Typografie - aber wie (1): Regeln, Anarchie und Zeitgeist

„Was ich noch nie über Typografie wissen wollt, aber herauszufinden gezwungen war“, so läßt sich vielleicht das Gefühl beschreiben, das all diejenigen überkommen mag, die sich zum ersten Mal ernsthaft mit den typografischen Möglichkeiten eines DTP-Programms auseinandersetzten oder sogar selbst eigene Schriftenentwürfe im Fonteditor zu realisieren suchen. Was „Schriftgestaltung“ ist und wie sie „funktioniert“, dazu gibt es zwar jede Menge Literatur, die einen aber noch viel zu oft gerade dort im Stich läßt. Wo es um die spezifischen Eigenheiten der DTP-Typografie geht. Erst sehr langsam wird man sich auch im Bereich des klassischen theoretischen Typogafentums der besonderen Möglichkeiten und Probleme der digitalen Schrift bewußt.

Noch zur Jahrhundertwende waren die Menschen an die Fraktur gewöhnt. Zeitungen, Bücher, Plakate: für all diese Medien wurde zu einem hohe Anteil diese Schrift benutzt. Sie war also für die Menschen ein ungefähr so gewohntes Bild, wie es für uns in den letzten 30 Jahren die „Times“ oder „Helvetica“ geworden sind.

Als nach 1940 in vielen Zeitungen auf die Antiqua (Serifenschrift, z.B. die Times) umgestellt wurde, gab es Proteste seitens der Leserschaft und sogar Kündigungen der Abonnements mit der Begründung, daß es eine Zumutung sei, diese neue Schrift zu lesen. Ähnlich reagierten die Menschen auch schon einige Jahrzehnte zuvor, als die ersten serifenlosen Schriften in Gebrauch kamen. „Grotesk!“ haben sie das genannt, was ihnen die neumodischen Schriftgestalter da vorsetzten. Und genauso werden diese Schriften ohne Serifen auch heute noch genannt.

An diesen Beispielen wird vielleicht schon deutlich, wie stark in einer bestimmten Zeit durch das Leseverhalten auch bestimmte Schriften besetzt werden. Dabei ist es den meisten heute sicher nicht bewußt, daß einige der immer noch wichtigen und vielgenutzten Groteskschriften vor inzwischen 50 bis 90 Jahren entwickelt wurden. Sie wirken heute noch ästhetisch und mitunter genauso „modern“, wie sie die Menschen Anfang des Jahrhunderts vor den Kopf gestoßen haben müssen. Die Frutiger, Futura, die Gill und die Helvetica sind in diesen Zeiten entstanden. Und wer kann heutzutage noch ein in der Fraktur gesetztes Buch ohne größere Anstrengung lesen? Typografische Gestaltung und Auswahl ist also immer auch Geschmacksache, oder besser: Zeitgeschmacksache. Und daß der Faktor „Gewohnheit“ eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt, zeigt sich auch in dem alten Typografenstreit, ob sich Serifenschriften besser lesen lassen als die in einer Grotesken gesetzten Texte. („Serifen“ sind in einer Schrift die geschwungenen oder auch eckigen Enden der Schriftzeichen („Times“), bei den „Grotesken“ fehlen diese („Helvetica“).

Die meisten längeren Texte werden heutzutage in einer Serifenschrift gesetzt. Eine häufig zu hörende Begründung: die meist horizontal ausgerichteten Serifen führen das Auge durch den Text und kompensieren so vielleicht ein wenig die durchgängig vertikale Ausrichtung der Schriftzeichen. Das machen sie in vielleicht 20 Jahren nicht mehr. Eine allgemein gültige Aussage über die Lesbarkeit von Schriftarten ist eben, wie die gerade erwähnten Beispiele zeigen, nur für einen begrenzten aktuellen Zeitraum möglich, bis diese irgendwann von einer anderen Gewohnheit abgelöst werden. Allgemeine typografische Regeln wie: „Für längere Texte sind Serifenschriften vorzuziehen“ oder: „In kürzeren Texten wirken Groteske besser“ stimmen natürlich,- aber eben nur so lange, wie sich die Mehrheit der Schriftsetzer gedankenlos daran hält, und eine zeitgemäße Lesegewohnheit diese Regeln weiter bestätigt!

