Interview mit R. Thiel: Wenn man einfach drauf losarbeiten könnte...

Die Computerbranche steckt derzeit systemübergreifend in einer Krise. Kein Wunder, daß da auch in der ATARI-Gemeinde im Moment Gerüchte höher im Kurs stehen als die nur spärlich durchsickernden Fakten. Wer jedoch mit seinem System professionell arbeitet, also sein tägliches Geld verdienen muß, benötigt qualitativ hochwertige Werkzeuge, die auch noch in den nächsten Jahren weiterentwickelt und gepflegt werden. Vor diesem Hintergrund sprachen wir mit Raimund Thiel, Software-Entwickler bei DMC, über die aktuelle Situation des DTP mit Calamus SL.

STC: Herr Thiel, nach letzten Verlautbarungen von Jack Tramiel will ATARI für die nächste Zukunft nur noch den Consumer-Markt bedienen. Der TT ist als wichtige DTP-Plattform zwar immer noch lieferbar, jedoch müßten die derzeitigen "Marketingstrategien" ATARIS die Firma DMC, die ja ganz wesentlich vom DTP-Markt lebt, ganz schön irritieren. An der Einführung von Calamus SL unter Windows NT für den PC-Markt wird bei DMC ja bereits im Endstadium gearbeitet ...

R. Thiel: Also, mir kommt das manchmal so vor, als ob ATARI da eine gezielte Desinformationspolitik betreibt. Es gibt Gemunkel, daß da doch noch eine große Maschine kommt. Das scheint sich inzwischen auch ein bißchen zu verdichten, aber auch wir wissen da noch nichts Genaueres. Wenn so etwas kommt, wären wir froh und glücklich. Wenn man aber als Firma überleben will, muß auch ein gewisses Wachstum da sein, und dieses Wachstum ist zur Zeit so im ATARI-Markt nicht vorhanden. Wir müssen also auch irgendwo anders hingehen und bemühen uns wirklich, das so zu halten, daß unsere bisherigen Kunden im ATARI-DTP durch die Portierung des Calamus auf Windows NT keine Nachteile, sondern eher Vorteile haben.

STC: Wie werden diese Vorteile des NT-Calamus für die ATARI/Calamus-Anwender aussehen, und wie kompatibel wird sich die Zusammenarbeit zwischen beiden Systemen gestalten?

R. Thiel: Man arbeitet in einem heterogenen System. Man hat also hier seinen 486er oder seine RISC-Workstation mit Windows NT und seinen ATARI TT, und benutzt das, was gerade am günstigsten ist. Grundsätzlich wird man die Dokumente vom Windows NT auf den ATARI übernehmen können und umgekehrt. Die FontFormate, die im Moment vom NT-Calamus unterstützt werden, sind True-Type und das CFN-Format des Calamus. Ob auch Type 1-Fonts genutzt werden können, ist noch nichtentschieden. Das ist aber weniger ein technisches als ein Lizenzproblem, man wird sehen. Die Ausgabe selbst erfolgt über verschiedene Möglichkeiten. Man kann entweder wirklich über Postscript gehen, oder aber, wie bisher, Softripping machen. Problematisch in der Kompatibilität sind immer nur die rechnerplattformspezifischen Sachen. Auf NT müssen wir schon DDE und OLE unterstützen, die zum NT-Betriebssystem dazugehören und vom ATARI-Betriebssystem nicht geboten werden. (DDE/OLE: Dynamic data exchange/Objekt link embedding; wenn beispielsweise ein im Dokument bereits vorhandenes Bild in einem externen EBV-Programm nachträglich modifiziertwird, werden diese Änderungen automatisch ins Dokument übernommen. Anm. JF). Ob diese Funktionen nun sinnvoll sind oder nicht; wenn so etwas im NT Calamus beispielsweise für ein Bild genutzt wird, ist in diesem CDK auf dem ATARI halt ein leerer Rahmen.

STC: Das neue SL-Update ist ja das vorletzte reguläre Update, vor Fertigstellung des ursprünglich angestrebten Funktionsumfangs. Inwieweit trifft es bereits den im Handbuch angestrebten Calamus?

R. Thiel: Zuerst einmal sind jetzt schon viele Funktionen und Möglichkeiten im Calamus vorhanden, die es vorher nicht gegeben hat. Was noch fehlt, sind im wesentlichen die Schmuckfarbenseparation, Schusterjungen und Hurenkinder. Wir bemühen uns, die so bald wie möglich fertigzubekommen. Die anderen noch fehlenden Funktionen sind eher Kleinigkeiten, wie beispielsweise das Histogramm für Bilder. Diese Sachen sind aber auch durch extern entwickelte Module in Richtung EBV erweiterbar, das ist ja gerade das Schöne an der modularen Struktur des SL. Die Modulentwicklung von Fremdanbietern kommt ja eben erst ins Laufen: Die Firma Matrix hat jetzt gerade ein Modul für die MatDigiKarte entwickelt, das die Bilder direkt in den Calamus übernehmen kann, von anderen Entwicklern istauch ein zusätzliches Barcode-Modul erschienen. Kleinigkeiten, aber es wird.

