Nach dem „schwarzen Oktober": Milan-Talk


Nachdem noch im zur „World Of Alternatives" in Neuss alle Signale in der Atari-Welt auf Grün standen, schockte Anfang Oktober die Nachricht, dass Milan Computersystems die Entwicklung des Milan II auf Eis gelegt hat. Gleichzeitig stellte das Unternehmen neue, ehrgeizige Pläne für das Betriebssystem TOS vor. Thomas Raukamp unterhielt sich mit dem Geschäftsleiter von Milan Computersystems Ali Goukassian und entlockte ihm einige interessante Stellungnahmen.

Gespräch mit Ali Goukassian

st-computer: Ali, als wir im Sommer über Milan gesprochen haben, warst Du zuversichtlich, dass die Atari-Fans noch vor Weihnachten einen neuen Rechner auf dem Schreibtisch haben. In der Zwischenzeit ist einiges passiert und der Milan II ist auf Eis gelegt worden. Erkläre uns doch bitte einmal ausführlich mit Deinen Worten die Ereignisse der letzten Wochen.

Ali Goukassian: Die Ereignisse erstrecken sich mittlerweile sogar auf die letzten Monate. Wir haben turbulente Zeiten bei Milan erlebt. Als wir vergangenen Juni in Neuss den ersten Prototypen des Milan II vorstellen, der auch noch einen ganzen Tag lief, bis er einem Kurzschluss erlag, waren wir guter Dinge. Es galt „nur noch", die Grafik und die SD-Rams auf dem Board zu integrieren. Doch hier stießen wir auf die ersten Probleme und mussten tatsächlich zusätzliches Personal rekrutieren, was eine weitere finanzielle Belastung für das Unternehmen bedeutete. Soweit so gut - wir waren im Zeitplan um sechs Wochen verrutscht und waren guter Dinge, dies durch Straffungen an anderen Ecken und Enden wieder aufholen zu können. Als es dann darum ging, die ersten 50 Exemplare herstellen zu lassen, kam das, womit keiner von uns rechnen konnte: Die Produktion eines wichtigen Logic-Chips ist seitens des Herstellers entgegen seiner Zusagen eingestellt worden. Wir hatten keine Chance, eine Neuauflage speziell für den Milan zu erwirken. Auflagen unterhalb der 50.000er-Grenze waren nicht rentabel, doch der Chip gehört zu den teuersten Bauteilen auf dem Mainboard des Milan. Er wird bereits im Milan I verwendet und ist für die Emulation der nicht existierenden Atari-Original-Bauteile notwendig, um die notwendige Kompatibilität zu schaffen. In diesem Chip steckt fast ein Jahr Arbeit.

Auch der Versuch, ähnliche oder kompatible Alternativen zu finden, ist bis Oktober fehlgeschlagen - leider. Wir haben also von August bis Oktober nichts anderes machen können, als zu versuchen, einen Ausweg zu finden. Neben dem Zeitverlust kommt natürlich eine große Portion Frust hinzu, die unsere Mannschaft zurückgeworfen hat.

stc: Ist die Einschätzung richtig, dass der Milan II an seiner zu langwierigen Entwicklungszeit scheiterte, sodass einige Chips einfach nicht mehr lange genug am Markt waren?

Goukassian: Das ist zumindest teilweise korrekt. So etwas wie den Milan hat es noch nicht gegeben. Unsere Entwickler konnten nicht hier und da abgucken, wie es die PC-Board-Hersteller machen. Darum hat die Entwicklung auch sehr viel Zeit in Anspruch genommen.

Wir hatten allerdings eine feste Zusage, dass die Chips bis Ende 2001 lieferbar sein würden, insofern kann man der Entwicklungszeit nicht die gesamte Schuld in die Schuhe schieben. Was wir jedoch erkannt haben: Wenn man sich nicht auf einem Markt bewegt, auf dem man alle sechs Monate den Absatz für neue Hardware hat, läuft man permanent Gefahr, nicht mehr über Bauteile verfügen zu können, die noch zwölf Monate zuvor problemlos zu beschaffen waren. Dieser Markt ist in den vergangenen fünf Jahren viel schnelllebiger geworden -sehr zum Leidwesen kleinerer Firmen.

stc: Ist das Verschwinden von Chips vom Markt nicht absehbar? Hätte man nicht von Anfang an Alternativen in die Planung mit aufnehmen können?