Typografie und Layout

Typografie und Layout, die Gestaltung von Buchstaben und Schriften und deren Zusammensetzung zu Absätzen, Blöcken und Seiten also, sollen einem Leser grundsätzlich erst einmal nur ermöglichen, den Text in einem ästhetisch befriedigenden Umfeld und ohne große Anstrengung aufzunehmen. Diese beiden Elemente bilden aber letztlich eine Einheit, die nur zur besseren Darstellung voneinander unterschieden werden können.

In kleinen Broschüren oder Anzeigen hat eine typografische Anlage zudem einen andere Aufgabe zu erfüllen als in Texten, die vorrangig der Information dienen (z.B.in Zeitschriften) oder ein langes Lesen erwarten lassen, wie zum Beispiel in Büchern. Soll die Textaussage im Vordergrund stehen, sollten auch die typografischen Elemente eher ohne weiteren Aufmerksamkeitswert sein. Die beste Typografie ist hier die, die ein angenehmes Lesen ermöglicht und die man im übrigen gar nicht weiter wahrnimmt. Die Wahl der „richtigen“ Typografie wird sich hier also eher dem Bereich der bereits vorzufindenden Lesegewohnheiten anpassen.

„Lesbarkeit“ ist aber nur ein Kriterium der Textgestaltung. Ein Verkehrsschild stellt nun einmal andere Forderungen an die Lesbarkeit als ein Telefonbuch oder eine Verpackungsgestaltung. Beim „Paper“ eines Uni-Seminars mag der Wert eines Textes ausschließlich in seinem Inhalt liegen. In der Werbung wird aber auch der inhaltliche Wert einer Information (vor allem dann, wenn er erst gar nicht vorhanden ist...) durch die Art und Weise seiner Präsentation bestimmt.

So kann gerade hier, in der Werbung, eine eingeschränkte Lesbarkeit durchaus erwünscht sein und die Verwischung typografischer Eigenheiten sogar bis an die Grenze des Unleserlichen gehen. Ein schwer zu lesender (aber dennoch kurzer!) Text kann beispielsweise zu mehrmaligem lesen nötigen, zu genauerem Hinschauen - und schon ist manchmal der erste Werbezweck erfüllt. Mit einer anderen Art von eingeschränkter Lesbarkeit, die man sich in der typografischen Gestaltung zunutze machen kann, haben wir es zu tun, wenn Teile der Schrift erst gar nicht dargestellt werden. Das ist möglich, weil in unserem Sprachraum die oberen Teile eines Schriftzeichens differenzierter gestaltet sind als die unteren Teile. Sie enthalten damit ein Mehr an bedeutungstragender Information des Zeichens. Fehlt im unteren Bereich eines Textes etwas, ist dieser dann trotzdem nicht allzu schwer zu erkennen. Anders sieht es aus, wenn der obere Bereich abgedeckt wird. Im unteren Bereich der Schrift ist die Gestaltung undifferenzierter, sind sich die einzelnen Schriftzeichen also ähnlicher, und ist der Text deshalb überhaupt nicht mehr zu lesen.

Die elementaren archetypischen Formen, aus denen das „Sengai“, das ostasiatische Zeichen für Universum, aufgebaut ist, sind auch die 3 grundgeometrischen Formen unserer Schrift. Wen wundert es da, daß diese Formen auch in modernen Firmenlogos oder der zeitgenössischen Kunst wiederzufinden sind.
Die elementaren Formen unserer Schrift in der konstruktiven Kunst: „Kreis, Quadrat, Dreieck“ von Max Bill. Die optische Wirkung dieser Formen beruht auf ihrer extremen Gegensätzlichkeit. Auf die typografische Arbeit übertragen, läßt sich das Spiel mit derartigen Gegensätzen beispielsweise durch eine Kontrastwirkung von Schriftschnitten und wenigen Schriftstilen untereinander oder auch durch sorgfältig entschiedene Größenverhältnisse und Farben erreichen. Eine optimale Anordnung im Kontext (leere Seite, Gestaltung der Umgebung) schafft zusätzlich ein hohes Maß an Aufmerksamkeit.

Dieses mitunter unbewußte „Zurechtlesen“ eines verstümmelten Textes kann man sich in der typografischen Gestaltung auf mancherlei Art zunutze machen. DieTechniken zur Textverfremdung, die alles andere sollen als leseerleichternd sein, werden in kleineren übersichtlichen Drucksachen wie Leporellos oder Anzeigen nicht umsonst häufig auch als grafische Mittel genutzt. Das kann so weit gehen, daß eine Gestaltung aus ausschließlich typografischen Elementen besteht, die dann natürlich nur untergeordnet die Textinformation liefern. In diesem Bereich zu gestalten ist nicht einfach, Gefühl (jawohl: Gefühl) für Schrift und gestalterisches Know-How gehen hier Hand in Hand.

