Thomas Raukamp durfte einen ersten Blick auf ein Programm werfen, an das viele gar nicht mehr glaubten.
Dass Programme vom Markt verschwinden, sind Atari-Anwender ja gewohnt - dass aber Klassiker zurückkehren, ist selten. Tempus Word macht hier eine Ausnahme. Schon seit einigen Monaten halten sich hartnäckige Gerüchte um ein Comeback einer der besten Textverarbeitungen. Viele Gerüchte trügen, dieses nicht: Uns lag eine der letzten Betaversionen für einen ersten Einblick vor.
Der Name Tempus begleitet den Atari schon seit den 80er Jahren. Neben einem komfortablen Texteditor konnte besonders die Textverarbeitung Tempus Word aus dem Hause CCD durch eine hohe Arbeitsgeschwindigkeit sowie teilweise unübertroffene Features überzeugen und entwickelte sich zu einer Referenz unter den Atari-Programmen. Anfang der 90er Jahre noch in drei verschiedenen Versionen erhältlich, wurde es in der Folgezeit ruhig um den Textprofi. Umso mehr verwunderten immer wieder Gerüchte und Stellungnahmen um eine Weiterentwicklung.
Was lange währt, wird endlich gut: Noch in diesem Frühjahr soll die brandneue und komplett überarbeitete Version 4 bei den Atari-Fachhändlern vorliegen und eine echte Alternative zum jetzigen Branchenprimus Papyrus Word darstellen.
Trotz des versprochenen neuen Funktionsumfangs scheint Tempus sich auch weiterhin an den Atari-Grundsatz zu halten, dass Programme in erster Linie schlank zu sein haben: CCD schickte uns die Betaversion für dieses erste Preview in insgesamt drei ZIP-Archiven zu, die zusammen nicht mehr als eine HD-Diskette füllen würden. Wer sich einen ersten Eindruck über die reichhaltigen neuen Features verschaffen will, sollte als erstes Dokument einmal die Datei hinweis.twd laden. Der Umfang allein dieses Dokuments lässt nur einen Schluss zu: Das Programm wurde komplett überarbeitet und fast neu erfunden.
Dieser Eindruck bestätigt sich nach dem Anlegen oder Laden eines Dokuments: Wo früher ein stark zeilenorientiertes System den Bildschirm beherrschte, blickt uns nun ein zeitgemäßes Programmfenster mit WYSIWYG-Darstellung entgegen. Die wichtigsten Bedienungselemente sind dabei ähnlich wie bei Papyrus oder Word in Iconleisten über dem eigentlichen Dokument untergebracht, über und neben dem Text laufen Textlineale. Alles wirkt auf den ersten Blick modern und funktionell - vorbei sind also die Zeiten eines eigenen Desktops mit Piktogrammen.
Tempus Word bietet ab sofort vier verschiedene Bearbeitungsmodi für ein Dokument an: ASCII, T_Word, Layout und Doppelseiten. Die eben erwähnte WYSIWYG-Darstellung verdankt das Programm dem standardmäßig voreingestellten Layout-Modus, bei dem die mehrspaltige Darstellung auf dem Bildschirm ständig der späteren Ausgabe auf dem Papier entspricht. Sichtbar sind in diesem Modus alle Elemente einer Seite -also auch Kopf- und Fußzeilen, Fußnoten usw. Eine ebenso genaue Bildschirmdarstellung gewährt der Doppelseiten-Modus, allerdings werden nun die gegenüberliegenden Seiten nebeneinander angezeigt, um eine endgültige Kontrolle des Dokuments zu gewährleisten. Ersetzt wurde dadurch die bisherige Funktion der manuellen Umbruchkontrolle, die in den Vorgängerversionen innerhalb einer Preview-Funktion bereitgestellt wurde. Die beiden neuen Arbeitsmodi haben also den Hauptanteil daran, dass Tempus nun eine zeitgemäße Darstellung und Bearbeitung eines Dokuments zulässt. Selbstverständlich verlangen sie aber auch nach einer entsprechend schnellen Maschine: Wer in einer ausreichenden Geschwindigkeit in beiden Modi arbeiten möchte, sollte mindestens einen Atari mit 68030-Prozessor benutzen. Noch empfehlenswerter ist ein beschleunigter Rechner oder ein Kompatibler. In unserem Preview erwies sich ein Falcon030 mit 32-MHz-Beschleuniger als gerade noch ausreichend für ein vernünftiges Arbeiten im Layout- oder Doppelseiten-Modus, recht flüssig wurde die Arbeit jedoch erst auf einem Hades 040. Für Anwender, die nicht so gut ausgestattet sind, stehen mit dem ASCII- und dem Tempus-Modus weiterhin die „klassischen" Editierumgebungen für schnelleres und ressourcenschonenderes Arbeiten bere dit.