STC: Stichwort EBV. Auf der ATARI-Messe'92 wurde eine neue DMC-Bildverarbeitungs-Software, "PhotoArt", vorgestellt, die damals auf große Resonanz stieß. Seitdem hört man von diesem Programm gar nichts mehr.

R. Thiel: PhotoArt ist ein Beispiel dafür, daß eine Zusammenarbeit schiefgegangen ist. Das Programm, das ursprünglich in Frankreich entwickelt wurde, war immer noch in einem Zustand, in dem man es nicht hätte ausliefern können, und ist dann nicht fertig gemacht worden, ganz einfach. Der Programmierer ist gerade beim Militär, und so ist da im Moment erstmal Ruhe. Vielleicht gibt's ja auch irgendwann ein "Chagall"-Modul.

STC: Ein Schwachpunkt im SL ist derzeit sicher noch das PKS-Modul, das eine externe Textverarbeitung überflüssig machen soll. Auch im neuen SL-Update befindet sich lediglich die 1.0-Version von PKS, wie schon im letzten Update vor Jahresfrist. Wie sieht hier der Stand der Entwicklung aus?

R. Thiel: Einige der Calamus-Module, wie auch PKS, werden nicht direkt bei DMC, sondern von externen Programmierern entwickelt, und da hat man die Termine halt nichtgenau im Griff. PKS ist aber immer noch ein sehr wunder Punkt. Vor allem aber auch deswegen,weil die Berliner Firma, die das Modul programmiert, im Moment nichts mehr an diesem Modul macht! Und die vorhandenen Probleme liegen wirklich am Modul; das weiß auch jeder Anwender, daß das nicht der Calamus ist.

STC: Aber alle Module zusammengenommen SIND Calamus ...

R. Thiel: Das stimmt schon, und wir werden da sicher auch etwas tun. Im Moment haben wir zwei Möglichkeiten in Aussicht. Ich kann dazu aber jetztnicht mehr sagen.

STC: In der gesamten Computerbranche herrscht im Moment große Unsicherheit. Das trifft in erster Linie sicher auf die Hard- und Software-Hersteller und den Handel zu, aber letztlich auch auf die Anwender, die mit dem Computer ihr Geld verdienen. Gerade DMC ist ja eine Firma, zu der besonders aus dem ATARI-DTP-Bereich alle ein bißchen genauer hingucken. Wenn bei euch irgend etwas falsch läuft, hat das ja immer auch Konsequenzen für alle diejenigen Anwender, die mit ATARI-DTP professionell arbeiten.

R. Thiel: Wir haben uns früher einfach hoffnungslos überschätzt. Das passiert jetzt immer noch, aber nicht mehr in diesen Dimensionen. Irgendwie ist das ja auch fast schon ein Gesetz in der Software-Entwicklung, von dem wirklich niemand ausgeschlossen ist: Überall wird Software zu einem bestimmten Termin angekündigt und erscheint dann doch wesentlich später. Man verplant sich, weil ganz oft diese „letzten Kleinigkeiten" unterschätzt werden, und diese letzten Kleinigkeiten fressen dann meist den größten Teil der Entwicklungszeit. Dazu kamen auch vor einiger Zeit einige interne Probleme. Man weiß dann aber genau, da sind jetzt Tausende, wirklich Tausende von Anwendern, die leben von unseren Produkten und verdienen ihre Brötchen damit. Das ist schon eine unheimliche Verantwortung, die man da manchmal spürt. Wenn man einfach drauf Iosarbeiten könnte, das wäre toll, aber da sind halt die Einschränkungen. Wir haben oft genug auch die Idee, wirklich was ganztolles Neues zu machen, wenn wir die Zeit dafür hätten. Nur müßten wir dann den Calamus erstmal liegenlassen, und das würde die Leute dann doch wohl durcheinander bringen. Deswegen versuchen wir den Calamus ja auch so gut wie möglich fertigzustellen, so daß wir auch mal irgendwann die Zeit finden können, etwas Neues zu machen. Eine Sache, die vielleicht noch besser ist und noch toller. Ideen haben wir genug ...

STC: Wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Mit Raimund Thiel sprach Jürgen Funcke



Aus: ST-Computer 08 / 1993, Seite 62

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