Kaum ein anderes Programm hat seit den Tagen des ST mehr zur professionellen Reputation des Atari beigetragen wie der Layout-Profi Calamus. Nach wie vor hat es in Studios und Agenturen unter Fachleuten einen fast sagenumwobenen Ruf. Ali Goukassian hat sich die aktuelle Version SL2000 angeschaut.
Der Atari-Markt lebt besonders von seinen treuen Anwender. Doch eine weitere Sparte hat ihn über Jahre hinweg bestehen lassen: Software, die es vermag, PC- und Apple-Applikationen locker das Wasser zu reichen. Einer der Vertreter dieser Sparte ist seit Jahren das Programm papyrus, das ein komplettes Office-Paket für TOS-Systeme zur Verfügung stellt. Ein anderes Programm, das über Jahre tausende von Anwendern an das Atari-Betriebssystem gebunden hat, ist das Satz- und Layout-Programm Calamus SL, das nun in einer neuen Version SL2000 endlich verfügbar ist.
Calamus hat schon eine merkwürdige Historie durchlebt. Es wurde in den achtziger Jahren von der Softwareschmiede DMC entwickelt und konnte schnell viele Werbestudios begeistern, da es in Verbindung mit dem Atari TT samt Großbildschirm eine tolle Satz-und Layout-Plattform für Schwarzweiß-Publikationen darstellte. Um über diesen Horizont hinaus zu kommen, wurde die Version SL entwickelt, die besonders Anfang der neunziger Jahre viel Verbreitung fand. Seinerzeit gab es mehrere dutzend Belichtungsstudios, die Calamus fest im Programm hatten. Es muss um und bei 1994 gewesen sein, als DMC das Calamus-Paket an das kanadische Softwarehaus MGI verkaufte, welches widerum die Atari-Version so gut wie auf Eis legte und zwischen 1995 und 1996 eine Windows95-Version auf dem Stand der letzten Atari-SL-Version präsentierte. Ein dänisches Programmierer-Team hatte seinerzeit die Mammut-Aufgabe auf sich genommen, ein Programm voll kompatibel nachzuprogrammieren. Außerdem wurde eine vollkommen überarbeitete und wesentliche mächtigere Satz-Software auf Basis von Calamus angekündigt, die ebenfalls nur unter Windows laufen sollte. Doch trotz aller Bemühungen gelang es jahrelang nicht, dieses sagenumwobene Superprogramm auf den Markt zu bringen.
Seit dieser Zeit bemühte sich der „Robin Hood des Calamus" um die Rechte von Calamus. Die Rede ist von Ulf Dunkel, Geschäftsführer der Firma invers Software. Es war wohl ein harter Kampf, der schließlich gewonnen wurde. Ulf Dunkel gelang es nicht nur, die Rechte an der Weiterentwicklung der TOS-Version zu erwerben. Es konnte sogar den Calamus-Spezialisten Michael Monscheur sowie eine Handvoll weiterer Programmierer für sich gewinnen. Seither hat sich eine Menge getan; Calamus erschien kontinuierlich in neuen Versionen.
Ich habe diese neuen Versionen stets verfolgt, so gut ich konnte. Aber es schien mir immer wieder so, als hätten die Jahre, in denen Calamus aus Eis liegen musste, dem Programm so sehr geschadet, dass der Vorsprung der Konkurrenzprodukte für Mac- und PC- unaufholbar anwachsen konnte - bis zur Version SL2000, die mich aufgrund der angekündigten Funktionen seit einiger Zeit beschäftigte. Ende Juli war es endlich so weit: Die seit Monaten angekündigte und immer wieder verschobene Millenium-Version des DTP-Programmes wurde ausgeliefert.
Vorab möchte ich „zugeben", dass ich derzeit noch mit einer Calamus-SL2000-Windows-Version arbeite, die sich allerdings von der Atari-Version nur insofern unterscheidet, dass ein ST-Emulator im Hintergrund geladen wird, bevor dann die originale Atari-Version zum Zuge kommt.
Die wesentlichen Neuerungen der SL2000-Version von Calamus bestehen aus zwei Gebieten: Widmen wir uns zunächst den Funktionen, wobei ich in derjenigen Reihenfolge auf diese eingehen werde, wie sie mir persönlich wichtig erschienen.
Eine enorme Erleichterung beim Arbeiten stellt das umgestellte Undo-Konzept dar, dass beliebig viele Schritte zurückverfolgen und wieder reproduzieren lässt. Darin enthalten sind bislang Schritte, die die Rahmenfunktionalität wie das Löschen, das Ändern von Position und Größe andern usw. enthalten. Durch diese Undo-Freiheiten kann man beim Gestalten einer Seite wesentlich mutiger ans Werk gehen, da nicht jeder Zwischenschritt, der sich kurze Zeit später als unnötig herausstellen könnte, gespeichert werden muss. Das fördert definitiv die Freiheiten beim Layout und die Kreativität.
