Atarium

Die ATARI-Szene im Herbst

In der Regel beschäftige ich mich an dieser Stelle mit technischen Fragen der Programmierung unter TOS (bzw. dazu kompatiblen Systemen). Dennoch muß es ab und zu gestattet sein, einen Blick über den Zaun zu werfen. In einer Zeit, wo ATARI-Besitzer mit merkwürdigen Durchhalteparolen bei der Stange gehalten werden sollen und die Äußerung berechtigter Kritik sofort als 'Kaputtmachen des Marktes' gebrandmarkt wird, komme ich nicht umhin, zu einigen dieser Punkte Stellung zu beziehen.

Wenn jemand den Markt 'kaputtgemacht' hat, dann ist es ATARI selbst. Die letzte Fehlentscheidung war die mangelnde Leistungsfähigkeit des Falcon sowie dessen Gehäuse; doch die grundsätzlichen Ursachen reichen sicherlich einige Jahre weiter zurück. Heute Software-Häusern deshalb Vorwürfe zu machen, weil sie nur noch minimalen odergar keinen Aufwand in die Weiterentwicklung ihrer Programme stecken, ist unnütz und unfair. Wenn größere Neuentwicklungen kommerziell erfolgreich sein könnten, dann würden sie auch von irgendjemandem vorgenommen werden.

Rettung durch TOS-Kompatible?

Einige Firmen bieten TOS-kompatible Maschinen an bzw. haben diese angekündigt. Diesen Geräten ist gemeinsam, daß sie sich entweder nur unwe= sentlich vom Falcon oder TT unterscheiden, zu teuer oder gar nicht lieferbar sind. Für manche Anwender mögen dies die gerade benötigten Geräte sein, aber der ATARI-Markt ist damit definitiv nicht zu 'retten'.

Gerüchte über angebliche neue Rechnervon ATARI entbehren jeder Grundlage. Die Verantwortlichen bei ATARI wissen sehr genau, daß eine neue Maschine niemals gegen die Vormacht von PCs und Macs bestehen kann. Und eine interessante Marktlücke, in die man mit nichtkompatiblen Maschinen stoßen könnte, ist derzeit nicht zu sehen. Daher bleibt ATARIs Schicksal zunächst mit dem mittlerweile ebenso schwierigen Videospielgeschäft verbunden.

Auf Betriebssystemebene ist abzusehen, daß keine großartigen Verbesserungen mehr zu erwarten sind. C-Lab verkauft dem Vernehmen nach demnächst die Beta-Version TOS4.92. Doch wer glaubt schon daran, daß diese Version tatsächlich irgendwann fertiggestellt wird? Die MiNT-Entwicklung steht trotz offenliegender Sourcen de facto still. Dies liegt sicherlich daran, daß viele der früheren 'Mitbastler' mittlerweile ihre Zeit in Linux-68K stecken oder gar ganz abgewandert sind.

MagiC wird vielleicht noch den Leistungsstand vom AES 4.0 erreichen und den Falcon etwas auf Trab bringen. Doch wer glaubt noch wirklich an eine MagiC-Version, die auch auf GEMDOS-Ebene MiNT-Kompatibilität bringt? Ähnlich sieht es bei 'Geneva' aus: angekündigt ist viel; geliefert wird wenig.

Emulatoren

Einen kleinen 'Boom' erleben Emulatoren. Über MagiCMac wurde sicherlich genug geschrieben. Die JanusKarte und der Gemulator werden wegen der Größe des PC-Marktes sicherlich noch Konkurrenz bekommen. Eine MagiCVersion, integriert in Windows oder OS/2, würde bestimmt noch einige Freunde finden. Und 'STonX' von Marinos Yannikos aus Wien ist ein interessantes Projekt, um GEM-Software auf Unix-Rechnern weiterzuverwenden.

Der Strom an Anwendungsprogrammen beginnt zu versiegen. Das muß man leider so hart formulieren, auch wenn es einige löbliche Ausnahmen (aus dem Stehgreif: Arabesque 2 oder der HTML-Viewer von Alexander Clauss) gibt. Tatsache ist, daß nur noch einige wenige Firmen ihre Produkte weiterentwickeln, und daß sich diese Lage kaum mehr ändern wird. Und wenn dann noch der Hersteller eines DTP-Programms eine nützliche (und überfällige) Verbesserung wie die Unterstützung langer Dateinamen nur in eine spezielle MagiCMac-Version einbaut, kann man sich schon die Haare raufen.

Nun werden viele fragen: "Was soll der Pessimismus? Was hat das in einer ATARI-Zeitschrift zu suchen?".

Ich bin der Meinung, daß es niemandem etwas bringt, wenn man ein Bild der ATARI-Szene entwirft, das einfach nicht der Wahrheit entspricht. Nach wie vor steht nur ein TT mit Crazy-Dots-Karte auf meinem Schreibtisch, und ich genieße die Software-Entwicklung mittels Pure C nach wie vor. Daß ATARI-Software einen beträchtlichen Teil der der Festplattenkapazität meines Apple PowerBook 520 belegt, ist ganz gewiß kein Zufall. Dennoch sollte man nicht seine Augen davor verschließen, daß es keinen neuen Aufschwung geben wird. Das ändert natürlich ganz und gar nichts an den vorhandenen Qualitäten der TOS-Maschinen. Und wer sich nicht aus zwingenden Gründen für eine andere Plattform entscheiden muß, ist sicherlich gut beraten, noch so lange wie möglich das Beste aus seinen Investitionen zu machen.

In diesem Sinne bis zum nächsten Monat!


Julian F. Reschke
Aus: ST-Computer 10 / 1995, Seite 93

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