Chemotech - Reaktion im ST

Spätestens nach der ersten Vorlesung in Physikalischer Chemie dürfte sich ein angehender Chemiker darüber im klaren sein, dalt neben der praktischen Arbeit im Labor auch der mathematisch-physikalische Aspekt des Chemiestudiums nicht unterschätzt werden darf.


Bild 1: Das chemische Menü ist angerichtet

Bereits in den Anfängerpraktika gibt es einiges zu berechnen und nachzuschlagen. Wer hat sich nicht schon mit dem Massenwirkungsgesetz, der Gibbs-Helm-holtz-Gleichung und ähnlichen Themen beschäftigen müssen? Auch in der Schule hat man hiermit zu kämpfen. Da Chemiker mit Mathematik und Physik naturgemäß auf dem Kriegsfuß stehen (höre ich Widerspruch?), gibt es durchaus Bedarf für Programme, die hier mit Rat und Tat zur Seite stehen. Das Chemieprogramm Chemotech, das mir in der Version 1.2 zum Test vorlag, soll dem Chemiker hier das Leben versüßen. Chemotech stellt diverse Möglichkeiten zur Verfügung, chemische Berechnungen durchzuführen (Bild 1). Wie man sieht, werden in erster Linie Themen aus der physikalischen und der anorganischen Chemie abgedeckt. Viele Optionen entsprechen in ihrer Auswahl den Standard versuchen, die in den Praktika auf diesen Gebieten durchgeführt werden, so daß man bereits zu Beginn des Chemiestudiums Einsatzmöglichkeiten für Chemotech finden dürfte.

Ein wenig Thermodynamik muß sein

Sehen wir uns einmal an Beispielen näher an, was Chemotech zu leisten vermag und wie Berechnungen mit diesem Programm durchgeführt werden. Es soll darum gehen, die Enthalpieänderung AG° der Reaktion

N2+3H2 -> 2NH2

bei einer Temperatur von 298.15 K zu berechnen. Chemotech stellt hierzu einen Dialog zur Verfügung, der die Formeln und Molzahlen der Produkte und Edukte nacheinander abfragt. (Leider ist es nicht möglich, die ganze Reaktionsgleichung in einem Schritt einzugeben.) Nachdem noch die Reaktionstemperatur angegeben wird, erscheint das Ergebnis auf dem Bildschirm: -33.077 kJ/mol (Bild 2).

Als nächstes interessiert mich die Gleichgewichtskonstante ln K für die obige Reaktion. Den Dialog zur Berechnung von Gleichgewichtskonstanten versorge ich zunächst mit dem vorher berechneten Wert für AG°. Nun wird noch die Temperatur eingegeben und das Ergebnis lautet: ln K = 13.34 (Bild 3).


Bild 2: Berechnung der freien Enthalpie

Integrierte Datenbank

Kann Thermodynamik wirklich so einfach sein, werden sich viele Leser nun sicherlich fragen. Schließlich gewinnt man in den entsprechenden Vorlesungen meist einen anderen Eindruck. Außerdem benötigt man zu Rechnungen wie im obigen Beispiel einige thermodynamische Daten der Reaktionspartner, die jedoch nicht von mir eingegeben wurden.

In der Tat, dieser Ein wand ist berechtigt. Und genau hier zeigt Chemotech seine Stärke: Neben den Rechenroutinen ist im Programm nämlich auch eine Datenbank integriert, die thermodynamische Daten wichtiger Verbindungen und Elemente enthält (Bild 4). Auf diese Daten kann Chemotech bei vielen Berechnungen zurückgreifen, was eine enorme Hilfe darstellt. Grundlage der Datenbank ist wohl das “Handbook of Chemistry and Physics”, so daß alle Daten auf einer anerkannten Grundlage stehen. Ein Erweitern und Verändern der Datenbank ist kein Problem, wird aber nur selten notwendig sein, denn die 3600 Verbindungen, die bereits vom Lieferumfang abgedeckt werden, dürften für die weitaus meisten Rechnungen ausreichen. Liegt dennoch eine Vergrößerung des Datenbestandes an, ist ein Rechner mit mehr als 1 MB Hauptspeicher fast ein Muß. (Bei knappem Speicher stellt Chemotech übrigens eine zweite Datenbank von geringerem Umfang zur Verfügung, die alternativ verwendet werden kann.)