Für eine genaue Kontrolle am Bildschirm ist auch eine in kleinen Schritten veränderbare Bildschirmdarstellung notwendig. Tempus Word 4 bietet ab sofort eine Anzeige, die Vergrößerungen bzw. Verkleinerungen in Zehntel-Prozent-Schritten zulässt. Kleinste Einheit ist hier 1.0%, die größte Darstellung ist 999.9%.
Die im Dokument verwendeten Spalten können in der neuen Version 4 beliebig breit sein und dabei auch unterschiedliche Breiten aufweisen. Die Breite der Spalten wird dabei seitenweise festgelegt. Wenn also eine Seite unterschiedlich breite Spalten aufweist, verfügen die Nachfolgeseiten wieder über gleich breite Spalten. Auch an dieser Stelle sollte der Anwender jedoch bedenken, dass ein intensiver Gebrauch verschiedener Spaltenbreiten die Arbeitsgeschwindigkeit weiter herabsetzt, da für einen sich ständig ändernden Zeilenumbruch ein erhöhter Rechenaufwand erforderlich ist. Besonders trifft dies natürlich auf umfangreiche Dokumente zu.
Eine notwendige Überarbeitung hat auch die Verwaltung bzw. Darstellung von Vektorfonts erhalten: Mussten bisher verschiedene Schnitte eines Zeichensatzes per Hand ausgewählt werden, übernimmt Tempus Word diese Zuordnung innerhalb einer Fontfamilie nun selbst. Die Attribute (z. B. fett oder kursiv) werden nun nur noch dann berechnet, wenn eine Schriftfamilie keinen entsprechenden Schnitt bietet. Das Dokument erhält nun also einen weitaus durchgängigeren Stil.
Wer die Beispieldokumente, die dem Programm beiliegen, lädt, wird zumeist eine weitere Neuerung festellen: Sind bestimmte Schriftarten nicht im System installiert, Öffnet sich ein Requester, der eine neue Zuordnung zulässt. Übrigens gibt es ab sofort keine Beschränkungen mehr bei der Anzahl der in einem Dokument verwendeten Schriften. Gleiches kann über die maximale Punktgröße gesagt werden: Waren bisher pro Zeichensatz nur Schriften bis 48 Punkt möglich, wurde dieses Spektrum nun erweitert - wenn der Arbeitsspeicher dies zulässt, können Punktgrößen bis 999.9% eingestellt werden, wobei die Skalierung auch hier in Zehntel-Schritten möglich ist.
Ebenso neu ist die Kerningfunktion. Stellt eine Schrift Informationen für ihre Unterschneidung bereit, werden diese genutzt.
Einen deutlichen Geschwindigkeitsvorteil hat auch das Caching von Zeichensätzen erfahren. Von nun an wird jedes Zeichen in dem Moment eingeladen, wenn es zum ersten Mal dargestellt werden soll. Bisher wurde einmalig der gesamte Zeichensatz eingelesen, was natürlich besonders auf kleinen Maschinen viel Speicher kostete.