Eher psychologische Mechanismen sind auch im Satz längerer Texte von Bedeutung. Beim Lesen eines solchen Textes wird ja nicht jeder einzelne Buchstabe jedes einzelnen Wortes gelesen. Das Lesen eines Textes gestaltet sich eher als eine Art permanente „Stichprobe“ im Text, bei der regelmäßig gleich mehrere Wörter übersprungen werden. Hier kommt übrigens auch der bei uns gebräuchlichen Groß-/Kleinschreibung ein weiterer Vorteil zu. Genau wie der Gebrauch von Absätzen strukturieren die Versalien den Text und erleichtern das Lesen. Zum Vergleich: ein nur in Versalien (Großbuchstaben) gesetzter Text hat zwar immer den gleichen Zeilenzwischenraum und im Gegensatz zu nur in Minuskeln (Kleinbuchstaben) gesetzten Texten einen gleichmäßigeren Grauwert, aber gerade durch diese Gleichmäßigkeit, ohne strukturierende Elemente, wird das Lesen deutlich erschwert.

Schriftwahl und -qual

Im DTP-Bereich, dessen gestalterische Basis in erster Linie „Schrift“ ist, werden wir nun fast täglich mit dem Problem der „richtigen Schrift“ konfrontiert. Zur Auswahl einer Schrift gibt es dabei aber nie nur eine einzige zwingende und damit auch richtige Lösung, im Gegenteil. Man sieht sich zu Beginn seiner Arbeit einer Fülle der verschiedensten Schriften gegenübergestellt, von denen viele für einen bestimmten Zweck passend wären.

Ist man nach dem Auswahlverfahren: für welchen Zweck/Anlaß, Alt/Modern, Serifen oder nicht usw. zu dem Schluß gekommen, eine Groteske wählen zu müssen, steht immer noch eine Fülle unterschiedlicher Schriften zur Wahl. Um von diesem Punkt aus eine Entscheidung zu treffen, sind nun eigentlich nicht so sehr die typografischen Fachkenntnisse, sondern eher Aspekte wie die persönliche Vor- liebe von Bedeutung. Erik Spiekermann, einer der bekannten und durchaus konservativen Typografen unserer Zeit, hat diese Situation einmal schön formuliert:

„Jede Schriftentscheidung ist wieder Besuch im Restaurant: Je nachdem, ob man großen Hunger hat oder nur einen Happen braucht, ob es schnell gehen muß oder dauern darf, ob Geld eine Rolle spielt oder die Diät - es gibt eine Riesenauswahl, und am Ende nimmt man doch, was man schon kennt.“

Man nimmt das, was man schon kennt; wie in jedem alten Handwerk greift man auch in der typografischen Gestaltung häufig auf Bewährtes zurück. Das hat aber weniger mit der Angst vor Fehlentscheidungen zu tun, was in einem Restaurant ja schon mal passiert sein soll. Schrift ist ein Kommunikationsmittel. Im Restaurant werde ich meine Suppe alleine auslöffeln müssen, an meinem typografischen Menü werden aber unter Umständen Tausende lesend beteiligt sein.

Daß man den Schriftzug für ein „Kosmetik-Studio“ also nicht in einer fetten Grotesken anlegen sollte oder für das Logo eines Stahlwerks keine schöne Schreibschrift in Frage kommt, gehört dann auch häufig zu den ersten angewandten Regeln; die typografischen Lehrbücher sind voll von derartigen Beispielen.

Nebenbedeutung und Assoziationen

Fast allen typografischen Regeln liegen Erfahrungen aus vielen Jahrhunderten angewandter Schriftkunst zugrunde. Erst im letzten Jahrhundert begann man schließlich, nach einer eher langsamen Entwicklung der Schrift mit stark unterschiedlichen regionalen Einflüssen, die typografische Mittel auch auf ihre Effektivität als Mittel der Kommunikation hin zu überprüfen.

Nun aber generalisierende Aussagen darüber zu treffen, welche Schrift für einen bestimmten Zweck die größte Aufmerksamkeitswirkung hat, kann, wie oben bereits erläutert, nur für einen konkret begrenzten Zeitraum möglich sein. Genau wie die gesprochene Sprache befindet sich auch die geschriebene Sprache, die Schrift, in einer ständigen Weiterentwicklung. Neue Ideen schaffen neue Zusammenhänge, schaffen und bedingen damit auch neue Schriften in einem neuen Kontext. Und so ist es in unserem Medienzeitalter auch nicht weiter verwunderlich, daß gleichzeitig so viele verschiedene und auch eigenständige Schriftstile zur Verfügung stehen, wie dies nie zuvor in der gesamten Geschichte der Schriftkunst der Fall war.