Goukassian: Dazu muss man Personalreserven ohne Ende haben. Ich denke da an eine Firma wie Siemens. Die haben hier und da die besten Techniker und Entwickler sitzen. Wenn sie nun planen, beispielsweise ein Webpad zu entwickeln, dann rufen Sie schnell die besten 20 Entwickler aus Deutschland und der Schweiz zusammen und geben denen zwölf Monate. Wenn man allerdings - wie in unserem Fall - ohnehin eine zu geringe Personaldecke hat und einem Zeitdruck unterliegt, dann kann man vielleicht Alternativen konzeptionell im Hinterkopf haben, doch diese auch vorzubereiten, ist schier unmöglich.

stc: Auf verschiedenen Messen sahen wir bereits einen Prototypen eines größeren Milan-Boards mit 060-CPU. Wäre das Angebot dieser größeren Variante, die ja augenscheinlich funktionierte, eine Alternative für die Serienproduktion gewesen?

Goukassian: Ich denke nicht. Dieses Mainboard funktionierte sogar prima und verrichtete seinen Dienst, doch fehlten uns SD-RAMs und Grafikchip auf dem Board. Und dummerweise sind die derzeit unterstützten S3-Grafikkarten nicht mehr in einer serientauglichen Auflage verfügbar. Schon jetzt kaufen wir in der gesamten Welt Restposten, um den Bedarf des Milan I zu decken. Bei dem Milan II ging es aber um Start-Stückzahlen im annähernd fünfstelligen Bereich. Und eben die Integration des Grafikchips sollte uns davor schützen, dass wir das Aussterben des PCI-Standards schmerzhaft zu verspüren bekommen.

stc: Wie waren die Reaktionen von Anwendern, Händlern und Entwicklern auf die schließliche Erklärung von Milan, das Projekt einzustellen?

Goukassian: Sehr unterschiedlich. Wir haben ja nicht das Unternehmen oder unsere Vorhaben eingestellt, sondern „nur" das Projekt „Milan II" aus Eis gelegt. Unsere Alternativen, auf die wir später sicherlich noch zu sprechen kommen werden, haben großes Interesse geweckt. Vielfach wurde die Nachricht aber mit verständlicher Enttäuschung aufgenommen, denn - und das hätten wir in diesem Ausmaß nicht erwartet - sehr, sehr viele Anwender bekundeten uns gegenüber, dass sie fest eingeplant hatten, einen Milan II zu Weihnachten auf dem Tisch zu haben. Ich denke aber, dass allenthalben erkannt wurde, worin unser Problem bestand und besteht. Mit der eigenständigen Produktion neuer Hardware werden wir den Industriestandards häufig hinterher hinken. Die Stärke aber liegt im Betriebssystem, und so muss es unser Ziel sein, dieses auf bestehender Hardware zum Laufen zu bekommen, ohne dass ein „großer Bruder" wie Windows oder MacOS darunter läuft.

Ach ja, eine weitere Reaktion gab es noch darauf: Die Bestellmengen für den Milan I und die 060-Prozessor-Upgrade-Karte sind rapide in die Höhe geschnellt.

stc: Hast oder hattest Du Befürchtungen, dass das Scheitern des Milan II dem nur noch kleinen Markt den endgültigen Todesstoß versetzen könnte?

Goukassian: Ich hoffe und denke nicht. Wie gesagt: Der Markt lebt nicht nur von der Hoffnung auf den Milan, sondern auch von bestehender Hardware. Viele Anwender haben ihre aktuellen Ataris aufgerüstet oder eine schnelle Alternativ-Hardware mit Emulation laufen. Mit dem Milan II sollten bestehende Anwender auch wieder zurückgeholt und nicht nur bei der Stange gehalten werden. Und außerdem haben wir ja wirklich interessante Perspektiven vorzuweisen, die allemal das Interesse wecken sollten, dran zu bleiben, um zu schauen, was daraus wird.

stc: Wie würdest Du in diesem Zusammenhang die Arbeit von Milan Computersystems in den letzten Jahren persönlich bewerten?