Der nächste, aus meiner Sicht sehr wichtige Schritt, wurde bei der Verbesserung der Möglichkeiten, einen Rahmen zu drehen, getätigt. Seit der neuesten Version von Calamus besitzen sämtliche Rahmen neue Anfasspunkte (Bild 1), die es ermöglichen, einen Rahmen komfortabel auf dem Bildschirm zu drehen. In älteren Versionen musste das Drehmodul aufgerufen und der gewünschte Winkel eingegeben werden. Das hatte ein Herantasten zur Folge, weil es schon ein enorm gutes Vorstellungs- und Kalkulations-Vermögen voraussetze, den korrekten Zielwinkel mit zwei Nachkommastellen vorauszuberechnen. Heute erscheint beim Betätigen des Drehsymbols neben dem Rahmen eine Hilfslinie, die vom Mittelpunkt des zu drehenden Objektes ausgeht. In diesem Zustand kann der Rahmen beliebig gedreht werden. Durch Loslassen der Maus erscheint der Rahmen in seinem neuen Winkel.
Doch das ist nicht alles. Haben Sie in den vergangenen Versionen schon versucht, den Text innerhalb eines gedrehten Rahmens zu editieren? Es war eine Qual, denn stets musste der Text zunächst in die Horizontale gebracht werden, was wieder ein Schätzen und Testen zur Folge hatte, bis er auch in seinem endgültigen Winkel genau so passte, wie es gedacht war. Jetzt geht auch das viel einfacher, denn Texte können problemlos auch in einem gedrehten Rahmen editiert werden. Ich habe mich dabei ertappt, wie ich beim Probieren dieser Funktion so fasziniert war, dass ich nach einer Weile mit geneigtem Kopf vor dem Monitor saß und es immer und immer wieder mit neuen Worten und in neuen Winkeln testete.
All diejenigen unter Ihnen, die nicht nur einfache Seitenlayouts, sondern komplexere Dokumenten mit Texten, die einen Textfluss durch mehrere Rahmen bedingen, layoutet haben, werden es genau so wie ich gehasst haben, die Rahmen miteinander verketten zu müssen. Dazu mussten gleich mehrere Schritte in die Wege geleitet werden, bis schließlich das Ergebnis zu sehen war. Heute geht Calamus SL2000 davon aus, dass der Anwender diese Funktion benötigen könnte und stattet sämtliche Textrahmen mit der direkten Funktion des Text-Verkettens aus. Klickt man auf das kleine Symbol in der rechten unteren Ecke eines Textrahmens und anschliessend auf den Zielrahmen, so fließt der Text automatisch in der vorgegebenen Richtung, ohne dass Funktionsmenüs aufgerufen werden müssten.
Heutiges Atari-Computing ist längst plattformunabhängig - das hat auch das Team um den Calamus herum verstanden, als es von der einzigartigen Portabilität des Atari-Systems Gebrauch machte: Anstatt Zeit und Ressourcen für die Entwicklung einer Windows-Version zu verschwenden, wird das Windows-Pack mit einer optimierten Atari-Emulation ausgeliefert, die die Plattform für einen Gebrauch auf heutigen PCs in Höchstgeschwindigkeit bietet. Selbstverständlich läuft Calamus auch unter MagiCMac auf einem der heutigen Edel-Rechner von Apple.
Kommen wir zu den bunten Dingen des Calamus-Lebens. Bislang musste man bei der Definition von Farben so Vorgehen, dass man die Farbregler z.b. für die CYMK-Werte jeweils so hin- und her schob, bis das Ergebnis im Vorschaufenster in etwa dem entsprach, was man sich vorgestellt hatte. Oder es war ein klarer CYMK-Wert vorgegeben, der nur noch eingetragen werden musste. Wer aber auf der Echtzeitsuche nach der passenden Farbe war, musste eine Portion Kreativität und Farberfahrung mitbringen, um schnell ans Ziel zu gelangen. Der neue Farbdialog von Calamus (Bild 2) stellt beispielsweise einen Farbkreis zur Verfügung, über dessen äußeren Rand man die gewünschte Farbe und im Innenteil dann den Farbwert aussucht. Auf diese Weise hat der Anwender einen wesentlich schnelleren Zugriff auf spontane Wunschfarben. Hinzu kommt, dass auch Prozessfarben (CYAN) und Farbpaletten wie HKS-Farben direkt zur Verfügung stehen.
