doch für so moderne Applikationen wie das Suchwerkzeug Find It (1) und das Oberflächen-System Xgem (2) verantwortlich.

Stand der Dinge

Direct ist noch kein fertiges Produkt. Sie können das Programm also noch nicht herunterladen, auch eine öffentliche Demo existiert noch nicht. Ebenso wenig ist bisher der volle Funktionsumfang erreicht worden. Trotzdem stellte uns Eric Reboux eine erste Programmversion bereit, damit Sie sich einen ersten Einblick machen können, was Sie von Direct zu erwarten haben.

Mit Direct schließt der französische Entwickler praktisch den Kreis, den er mit Xgem begonnen hat. Das elegante Oberflächensystem sind ebenso wie Find It streng genommen einzelne Bestandteile des Direct-Systems - in der Musikwelt würde man vielleicht von „Vorab-Single-Veröffentlichungen" sprechen. Natürlich lassen sich beide Applikationen auch unabhängig von dem neuen Desktop heraus nutzen. In erster Linie dienen sie aber dem Ziel, als Teil von Direct eine elegante Desktop-Lösung anzubieten. Hinzu kommt, das durch den Verkauf der Shareware dem Autor die Entwicklung von Direct etwas schmackhafter gemacht wird. Außerdem behält er so die Übersicht über die Bedürfnisse des Markts und kann sein Produkt noch enger an die Wünsche seiner Anwender anlehnen.

Direct führt eine ganze Menge Neuerungen ein. Dazu gehören neue Piktogramme und eine neue systemtransparente Oberfläche. So erhält der Atari ein ganz eigens, aktuelles Aussehen.

Installation

Es ist damit zu rechnen, dass Direct wie andere Programm von Eric Reboux in seiner öffentlichen Version per Installations-Tool auf die Festplatte kopiert wird. Bisher besteht das Archiv aus dem Hauptprogramm und dem Systemordner, in dem sich Piktogramme und Einstellungsdateien befinden. Damit möglichst schnell weitere Icons für den Desktop entstehen, liegt dem Archiv außerdem das Programm „Iconmaker" bei, das die Entwicklung beschleunigen soll. Unter MagiCMac bekamen wir das Tool jedoch nicht zum Laufen. Anscheinend setzt Direct auf ein eigenes Piktogramm-Format (*.icd). Es wäre schön, wenn öffentliche Versionen auf Standard-Ressource-Dateien zurückgreifen könnten, damit z.B. jinnee-Benutzer ihre favorisierten Icons weiterverwenden können.

Der Start erfolgt wie gewohnt per Doppelklick auf das Programm-Icon. Direct läuft problemlos auch neben anderen Desktops. Der Wechsel zwischen jinnee und Direct per Applikations-Leiste machte keinen Ärger. Da sich Direct noch in einer frühen Version befindet, macht eine Installation als Standard-Desktop z.B. unter MagiC aber noch keinen Sinn.

Der erste Eindruck

Wer schon vorher Xgem für das Aussehen der GEM-Fenster installiert hatte, wird den bereits gewohnten Look der Fenster vorfinden. Wer Xgem nicht kennt (wir benutzen es seit einigen Monaten auf einer Vielzahl unserer Screenshots), muss sich etwas umgewöhnen: Statt des üblichen Designs der Fenster zeigt sich jetzt ein Metall- (seit Apples G4-Book sagt man „Titanium"-) Look. Dieser kann jedoch verändert werden - doch dazu später mehr. Die Fenstertitel werden in einem farbigen Balken dargestellt. Dieses Xgem-Design ist elegant und dazu geeignet, dem Atari-System einen neuen modernen, eleganten und trotzdem unaufdringlichen Look zu geben.

Der zweite positive Eindruck entsteht beim Blick in ein Verzeichnisfenster. Eric Reboux hat bereits eine Vielzahl eleganter Piktogramme gepixelt. Die Programm- und Datei-Icons sind dabei etwas an den eleganten realistischen Stil der Piktogramme des aktuellen Amiga-Betriebssystems angelehnt, obwohl sie beim Anklicken (noch?) nicht glühen, sondern gewohnt invers dargestellt werden. Sicher ist die Auswahl an Pikto-grammen noch nicht komplett, vermittelt aber einen ersten Blick in die Richtung, in die es weitergehen soll - und dieser Blick stimmt nicht unzufrieden!

Die Darstellungsmodi in den Fenstern werden über ein stets gegenwärtiges Aufklappmenü eingestellt.

Fensterln

Nachdem die grafischen Eindrücke verarbeitet sind, schauen wir uns weiter in dem GEM-Fenstern um. Am unteren Rand wird der angezeigt, wieviel MBytes auf der gegenwärtig dargestellten Partition die Objekte belegen und wieviel Platz auf dem Laufwerk noch angeboten wird.

Vorbildlich ist eine Pfadleiste, die im oberen linken Teil eines Verzeichnisfensters dargestellt wird. Hier wird der angezeigte Pfad mittels einzelner Buttons verdeutlicht. Klickt der Anwender auf den aktuellen Eintrag, lässt ein Aufklapp-Menü die gezielte Navigation innerhalb des Pfades zu. Dies ist bisher nur bei Dateiauswahlboxen möglich und vereinfacht die Navigation erheblich.