Goukassian: Ehrliche Aussage? Gute Frage - na klar ehrlich! Wir haben im Zuge des Milan II vorsichtige Schelte ernten müssen. Das kann ich verstehen.



Zwei Designstudien des Milan II - das Projekt eines 060-Atari wurde auf Eis gelegt, jedoch bedeutet dies nicht das Ende der Atari-Entwicklung. Ein TOS mit Linux-Kern verspricht größtmögliche Hardware-Unabhängigkeit.

Doch immerhin haben wir es als eines der wenigen Unternehmen geschafft, eine eigene Hardware samt eigenem und modernisiertem Betriebssystem lauffähig und marktreif herauszugeben. Die Rede ist vom Milan I, der auch auf einen 060-Prozessor aufgerüstet werden kann und somit seine Arbeit verrichtet.

Die Arbeit unserer Techniker ist also wirklich bewundernswert, denn diese haben stets mit Konzept und Perspektive gearbeitet. Es wurde z.B. nicht einfach nur ein TOS 3.06 verwendet, das an allen Ecken und Enden gepatcht werden musste, sondern von Beginn an das aktuelle TOS soweit modifiziert, dass es auch für zukünftige Hardware schnell portierbar ist. Diese Linie setzt sich bis in die Spitzen des Milan-Board-Designs fort. Und insofern muss ich Uwe Schneider, Thomas Göttsch und Michael Schwingen samt aller Helfer wirklich Respekt für das Geschaffene zollen. Wenn man mich darum bitten würde, aus ein paar Chips, Drähten und einem Board ein lauffähiges Atari-System zu machen: Ich stünde wie der Ochs vorm Berg!

«Ich denke, dass allenthalben erkannt wurde, worin unser Problem bestand und besteht. Mit der eigenständigen Produktion neuer Hardware werden wir den Industriestandards häufig hinterher hinken. Die Stärke aber liegt im Betriebssystem, und so muss es unser Ziel sein, dieses auf bestehender Hardware zum Laufen zu bekommen, ohne dass ein „großer Bruder" wie Windows oder Mac OS darunter läuft.»

Ali Goukassian ist Geschäftsführer von Milan Computersystems, Leiter von falkemedia und Chefredakteur der mac-life.

Was die Öffentlichkeitsarbeit und einige weitere Marketing-Strategien betrifft, so hätte man vieles besser machen können. Aber leider, leider ist es immer wieder am nötigen Kleingeld gescheitert. Ich habe das erste und zweite Quartals dieses Jahres - direkt nach meinem Ausscheiden bei der st-computer - dafür verwendet, sogenanntes Venture-Kapital aufzutun. Dieses wird von Beteiligungsgesellschaften für technologisch innovative Unternehmen in Beteiligung an einer Firma zur Verfügung gestellt. Verbunden damit ist beispielsweise der Börsengang, der die Erlöse für die Gesellschaft sichert. Aber in diesem Jahr wollte niemand etwas von Hardware hören. Überall lautete das Zauberwort „Internet" - ob nun Portal oder Versteigerungsbörse. Na gut, wo diese Ambitionen nun geendet sind, sieht und hört man überall, denn viele Firmen stehen kurz vor der Pleite. In den USA widerum hätte man offenere Ohren für unser Projekt gehabt, aber unser Team wollte nicht wirklich auswandern.

Damit zurück zum Geld: Pläne, wie man aus Milan hätte eine richtig große Computerfirma mit einer guten Öffentlichkeits-Präsenz haben wir viele, doch dazu muss einfach noch mehr Kapital zu Verfügung stehen.

stc: Welche Auswirkungen hat das Scheitern des Milan II auf Milan Computersystems? Immerhin sind doch einige hunderttausend Markt an Entwicklungskosten in den Sand gesetzt worden - Kosten für Personal, Marketing und Messen gar nicht mitgerechnet...