Aber nicht nur bei der Arbeit mit Zeichensätzen bietet Tempus Word 4 seinem Anwender neue Freiheiten: In einem Dokument können nun auch beliebig viele Absatzformate und Tabulatorzeilen eingesetzt werden. Der verwendbare Zeichensatzumfang wurde auf alle Zeichen von ASCII 32 bis ASCII 255 erweitert, wobei intern auch der Zugriff auf Sonderzeichen vorbereitet ist, die von vielen Zeichensätzen geboten werden. Fallen gelassen wurden auch die Beschränkungen bzgl. der Speicherverwaltung. Tempus 4 bietet Zugriff auf den gesamten Speicher (besonders wichtig für Besitzer eines Atari TT mit ST- und TT-RAM). Dabei ist es gleichgültig, ob dieser physikalisch oder virtuell ist.
Ein zeitgemäßes Programm muss mit Farben umgehen können: Tempus ist nun komplett auf die Verarbeitung von Farben optimiert worden. Text kann mit einer von 16 Schmuckfarben versehen werden - es steht wohl zu erwarten, dass diese Palette noch weitaus umfangreicher wird. Natürlich können auch farbige Bilder ins Dokument eingearbeitet werden.
Zahlreiche Erweiterungen gab es auch im Bereich der Absatzformate. So lässt sich ab sofort ein Absatzvorabstand definieren, was eine weitaus flexiblere Gestaltung der Dokumente zulässt. Die in einem Absatzformat definierten Parameter sind dabei jederzeit über die im Arbeitsfenster vorhandene Format- und Stilzeile veränderbar. Die Veränderungen beziehen sich dabei nur auf den aktiven Absatz, andere bleiben unangetastet. Allerdings kann auch ein Absatz-Folgeformat definiert werden. Haben Sie z.B. Ihre Überschrift eingegeben, kann automatisch mit einem normalen Fließtextr weitergearbeitet werden, sofern dieser als Folgeformat definiert wurde.
Interessant z.B. für Übersetzungen ist auch, dass für jeden Absatz die Trennregeln automatisch festgelegt werden können. So kann z.B. ein deutscher Text nach deutschen Trennregeln getrennt werden, während für die darunter liegende englische Übersetzung englische Trennungen angewandt werden. Tempus Word erschließt damit also völlig neue Anwendungsbereiche für Atari-Plattformen.
Apropos Trennung: Obwohl Tempus Word 4 schon in der vorliegenden Betaversion sicher trennt, bleiben dem Anwender noch Möglichkeiten zur Nachbearbeitung von Trennungen. Dies ist recht einfach gelöst: Der Anwender muss den Cursor einfach auf dem betroffenen Wort plazieren und die Tastenkombination [Alternate][F1] drücken. Nun öffnet sich ein Dialog, der die Editierung des Wortes zulässt.
Neu ist auch die Initialfunktion für Absatzformate: Wählt der Anwender hier die Option Baseline an, wird das Initial automatisch im Text plaziert und von diesem umflossen.
Eine gute Textverarbeitung muss sich letztendlich an dem messen lassen, was sie zu Papier bringt. CCD überarbeitete bei Tempus Word 4 die Druckfunktionen bzw. -dialoge, die sich nun am geladenen Druckertreiber orientieren. Das Popup-Fenster Qualität zeigt nun z. B. nur noch die Auflösungen an, die mit dem gewünschten Drucker auch tatsächlich möglich sind. Die bisherigen Popups Ausgabe und Druckerport wurden ersetzt durch das Popup-Menü Treiber, das alle installierten Ausgabetreiber auflistet. Endlich werden nun also auch die Treiber aufgelistet, die ein installiertes GDOS-System bereitstellt. Unter Verwendung von NVDI kann also auch auf aktuellen Modellen ausgedruckt werden. Betreiben Sie Atari-Computing unter MagiCMac oder Magic PC, ist unter NVDI selbstverständlich auch die Nutzung des für das System installierten Druckertreibers möglich.