Daneben wartet eine weitere Button-Leiste auf den Anwender. Ein Knopf ermöglicht das Minimieren des Fensters auf den Inhalt. Dieser verschiebt sich übrigens schon jetzt dynamisch mit den Größenveränderungen des Fensters. Daneben befindet sich ein Knopf, der ein praktisches Popup-Menü beherbergt. Dies dient zur Einstellung der Anzeige. Neben den üblichen Sortierarten lässt sich hier auch die Größe der Piktogramme einstellen. Der Anwender kann ähnlich wie beim Finder des Mac OS auf kleine und große Icons zurückgreifen - besonders auf kleinen Bildschirmen wird so mehr Inhalt darstellbar. Die fensterbezogenen Funktionen direkt im Fenster zu verankern, macht sicherlich Sinn. Schon nach kurzer Zeit denkt man gar nicht mehr daran, in den Menüs danach zu suchen.

Einstellungen

Ein weiteres Highlight, das bisher realisiert worden ist, ist die Summe der Einstellungsmöglichkeiten. Besonders auf die Optik wurde hier das erste Augenmerk gelegt.

Wie bereits erwähnt, findet sich die volle Funktionalität des Xgem-Pakets in Direct wieder. Bereitgestellt werden aber zusätzliche Designs. Ganz neu ist z.B. ein X-Look, der die Oberfläche im aktuellen Stil des neuen Apple-Betriebssystems erscheinen lässt, der sich ja auch unter einigen Atari-Programmierern immer weiter durchsetzt. Die Veränderungen im Design werden sofort dargestellt, ein vorheriges Sichern oder gar Neustarten entfällt.

Direct bietet ähnlich wie der Mac-Finder die Darstellung mit großen Icons und die praktische Listendarstellung.

Ebenso überzeugend ist die Umsetzung der Voreinstellungen für den Bildschirm-Hintergrund. Ausgewählte Muster und Dateien werden zur Vorschau in einer kleinen Monitor-Grafik als Thumbnail dargestellt, ganz so kennt man dies von Windows. Auswählbar sind IMG-Dateien, die auch unter Thing und jinnee Verwendung finden. Da viele Bildschirm-Hintergründe heute im Internet als |PEG-Grafiken angeboten werden, wäre eine Erweiterung der Ladefilter aber wünschenswert. Sowieso muss der Entwickler noch etwas nacharbeiten. Nach einem Neustart des Desktops wird die ausgewählte Hintergrundgrafik verzerrt dargestellt, nur eine erneute Auswahl schafft hier Abhilfe - verzeihliche Kinderkrankheiten.

Gelungen ist auch das Einstellungsfenster für die Zuordnung von Datei-Endungen zu den entsprechenden Programmen, die in einer übersichtlichen Liste verwaltet wird. In diesem Punkt ist die Umsetzung gelungener als z.B. unter jinnee. Mit wenigen Mausklicks ist Liste erweiterbar, sodass auf Doppelklick auf einen Extender das zugehörige Programm automatisch startet. Hinzukommen soll noch eine Druckerverwaltung (Einbindung von NVDI?) uvm. Bisher sind die entsprechenden Karteireiter jedoch noch nicht anwählbar und lassen somit nur einen theoretischen Blick in die Zukunft zu.

Mit wenigen Mausklicks ist das Aussehen des Systems verändert
Standard-Applikationen werden in einem übersichtlichen Listenfenster eingestellt.

In den Spracheinstellungen stehen bisher englische und französische Lokalisierungen bereit. Eine deutsche Version von Direct sollte nach der ersten öffentlichen Präsentation nicht lange auf sich warten lassen.

Problemchen

Unter unserem MagiC-Mac-System auf einem Power Macintosh C4/400 hatten wir noch einige Abstürze zu vermelden - angesichts des frühen Entwicklungsstands von Direct keine wirkliche Überraschung. So crashte der Info-Dialog regelmäßig. Die Suchen-/Finden-Funktion war noch nicht belegt - hier wird wie erwähnt das sehr komfortable Find It integriert. Auch die Funktion zum Anlegen neuer Ordner und Dateien riss Direct bisher ins Nirvana - nun ja, es ist halt Version 0.38.

Erstes Fazit

Natürlich kann Direct im Funktionsumfang noch nicht mit jinnee und Thing! mithalten, trotzdem offenbart es frische Ideen, die viel Lust auf mehr machen. Besonders zu gefallen weiß das elegante Design und die komfortable und durchdachte Navigation in den Verzeichnisse. Auch die bisher realisierten Voreinstellungen lassen sehnsüchtig auf eine offizielle Vorstellung schielen. Schon jetzt wünscht man sich z.B. die Background-Auswahl herbei, wenn man wieder auf den „alten" Desktop wechselt.

Trotzdem muss der Entwickler noch von Konzepten abgehen, die die Preview-Version verraten. In erster Linie sei hier die Nutzung von modalen Dialogen genannt, die an einigen wenigen Stellen vorhanden sind und angesichts des modernen Ansatzes von Direct für etwas Ärger beim Benutzer sorgen. Da verbessert auch die Tatsache, dass die modalen Dialoge im schönen Titanium-Look funkeln, nichts mehr - sie gehören schnellstens in die Mottenkiste!

Alles in allem ist die erste interne Vorstellung von Direct gelungen. Wird konsequent am aktuellen Konzept weitergestrickt, so bietet sich das Programm als neuer Standard auf dem neuen TOS des ColdFire-Rechners geradezu an.

Direct soll im Laufe dieses Jahres erscheinen.

Eric Reboux Software, 99, Avenue de la Mitre, F83000 Toulon, France ers.free.fr/indexe.html


Thomas Raukamp
Aus: ST-Computer 05 / 2002, Seite 44

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