Goukassian: Das ist die Krux an der Sache: Sowohl Uwe Schneider als auch meine Wenigkeit haben jeweils im sechsstelligen DM-Bereich Investitionen getätigt. Mitarbeiter wie Thomas Göttsch oder Michael Schwingen haben unendlich viele Stunden Arbeit in das Projekt gesteckt, und insofern ist das aktuelle Ergebnis schon ein wenig ernüchternd bis frustrierend. Doch wir haben weitere Pläne. Und manchmal müssen solche Ereignisse daher passieren, damit man erkennt, wohin der einzig gangbare Weg führt. Ich habe eingesehen, dass wir als Hardwareproduzent immer wieder in eine Sackgasse laufen würden. Wie bereits erwähnt: Als so kleines Unternehmen, das nicht 100.000 Boards im Jahr absetzt, kann man gar nicht up-to-date sein. Also werden wir uns auf unsere Stärke konzentrieren. Das ist unser TOS mit einem MagiC-Aufsatz. Es sieht toll aus, ist funktionell und meiner Ansicht nach für den Heimbedarf noch immer viel schöner und schlanker als ein MacOS oder Windows. Noch immer gibt es kaum eine Firma auf der Welt, der es gelingt, mit nur einem Megabyte soviel Betriebssystem auf die Beine zu stellen.

Wir haben nun widerum ein Konzept, das wir bereits seit November 1999 in den Schubladen hatten, wieder aufgegriffen. Dieses wird es uns ermöglichen, das TOS nativ auf diversen Prozessoren laufen zu lassen (Intel, PPC,...), ohne dass eine Betriebssystem-Basis wie Windows oder MacOS notwendig wären. Es würde also ein normales PC-Board mit einem 1-GHz-Prozessor genügen, um TOS darauf direkt zum Laufen zu bringen. „Vernünftig" programmierte Software wird auch darauf laufen, ohne dass direkte Anpassungen vorgenommen werden müssten. Ferner verhandeln wir mit einem Boardhersteller, der PPC-Boards mit G3-/G4-Prozessoren anbietet, die genau das beinhalten, was der Milan II haben sollte: Grafik und Sound on Board, zusätzlich auch noch eine Netzwerkkarte, SDRAM und Multiprozessor-Fähigkeit. Es scheint wahrscheinlich, dass wir dieses Board bis Mitte 2001 lizenzieren können. Für die kommenden Wochen erwarten wir Prototypen, um testen zu können, in wieweit wir TOS darauf zum Laufen bekommen.

«Wir haben im Zuge des Milan II vorsichtige Schelte ernten müssen. Das kann ich verstehen. Doch immerhin haben wir es als eines der wenigen Unternehmen geschafft, eine eigene Hardware samt eigenem und modernisiertem Betriebssystem lauffähig und marktreif herauszugeben. Die Rede ist vom Milan I, der auch auf einen 060-Prozessor aufgerüstet werden kann und somit seine Arbeit verrichtet.»

stc: Wie hast Du die Erkenntnis vom Scheitern des Milan II persönlich aufgenommen?

Goukassian: Als Schlag in die Magengrube: So viel Zeit, Liebe, Geduld und Geld sollten mit einer Nachricht zunichte gemacht sein. Das war sehr enttäuschend. Gleichzeitig musste ich immer wieder soviel Ruhe nach Außen hin aufbringen, um die Enttäuschung der Mitarbeiter auffangen zu können. Ein kollektives „Firmen-Weinen" wäre nicht angebracht gewesen.

stc: Mit der Erklärung der Einstellung des Milan-060-Projekts legte Milan gleichzeitig die Pläne für einen Neubeginn dar - Du hast ja auch schon Stellung dazu bezogen. Der Eindruck täuscht also nicht, dass die Ausrichtung von Milan nun stärker auf der Software bzw. der Weiterentwicklung des Betriebssystems liegt...

Goukassian: Ich habe das Thema ja eben schon in aller Kürze die Vorteile angesprochen. Wir sind uns sicher: Den Milan I wird es noch geben - wir produzieren auch noch, denn der Logic-Chip ist in gerungen Stückzahlen noch bei uns vorhanden. Aber darüber hinaus wird es von uns keine Hardware mehr geben. Den Spagat, sowohl das Betriebssystem als auch die Hardware zu entwickeln, können wir personell gesehen gar nicht mehr riskieren. Denn so bleibt bei unserer zu geringen Manpower zwangsläufig beides auf der Strecke. Nachdem wir also festgestellt haben, dass wir uns der Hardware nicht mehr widmen wollen und dass das Betriebssystem die Stärke ist, werden wir uns voll darauf konzentrieren.