In die neue Version 4 des Textverarbeitungsprofis Tempus Word sind so viele neue Funktionen eingeflossen, dass es fast den Rahmen eines Previews sprengen würde, wenn wir sie hier alle aufzählen sollten. Einen ausführlichen Testbericht liefern wir natürlich, wenn die erste Verkaufsversion bereitsteht. Trotzdem soll an dieser Stelle noch auf ein paar Feinheiten hingewiesen werden: Zusätzlich zum bisherigen horizontalen Lineal ist nun ein vertikales Lineal zuschaltbar, was besonders in den Arbeitsmodi Layout bzw. Doppelseiten eine exakte Kontrolle über die Positionierungen zulässt. Auch die Probleme mit unterschiedlichen Schriften, Tabulatorzeilen, Absatzformaten oder sonstigen dokumentspezifischen Elementen gehören in Zukunft der Vergangenheit an: War bisher das Zusammenfügen von verschiedenen Dokumenten in vielerlei Hinsicht Grund von viel Kritik seitens der Anwender, werden jetzt die angesprochenen Elemente dynamisch geprüft, so dass z.B. bereits vorhandene Zeichensätze nicht übernommen und nur die fehlenden automatisch hinzugefügt werden. Ebenfalls stark verbessert wurde die interne Berechnungsgenauigkeit: Diese wurde verzehnfacht, so dass nun Plazierungen auf einen Zehntel-Punkt genau möglich sind. Die maximale Ausgabeauflösung ist dabei voraussichtlich auf ca. 3000 dpi beschränkt, wobei dieser Wert von der Größe der auszugebenden Seite abhängig ist.
Beta-Versionen sind deshalb Beta-Versionen, weil sie noch nicht komplett sind. Zur Zeit arbeitet CCD primär an einer Überarbeitung bzw. Optimierung der internen Funktionen, weshalb die Oberfläche noch nicht ihrem endgültigen Erscheinungsbild entspricht, was sich z.B. hinsichtlich der Menüs und Dialoge zeigt. Etwas unübersichtlich wirkt daher in unserer Preview-Version noch die Anordnung der Menüeinträge, die weitestgehend noch der Version 2.92 entspricht. CCD hat hier aber eine Überarbeitung angekündigt. Ein weiterer Kritikpunkt ist bisher, dass nahezu alle Dialoge in eigenen Dialogboxen und nicht in Fenstern untergebracht sind. Zwar können diese Dank einem „Eselsohr" frei verschoben werden, sie blockieren aber trotzdem das Multitasking. Zeitgemäßer wäre es in jedem Fall, die Dialoge in eigenen Fenstern unterzubringen.
Tempus Word ist in seiner Version 4 in vielerlei Hinsicht an die Erwartungen angepasst worden, die an eine modernes Text- und Autorenprogramm gestellt werden. Zwar wird der Bereich der Textverarbeitung nicht neu erfunden, doch wieder einmal beweist sich das gelungene Grundkonzept eines Atari-Programms. Der Fokus von Tempus Word liegt weiterhin auf der zeilenorientierten, klassischen Bearbeitung von Texten, während bei Papyrus die Grenzen zu einem DTP-Programm fließend sind. Frei auf dem Bildschirm verschiebbare Textrahmen sucht man bei Tempus vergeblich. Dessen Stärken liegen vielmehr in der Verarbeitung langer Dokumente. Die frei definierbaren Textmarken und zahlreichen Absatzformatmöglichkeiten sprechen dabei für sich.
Interessenten sollten aber bedenken, dass sie bindend einen ausreichend schnellen Rechner benötigen, wenn sie die neuen authentischen Darstellungsmöglichkeiten des Programms nutzen möchten: Ein Falcon oder TT geht gerade noch, besser ist ein Hades oder Milan bzw. das Betreiben von MagiC auf einem modernen Macitosh oder PC. Übrigens zeigte sich Tempus verfügbaren Betriebssystem gegenüber äußerst verträglich und lief problemlos und bereits in der Betaversion absturzfrei unter MagiC 6.1 und N.AES 2.0.
Wir dürfen uns also zu Recht auf die Rückkehr eines Klassikers auf die Atari-Plattform freuen.
CCD, Hochheimer Straße 5, D-65343 Eltville, ccd@addcom.de