Diese „typografische Inflation“ spiegelt natürlich auch den Zeitgeist wider, wobei vor allem durch die und in der Werbung die „Schrift an sich“ zu einem Idiom, zu einer auch grafisch erfaßbaren Gleichung für ihren eigentlich gemeinten Inhalt wurde.

Im Grunde haben wir es hier also nicht mit einer starren und immer gültigen Regel zu tun. Was hier wirkt, ist viel eher die mehr oder weniger individuelle Zuordnung eines Schriftbildes zu einem Objekt. In der Linguistik (Sprachwissenschaft) spricht man zum Beispiel recht unverständlich, aber dennoch treffend, allgemein von einer „Konvergenz der linguistischen und ikonischen Aussage“, wenn also die Wortbedeutung und der für dieses Wort genutzte Schriftstil direkt übereinstimmen.

Diese „ikonische Aussage“, die Gestalt der Schrift und ihre damit einhergehende Wirkung auf den Betrachter, ist in diesem Zusammenhang denn auch ein recht tückisches Ding und eher von psychologischen und soziologischen Kriterien abhängig als von irgendwelchen typografischen Gestaltungsregeln: Ein Text wird gelesen und gleichzeitig, normalerweise unbewußt, als Bild betrachtet. Dieses grafische Erfassen von Schrift macht man sich ja auch bei der Gestaltung von Firmen-Logos zunutze, um den Firmennamen als Wortmarke prägnant herauszustellen. Der Wiedererkennungseffekt bezieht sich dann nicht in erster Linie auf den Textinhalt oder den Namen, sondern das Wort wird in seiner gesamtem Gestalt und Farbgebung quasi grafisch erfaßt. Das „Aussehen“ der gewählten Schrift setzt auch unabhängig vom Textinhalt zusätzliche Assoziationen frei, die sogar den eigentlichen Textinhalt überdecken können. An was würden Sie zum Beispiel denken, wenn der Titel dieser Zeitschrift in der Fraktur gesetzt würde? Was für Inhalte würden dadurch für Sie ganz persönlich vermittelt? Vor allem in der Werbung wird mit diesen durch die Schriftwahl freigesetzten Assoziationen gespielt. Bei einer Verpackungsgestaltung beispielsweise läßt die Gestalt einer Schrift in Verbindung mit der gesamten Verpackung Nebenbedeutungen anklingen, die der potentielle Kunde dann unbewußt beispielsweise mit jugendlich, frisch, kostbar, natürlich usw. übersetzen soll und auch kann. Das Wissen um solche Nebenbedeutungen in der Schrift ist dabei nicht auf das typografische Expertentum beschränkt. Es gab in den letzten 50 Jahren gleich mehrere empirische Untersuchungen, bei denen sich unter anderem auch herausstellte, daß viele der weit verbreiteten Schriftarten sowohl für Fachleute als auch für Typo-Laien die gleichen, klar unterscheidbaren Bedeutungen haben. Man darf sich also bei der typografischen Gestaltung nicht immer nur auf den theoretisierenden Kopf, sondern etwas öfter auch auf sein eigenes Gefühl verlassen ...

Frakturtext
In unserer Schriftsprache ist der obere Bereich der Schriftzeichen deutlich differenzierter gestaltet und enthält somit auch mehr Informationen. Ein Effekt, den man sich auch in der grafischen Arbeit zunutze machen kann. Im Vergleich zwischen einer Serifenschrift und einer Groteske wird ein Vorteil der Serifenschrift deutlich. In ihr sind normalerweise auch die unteren Hälften der Schrift in vielen Zeichen differenzierter angelegt und lassen sich somit insgesamt leichter lesen.

Die Struktur des Trivialen

Zum Beispiel „Stahlwerk“: das ruft nach Vokabeln wie schwer, unbeweglich, groß, emotionslos, maskulin. Und genau nach diesen Assoziationen wird dann normalerweise auch die Schrift gewählt, das heißt, sie wird für Sie dann am besten „passen“, wenn auch sie schwer, unbeweglich, groß usw. wirkt. Für das „Kosmetik-Studio“ wird genauso verfahren, dann mit Begriffen wie beispielsweise ästhetisch, fein, modisch und feminin. Allgemeine, gesellschaftlich akzeptierte, aber auch persönliche Assoziationen und Vorstellungen spielen bei der Schriftwahl fast immer die entscheidende Rolle.