Der Milan 040 ist nach wie vor lieferbar. Zusammen mit einer 060-Beschleunigerkarte, einer Milan-Blaster Sounderweiterung und einer Hauppauge!-TV-Karte mit Treibersoftware von woller Systeme stellt er nach wie vor ein sehr attraktives und flexibles System dar.

stc: Welche Gedanken liegen dieser Konzeptänderung zugrunde? Bisher hatte Milan klar den Fokus auf der Hardware und hat zur Enttäuschung vieler treuer Atari-Fans nur rudimentäre Veränderungen am TOS vorgenommen, obwohl vor Jahren ein TOS 6.0 angekündigt wurde...

Goukassian: Ich habe schon sehr früh die Meinung vertreten, dass es keinen Sinn macht, optisch und funktionell MagiC ein zweites Mal zu erfinden. Das wäre Zeitverschwendung. MagiC ist absolut anwenderfreundlich, was den Anspruch von Einsteigern und Home-Usern betrifft. Programmierer und Fortgeschrittene mögen hier lieber auf N.AES zurückgreifen. Und seit der Kooperation mit Milan ist MagiCMilan auch gewissermassen portierbar. Der gesamte hardwareabhängige Teil von MagiC, der von dem Entwicklerteam immer wieder programmiert werden musste, wenn eine neue Atari-Hardware heraus kam - man denke an die lange Zeit für die Portierung auf den Falcon - ist nun weg und stützt sich voll auf das Milan TOS. Das Milan TOS wird künftig also eine Kommunikationsschnittstelle zwischen dem Userinterface und der darunter liegenden Hardware darstellen. TOS wird also nicht mehr direkt weiterentwickelt, sondern nur noch in seinen Tiefen modifiziert. Wir setzen Linux im Kernel ein.

stc: Die neuen Pläne scheinen dramatische Veränderungen für das Atari-Betriebssystem mitzubringen. Zum ersten Mal in der Geschichte des TOS ändert man etwas so gravierendes wie den Kernel. Was waren die Gründe, Linux als neuen Kernel einzusetzen?

Goukassian: Und hier kommt der Clou: Immer dann, wenn neue Hardware dem TOS zugrunde liegt (so auch der Milan II), muss der hardwareabhängige Teil neu programmiert werden, was stets Zeit gekostet hat. Doch wenn wir nun auf diverse Hardwareplattformen und Prozessoren zurückgreifen möchten, würde dies bedeuten, dass wir uns die Dokumentationen dieser Geräte zukommen lassen und in wochenlanger Arbeit Treiber modifizieren müssten. Da kam uns die Idee, auf etwas zurückzugreifen, was frei und für nahezu jegliche Hardware verfügbar ist: Linux.

Wir werden, um es einfach auszudrücken, den nur wenige KByte großen Kern des TOS, der zur Kommunikation mit Prozessor, Grafik, Schnittstellen, Festplatten etc. zuständig ist, gegen einen Linux-Kern austauschen. Dieser wird uns widerum gewähren, dass wir immer dann, wenn eine neue Hardware herauskommt (z.B. für Firewire, USB ...), schnellstmöglich Treiber dafür haben werden.

stc: Viele Anwender befürchten nun, dass beim Einsatz von Linux als Kern des TOS eigentlich nicht mehr viel vom eigentlichen Atari-Produkt übrig bleibt. Was erwiderst Du diesen Befürchtungen?