Erst mit der Version SL2000 fällt auf, wie viel man in der Vergangenheit schätzen und raten musste. So war die Transparenz von Rahmen in den bisherigen Versionen nicht am Bildschirm nachzuvollziehen. Das bedeutete, dass man probieren und drucken musste, bis das Ergebnis stimmte. Die neue Bildschirm-Transparenz funktioniert nun endlich, wie Sie in Bild 3 sehen können.
a) ... erlangt Calamus durch den verbesserten ASCII-Importfilter von adequate systems, der nun zum Standardumfang gehört (Bild 4). Mit einer Vorschau ausgestattet, ist er genau das richtige Werkzeug, um ASCII-Texte jeglicher Plattform komfortabel zu importieren. Editierbare Konvertiertabellen ermöglichen es Ihnen, Einstellungen für die wichtigsten Formate vorzunehmen und diese zu speichern. Gut ist, dass die wichtigsten Formate bereits vorgehen sind. Dazu gehören Apple-, Windows- und DOS-ASCII. Nicht nur, dass üblicherweise viele Texte in den oben genannten Formaten angeliefert werden und somit schneller zu verarbeiten sind - ein weiterer Vorteil ist die dadurch entstehende Cross-Plattform-Kompatibilität. Wird Calamus also als Emulation auf Apple- oder Windows-Rechnern betrieben, kann die Kommunikation zwischen den Textprogrammen und Calamus ohne umständliches Zurückgreifen auf einen externen Konvertierer erfolgen.
b) ... erlangt Calamus durch die nun integrierten TTF- und PS-Font-Importer. Über Jahre mussten Calamus-Anwender mit den Calamus-eigenen Fonts im CFN-Format auskommen. Das war auch solange nicht schlimm, wie nahezu jeder relevante Font auch im CFN-Format zur Verfügung stand. Immerhin konnten die Calamus-Publisher mit Tug und Recht behaupten, dass CFN-Fonts exakter sind als z.b. TTF-Fonts, die im professionellen Publishing eher verpönt sind. Aber mittlerweile war es im Sinne einer vollständigen Integration von Calamus in die Publishing-Welt fast unumgänglich, endlich die TTF- und PSI-Import-Funktionen zu integrieren, die auch wunderbar funktionieren. Ausprobiert habe ich es mit Dokumenten des alten Calamus95 für Windows, das von Beginn an CFN- und TTF-Fonts verarbeiten konnte. Außer der üblichen Laufweiten-Inkompatibilität hat alles prima geklappt.
c) ... erlangt Calamus durch den verbesserten TIFF-Importer, der nun alle aktuellen TIFF-Formate und Komprimierungs-Mechanismen versteht.
Über die vielen genannten Verbesserungen hinaus hat Calamus SL2000 tatsächlich noch eine Menge weiterer Funktionsverbesserungen vorzuweisen, die ich aber vor dem Redaktionsschluss dieser
Ausgabe noch nicht ausgiebig habe testen können. Zu erwähnen wäre da zum Beispiel die Möglichkeit, unbegrenzt viele Seitenformate, die selbst definiert werden können, anzulegen. Somit sind Formate wie CD-Booklet oder Visitenkarten etc. in Zukunft also auch kein Problem mehr.
Wie eingangs geschildert, besteht Calamus nicht nur aus Funktions-, sondern auch aus Modul-Erweiterungen. Eine Reihe bislang kostspieliger und wertvoller Module wurde nun in das Standardpaket integriert. Einerseits geschah dies natürlich natürlich, um den Wert des Gesamtpakets nochmals aufzuwerten, andererseits aber auch, um dem Druck der Konkurrenz-Programme standhalten zu können.
Ein sehr wichtiges Modul, das sowohl das invers-Team rein arbeitstechnisch und Anwender im allgemeinen erleichtern wird, ist das Druck-Modul VDI-Print. Calamus hat bekanntlich stets mit eigenen Druckertreibern gearbeitet, was stets bedingte, dass die Calamus-Entwickler nebenbei auch permanent neue Druckertreiber entwickeln mussten, während NVDI bereits eine breite und wachsende Palette an Druckertreibern bietet. Durch VDI-Print wird der Anwender nun in die Lage versetzt, GDI-Drucker, die von NVDI angeboten werden, zu nutzen.
Das Linienmodul erweitert den enthaltenen Linien-Funktionsumfang um wesentliche Linientypen wie z.B. die V- und Kreuzlinien, 2fach- bis 5fach-Linien, U- und Halbkreis-Linien usw.