Diese Art des Vorgehens bei der Schriftwahl hat also wie so vieles auch einen tiefer sitzenden psychologischen Kern. Nur als rein dogmatisch praktiziertes Arbeitsgerüst sollte man das, wie bei allen „bewährten Regeln“, nun dennoch nicht nehmen! Problematisch wird diese „Konvergenz“ zum Beispiel dort, wo der textliche Inhalt durch eine zu starke Anpassung („Ikonisierung“) verdeckt wird und nur noch schwer identifizierbar ist (Bild 6). Auch läßt sich ein derartiger Umgang mit Schrift nur auf recht kurze Begriffe anwenden, die sich auf einen Blick erfassen lassen. Sobald man erst anfangen muß, dem Text über mehrere Worte zu folgen, wird eine rein grafische Erfassung der Typo unmöglich und typografische Gestaltung zum Hindernis.

Verdoppelungen oder Mehrfacherwähnungen einer einzigen Aussage durch Wortinhalt, Typo und Bild haben aber auch Nachteile. Wenn all diese Elemente nur eine einzige Idee beschreiben, also die im Hintergrund stehende Nebenbedeutung, kann eigentlich auch keine innere Spannung aufgebaut werden. Derartige Gestaltungen landen, wenn man es gar zu doll treibt, schnell in der Nähe von grafischer Banalität und Kitsch (z.B: Sonnenuntergang PLUS Liebespaar PLUS Meeresufer PLUS Move PLUS entsprechender Typo z.B. Englische Schreibschrift).

Letztendlich halte ich es persönlich aber für grundsätzlich falsch, Patentrezepte dafür zu erteilen, in welcher Situation welche Schrift zu wählen ist, um dieses oder jenes damit zu erreichen. Typografische Mittel „richtig“ ersetzen heißt nicht, sie immer nur dogmatisch den Regeln entsprechend zu verwenden! „Richtig“ bedeutet, daß diese Mittel den gewünschten Zweck Ihrer eigenen Intention entsprechend erreichen, also beim Leser auch das an Nebenbedeutungen hervorzurufen in der Lage sind, was Ihnen selbst beim Gestalten im Sinn war. Grundsätzlich sollte dann auch nichts dagegensprechen, für ein Kosmetik-Studio eine fette Triumvirat zu wählen, wenn man weiß, was man da tut, und wenn das damit einhergehende Brechen von Lesegewohnheiten auch bewußt eingesetzt wird, um etwas ganz Konkretes damit zu erreichen.

Wenn eine bestimmte Schrift für eine bestimmte Textgestaltung sehr häufig verwendet wird, muß das also nicht zwingend auch für Ihr Gestaltungsvorhaben die Ideallösung bedeuten. Ich persönlich bin zum Beispiel grundsätzlich immer erst einmal skeptisch, wenn ich gesagt bekomme, daß „das ja alle so machen“.

Aber auch hier ist es so, wie in jeder anderen Kunst auch: Über Vorgaben und Regeln zur Gestaltung kann (und sollte!) man sich erst dann hinwegsetzen, wenn einem diese Vorgaben und Regeln auch vertraut sind. Es sei also jedem nahegelegt, eingefahrene Patentlösungen zu erkennen und zu überdenken, mit dem Schriftbild zu experimentieren, um dann zu neuen, eigenen Lösungen zu gelangen. Aber noch einmal: Gut wird es bestimmt erst dann, wenn man weiß, was man da tut, und warum die anderen es anders machen!

Bild 5a/b: Der gewählte Schriftstil kann den eigentlichen Wortinhalt grafisch widerspiegeln, wie die nervöse Headline aus einer Pharmawerbung zeigt In die Nähe von typografischem Kitsch gerät man, wenn der textliche Inhalt durch eine zu starke Anpassung der Typo verdoppelt oder sogar überdeckt wird.
Bild 6: Typografische Gestaltung setzt auch Assoziationen frei. Dies geschieht meistens unbewußt und nicht so deutlich wie in diesem Beispiel.

Schriftgestaltung und Textanordnung (Otto Maier Verlag);

Erik Spiekermann:
Ursache & Wirkung (Context)


Jürgen Funcke
Aus: ST-Computer 08 / 1993, Seite 56

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