Goukassian: Keine Bange. Es ist schwierig zu vermitteln - und wir werden versuchen, das in Kürze detaillierter auszuführen. Der Kunde bemerkt gar nichts davon, dass der hardwareabhängige Teil aus Linux besteht. Das TOS ist schon jetzt mehrschichtig, und die tiefste Ebene ist der Bereich, der mit der Hardware kommuniziert. Dieser Teil ist bereits jetzt im Milan I etwas ganz anderes, als ursprünglich von Atari entwickelt. Denn auch der Milan I ist etwas ganz anderes als ein ST oder TT. Dass wir also einen Teil des TOS in seinen Tiefen komplett austauschten, haben die Milan-Anwender auch nie zu sehen oder zu spüren bekommen. So wird es auch mit Linux sein. Linux soll uns nur die Chance gewähren, TOS schnell auf allen nur erdenklichen Rechnern zum Laufen zu bringen - schneller, als wenn wir die Anpassungen jeweils vornehmen müssten.

stc: Zumindest für den Laien sieht es so aus, als würde es immense Arbeit und damit lange Entwicklungszeiten bedeuten, einem bestehenden Betriebssystem einen neuen Kern zu verpassen. Wie lange sollen die Arbeiten dauern, bis erste Ergebnisse gezeigt werden können?

Goukassian: Allererste Ergebnisse haben wir schon in einigen Tagen vor, doch diese laufen derzeit nur auf speziellen Rechnern. Wir sind also dran; doch es ist wirklich zu früh, um Details hinsichtlich der Terminplanung preiszugeben.

«Wir haben nun widerum ein Konzept, das wir bereits seit November 1999 in den Schubladen hatten, wieder aufgegriffen. Dieses wird es uns ermöglichen, das TOS nativ auf diversen Prozessoren laufen zu lassen (Intel, PPC,...), ohne dass eine Betriebssystem-Basis wie Windows oder MacOS notwendig wären. Es würde also ein normales PC-Board mit einem 1-GHz-Prozessor genügen, um TOS darauf direkt zum Laufen zu bringen.

stc: Wenn ich das Prinzip jetzt richtig verstanden habe, arbeitet Ihr mit einer 68k-Emulation. Wie stabil ist diese bisher?

Goukassian: Ja und nein. Es ist keine klassische Emulation, denn das TOS selbst läuft in diesem Konzept nativ ab -es ist also schnell und dem Prozessor angepasst. Nun ist es aber so, dass einige Programme spezielle 68k-Zugriffe haben. Diese werden durch eine 68K-Transform-Engine abgefangen und für den darunter liegenden Prozessor interpretiert. Der Emulation kommt also nur teilweise zum Tragen.

stc: Könnte ein Anwender bei diesem Prinzip nicht gleich einen PC oder Mac mit MagiCMac wählen?

Goukassian: Auf keinen Fall. Denn hier läuft schon das Betriebssystem komplett auf einer Emulation, die widerum Windows oder MacOS voraussetzt. Und genau diese schweren, behäbigen und fehleranfälligen Betriebssysteme, die zudem Ressourcen verschlingen ohne Ende wollen wir doch nicht mehr. Man kann voraussichtlich davon ausgehen, dass die Transform-Arbeit weniger Performance verschlingt als ein Betriebssystem-Monstrum wie Windows 98SE oder ME. Dann stelle sich der Anwender nur vor, was das neue MilanOS auf einem GHz-Prozessor zu leisten vermag.

stc: Der große Vorteil und das fast schon revolutionäre dieses neuen Ansatzes ist meiner Ansicht nach, dass die Atari-Welt damit eine relative Hardwareunabhängigkeit erreicht. Kann man tatsächlich sagen, dass das neue TOS auf allen Plattformen laufen wird, auf denen grundsätzlich ein Linux-Kernel läuft?

Goukassian: Das kann man sagen. Am schnellsten bekommen wir es für PPC und Intel hin, denn wie gesagt: Eine 68k-Engine ist hierfür nötig und bereits vorhanden. Bei weiteren Prozessoren, die dann aber noch wenige Prozent des Weltmarktes ausmachen, kommt noch ein wenig Arbeit auf uns zu.

stc: Atari-Anwender könnten dann ganz direkt von den Treiber-Entwicklungen profitieren, die in der Linux-Welt entstehen?

