Stateside-Report: Wo gemeckert wird, ist Leben

In unregelmäßigen Abständen berichtet Bengy Collins, Betreiber des beliebten Online-Angebots MagiC Online von Entwicklungen, Meinungen und Gedanken rund um den amerikanischen Atari-Markt.

Die meisten Atari-Anwender in Nordamerika sind zurzeit nicht gerade glücklich. Sie können die Software, die sie benötigen, nirgends kaufen, sie können die aktuellen USB- Geräte nicht nutzen und sie verbringen die Großteil ihrer Zeit damit, den Rest der Industrie einzuholen.

Die meisten Macintosh-Anwender Nordamerikas sind zurzeit nicht gerade glücklich. Das "Cutting Edge"-Betriebs-system ist - zumindest für die meisten Leute - unbrauchbar. Die wichtige GHz-Grenze ist immer noch nicht erreicht. Und immer noch haben ihre Mäuse nur eine Taste.

Die meisten Windows-Anwender Nordamerikas sind zurzeit nicht gerade glücklich. Sie sind sauer, weil ihr hoch gelobtes neues Betriebssystem Windows XP registriert werden muss, damit es funktioniert. Ihnen wird also jede Entscheidung, ob sie sich bei Microsoft registrieren lassen möchten oder nicht, verwehrt. Wenn Sie sich in Zukunft nicht innerhalb von 30 Tagen nach der Installation registrieren lassen, wird Ihr Computer ganz schlicht und einfach nicht hochfahren.

Die meisten Computeranwender Nordamerikas machen sich also zurzeit Sorgen. In diesen Zeiten, wo Diskussionen über Computertechnologie genauso viel Aufmerksamkeit erregen wie politische oder moralische Fragen, scheint das Recht, uns über alles, jeden und jedes zu beschweren und darauf herumzuhacken, unweigerlich zu uns zu gehören. Es wird geradezu erwartet, dass wir mit dem, was wir haben, nicht zufrieden sind, immer zukünftige Technologie herbeizusehnen und das Potenzial der gegenwärtigen Systeme zu missachten. Atari-Anwender sind in dieser Hinsicht ganz besonders üble Exemplare, aber der Rest der Industrie ist nicht viel besser. Es gibt eigentlich nur einen einzigen Weg, diese schädliche Praxis zu unterbinden: jeder professionelle und produktive Einsatz einer Plattform muss unterbunden werden. Sie muss vielmehr in jeder Hinsicht zu einem Hobby-System werden. Hobby-Systeme. Die Atari 8 Bit-Produktlinie und die Linux-Plattform sind in dieser Hinsicht geradezu ideale Vorbilder. Ersteres startete als professionelle Plattform und verbringt jetzt sein Leben in die Tiefen der Hobby-Welt, während letzteres gerade ihrer Hobby-Status verlässt um den Mainstream-Markt zu erobern. Die 8 Bit-Linie von Atari entwickelt sich dabei ganz erstaunlich. Verschieden Hardware-Hacks, wie z.B. selbst gebastelte Speicher- und 16 Bit-Upgrades, werden derzeit angeboten, und es ist verdammt schwer jemanden zu finden, der sich ernsthaft über sein System beschwert - das ist einfach nicht notwendig. Die Anwender hängen nicht von ihrem System ab, um ihr Einkommen zu erlangen, und die meisten arbeiten nicht einmal jeden Tag damit - obwohl ich gerade über ein Krankenhaus gelesen habe, das immer noch auf die 8-Bitter von Atari setzt.

Linux gewinnt dagegen von Tag zu Tag neue Anwender. Die meisten sind zufrieden, andere nicht. Als Linus » Torvalds, der Erschaffer von Linux, 1991 in der Newsgruppe "comp.os.minix" ankündigte, dass er ein freies Betriebssystem («nur als Hobby, nichts Großes und Professionelles wie gnu») für AT-Clones auf Basis der 386/486-CPU entwickle, hätte er sich nicht träumen lassen, dass es eines Tages von der Mainstream-Industrie angenommen würde. Und jetzt ist genau dies passiert - und Leute beginnen sich zu beschweren. Obwohl Linux-Anwender im Großen und Ganzen weitaus zufriedener mit ihrem Betriebssystem sind als andere Computeranwender, beschweren sich neue Linux-Betreiber oft über die inkonsequente Dokumentation, den Mangel an Treibern und die unzusammenhängende Benutzeroberfläche. Jetzt, wenn Einzelpersonen und sogar große Unternehmen sich Tag für Tag, darauf verlassen müssen, dass Linux Tag für Tag problemlos funktioniert, ist aus der einstmals so sorglosen und ansprechenden Plattform das Ziel zahlreicher Angriffe geworden. Wenn die Frage, ob eine Plattform tot oder lebendig ist, an der Anzahl der Beschwerden entschieden wird, ist der Atari ganz sicher am Leben.

Wo Anwender sind, gibt es Beschwerden. Obwohl es natürlich wahr ist, dass eine wachsende Zahl von ST-Anwendern ihr System nur noch als Hobby ansehen (amerikanische Atari-Anwender eher als europäische), ist es nicht übertrieben zu sagen, dass es immer noch eine Menge Anwender, die in den verschiedensten Bereichen Tag für Tag auf ihren Atari vertrauen - egal, ob sie E-Mails abholen, im Web surfen oder Texte schreiben. Es gibt immer noch Anwender und es gibt immer noch Beschwerden. Der Tag, an dem diese Beschwerden aufhören, ist der Tag, an dem der ST offiziell in den Stand eines Hobby-Systems tritt - und hoffentlich ist dieser Tag noch in weiter Ferne.

Wenn Sie also beim nächsten Mal in ihrer Atari-Newsgruppe oder in ihrem bevorzugten Forum die gewohnten Meckereien und Beschwerden über zu langsame Programme, den hohen Preis von Erweiterungen und den Tod des Systems lesen, seien Sie nicht frustriert. Lächeln Sie einfach nur, benutzen Sie den Antwort-Button und sagen Sie, dass sie sich ruhig weiter beschweren sollen. Was könnten Sie sich sonst noch wünschen?


Bengy Collins
Aus: ST-Computer 09 / 2001, Seite 40

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