Weiterhin sind FrankLIN, der umfangreiche Kennlinieneditor mit einer umfangreichen Sammlung an Kennlinien, der Navigator, eine Orientierungshilfe für große Dokumente, der Wopper, das Modul, mit dem Sie mehr Ordnung in Ihre Vielfensterei bringen sowie der PICT-Import-Treiber, der das Laden von Mac-Standardbildern bis 256 Farben ermöglicht.
Der Milan II ist noch nicht verfügbar und einen Mac kann sich auch nicht jeder leisten. Um Calamus dennoch einer breiten Anwenderschaft zugänglich zu machen, wurde eine Windows-Version ins Leben gerufen. Anstatt das Programm aber komplett neu zu programmieren, was Jahre an Arbeit gekostet hätte, haben sich die Calamus-Entwickler auf eine andere Lösung verlassen: Es wurde in Lizenz eine spezielle Variante des Atari-Emulators STEmulator für PC-Systeme erworben, die fest mit Calamus SL verbunden ist und nicht als separater Emulator betrieben werden kann. Der Windows-Anwender bekommt so gut wie gar nichts davon mit, dass eine Emulation läuft, denn immerhin lädt er nur eine „calamus.exe“-Datei. Anschließend öffnet sich ein Dialog, in dem die wichtigsten Werte benötigter RAM-Speicher, Farbtiefe usw. festgesetzt werden können (siehe Bild 5). Anschließend startet Calamus. Das Besondere an dieser Emulations-Variante ist, dass wichtige Funktionen gleich implementiert sind. So wurde ein Windows-Druckertreiber eigens für Calamus entwickelt, der es ermöglicht, unter Calamus SL2000 für Windows direkt Windows-Druckertreiber anzusprechen. Das bedeutet, dass kein spezieller Atari-Treiber vorhanden sein muss, um mit dem neuen WinSL auf moderne Drucker ausgeben zu können.
Ein weiteres Detail, das immer wieder nützlich ist, stellt die automatische Umlautkonvertierung dar, die zwischen dem Windows-Zwischenspeicher und dem Klemmbrett von EDDIE stattfindet. Damit kann Calamus SL2000 für Windows voll in die Windows-Software integriert werden. Ein unter Word editierter Text wird einfach per Copy&Paste bei Calamus eingefügt, ohne dass der Anwender sich Sorgen über die korrekte Konvertierung machen müsste.
Alles in allem ist das Windows-Pack sehr stabil und läuft auf einem herkömmlichen 500-MHz-PC in einem tollen Arbeitstempo - nach meinen Erfahrungen sogar schneller als InDesign von Adobe, das auf dem gleichen PC-System läuft.
Mit Calamus SL2000 ist Ulf Dunkel und seinem Team ein ganz großer Wurf gelungen. Endlich wurde ein Major-Update angeboten, das genügend Potential bietet, um alte Fans und Umschwenker - wie ich es einer bin - zurückzugewinnen.
Dank des modernen Mediums Internet und der kompakten Demo-Versionen, die in mehreren Sprachen unter www.calamus.net zur Verfügung stehen, dürfte eine reelle Chance dafür bestehen, dass Calamus es schafft, seinen Position sogar wieder ein wenig auszubauen. Wie professionell das gesamte Paket, angefangen vom Funktionsumfang über die Betriebsstabilität bis hin zum Drum und Dran, gestaltet ist, bemerkt man nicht zuletzt daran, dass beispielsweise schon das Ergänzungshandbuch zur neuen Version knapp 1 30 Seiten stark ist.
Calamus SL2000 könnte sich sogar zu einer kleinen Schützenhilfe für den Milan II entwickeln, denn diese beiden Atari-Vertreter können zusammen ein unschlagbares Team sein.
Preise:
• MCI Calamus SL 2000 Neukauf (TOSPack + WinPack): DM 1.199.-
• Upgrade von MCI Calamus SL 99 (TOSPack oder WinPack): DM 199.-
• Upgrade von MCI Calamus SL98 (TOSPack oder WinPack): DM 299.-
• Upgrade von alten Calamus-SL-Versionen (TOSPack oder WinPack): DM 399.-
• Upgrade von Calamus 1.09 (n) oder Calamus Win95 ((TOSPack oder WinPack): DM 499.-
• Aufpreis Doppelpack (TOS- & WinPack): DM 30-
Literatur:
[1] Preview Calamus SL2000, stc 04/2000, Seite 12
invers Software Vertrieb, Ulf Dunkel, Postfach 1127, D-49618 Löningen, dunkel@calamus.net, http://www.calamus.net
Bitte beachten Sie auch unser ausführliches Interview mit Ulf Dunkel von invers Software auf Seite 48 dieser Ausgabe sowie unsere aktuelle Calamus-Modul-Übersicht in der regelmäßigen DTP-Rubrik der stc.