Goukassian: Ja, allerdings in der Low-Level-Ebene. Ein Scannertreiber nützt also nichts nichts. Es geht hierbei ausschließlich um die Kommunikation zwischen Betriebssystem und Computerhardware. Einzig das Filesystem von Linux kann zum TOS durchgereicht werden. Damit sind also auch alle Festplatten- und Laufwerkstreiber (CD-ROM, DVD, ...) durch Linux erschlagen.

stc: Rechnest Du eventuell durch das neue TOS auch mit Interesse aus der Linux-Welt, in die ja wahrscheinlich viele Ex-Atarianer abgewandert sind?

Goukassian: Nein, denn von Linux wird bei uns nicht die Rede sein. Jemand, der mit Linux umgehen kann, wird bei uns nicht weiterkommen, denn er wird vor dem guten MagiC sitzen.

stc: Wie sieht es nun im Detail mit der Hardware-Seite aus? Plant Milan die Spezifikation eines Standard-Komponenten-Systems, das sich dann jeder Anwender bei einem beliebigen Händler zusammenstellen kann?

Goukassian: Das erscheint uns sinnvoll. Doch beginnen werden wir mit der Benennung einiger Referenz-Boards, die am weitesten verbreitet sind. Darüber hinaus gibt es - wie bereits erwähnt - die möglichen Kooperationen mit einem PowerPC-Board-Hersteller.

stc: Besonders für Atari-Fans könnte auf diesem Wege auch der Traum eines Milan G4 in Erfüllung gehen. Bisher gibt es jedoch weder von IBM noch von Motorola preisgünstige Umsetzungen von G3- oder G4-Boards. Worauf sollte ein Milan G4 also basieren?

Goukassian: Gut in die Falle gelockt ... aber ich darf zum Hersteller nichts sagen - sorry.

Der Milan bald mit der Leistung eines G4-Mac? Neue Pläne und Verhandlungen mit einem deutschen Entwickler eines kostengünstigen PowerPC-Boards könnten diesen Traum Wirklichkeit werden lassen.

stc: Natürlich würden Atari-Fans einen PowerPC-Rechner Intel-Lösungen vorziehen. Trotzdem sehe ich das Problem, dass das nächste Jahr geprägt sein wird vom Kampf der 1-GHz-Maschinen. Anbieter reiner PowerPC-Systeme wie Apple werden dann noch stärker zurückfallen als bisher. Wenn Milan einen ähnlichen Weg beschreitet, entstehen dieselben Probleme. Trotz eines gigantischen Werbevolumens konnte Apple die Computerwelt nicht nachhaltig davon überzeugen, dass ein 500-MHz-G4-Rechner schneller sein kann als ein 1 -GHz-Athlon. Sollte man nicht daher den Mut besitzen, alte Zöpfe abzuschneiden und für zukünftige Produkte auf günstigere und vor allem schnellere Prozessoren setzen?

Goukassian: Warten wir es ab. Steve Jobs hat für das erste Halbjahr 2001 neue PPC-Chips angekündigt, die mit der PC-Weit gleichziehen sollen, was deren Taktfrequenz betrifft. Wir werden das mal im Auge behalten. Außerdem bietet unser Hersteller uns neben dem PowerPC so einige Details wie z.B. ein Flash-Eprom, das - ähnlich wie im Milan - bis zu 4 MB groß ist. Das ist wichtig, um das gesamte

Betriebssystem auf einen Chip zu bekommen. Für herkömmliche PC-Boards muss hier noch eine Ausweichmöglichkeit ausgearbeitet werden.

stc: Was sind jetzt die nächsten Schritte, auf die wir uns vorbereiten können? Wie sieht die Marschroute aus?

Goukassian: Atari-Anwender können bei der Stange bleiben und durch den Erwerb neuer Software den Programmierern den Rücken stärken, damit wir auch noch im kommenden Jahr über alle notwendigen Programme verfügen. Das wäre meine größte Bitte.

stc: Wann sehen wir erste Ergebnisse?

Ali Goukassian: Ich hoffe, zu Beginn des kommenden Jahres.

st-computer: Ali, vielen Dank für die Auskünfte.

Milan Computersystems, Albert-Einstein-Haus, An der Holstiamühle 1, D-24149 Kiel, info@milan-computer.de, www. milan-computer. de

Das Interview führte Thomas Raukamp


Thomas Raukamp
Aus: ST-Computer 11 / 2000, Seite 14

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