Weil es so schön war, noch einmal

Ermutigt durch die bisherigen Erfolge soll nun ein Beispiel aus der Massenspektrometrie folgen. Es geht darum, zu einer gegebenen Molmasse mögliche Summenformeln zu ermitteln. Chemotech fordert als Eingaben die Elementsymbole derjenigen Elemente, die in der Verbindung enthalten sein können, und natürlich die Molmasse der unbekannten Substanz. Ich wähle zum Test die Daten einer Verbindung, mit der ich mich selber während eines Praktikums herumschlagen mußte:

Molmasse: 230.33 g/mol
Mögliche Elemente: C,H,0,S,N,Br,CI,F

Chemotech verlangt von mir zunächst die Eingabe der Elemente, die in meiner unbekannten Verbindung enthalten sein können. Leider muß ich zusätzlich zu jedem Element die Atommasse eingeben, obwohl diese Werte doch bereits in der integrierten Datenbank enthalten sind. Nun gut, ich beiße in den sauren Apfel und gebe die Massen per Hand ein, oder besser gesagt, ich versuche es. Denn dummerweise erlaubt Chemotech an dieser Stelle nur die Angabe ganzer Zahlen, so daß mir diese Funktion bei meinem Problem nicht weiterhelfen kann. Mindestens zwei Nachkommastellen sollten bei der Eingabe von Atommassen schon möglich sein. (Falls manchen Lesern nun der Kopf raucht: Bei der unbekannten Verbindung handelte es sich um Dibenzylsulfoxid. Hätten Sie’s gewußt?)


Bild 3: Gleichgewichtskonstante gefällig?

Handbuch und Lieferumfang

Klar, daß es zu Chemotech auch eine Programmbeschreibung gibt, die bei mir jedoch einen zwiespältigen Eindruck hinterlassen hat. Der Autor hat es versäumt, bei der Beschreibung einiger Programmfunktionen die Beziehung zu den eigentlichen Rechenroutinen deutlich zu machen. So wird erklärt, wie man mit Chemotech zwei Bildschirme verwalten oder einen Bildschirmbereich ausschneiden kann, ohne daß zunächst klar wird, welchen Nutzen diese Funktionen für das praktische Arbeiten mit Chemotech haben können. Erst gegen Ende des Handbuchs lichtet sich das Dunkel ein wenig.

Ein gewisses Unbehagen erzeugen Bemerkungen wie “Mir sind keine so schwerwiegenden Fehler bewußt, aber sie können dennoch auftreten,...”, mit denen der Autor den Anwender darauf hinweist, daß Fehler im Programm nie auszuschließen sind. Man bekommt hier den Eindruck, der Autor traue seinem eigenen Produkt nicht über den Weg.

Zweifellos angenehm ist es, daß ein Teil des Handbuchs sich mit den Gesetzen beschäftigt, die die Grundlagen der Berechnungen bilden, die mit Chemotech durchgeführt werden könnnen. Selbstverständlich kann dieser Abschnitt kein Lehrbuch ersetzen, was auch nicht in der Absicht des Autors liegt, aber wichtige Zusammenhänge werden hier in prägnanter Form zusammengefaßt. Was den Lieferumfang des Programms betrifft, ist erwähnenswert, daß man beim Kauf von Chemotech gleichzeitig das Recht auf zwei Updates erwirbt. Man sieht, es wird weiter an diesem Programm gearbeitet.

Genug Chemie für heute

Nachdem der chemische Teil des Programms unter die Lupe genommen wurde, soll nach dem Chemiker noch der Programmierer in mir zu Wort kommen, um sich über den Bedienungskomfort von Chemotech auszulassen. Dieser läßt nämlich zu wünschen übrig. Dadurch, daß in Chemotech keine Standard-Dialogboxen verwendet werden, gestaltet sich das Arbeiten etwas gewöhnungsbedürftig. Auch die Bedienung der Dialoge geschieht nicht nach GEM-Richtlinien. Leider können sich immer noch nicht alle Programmierer dazu durchringen, gewisse Grundsätze bei der Programmerstellung einzuhalten.


Bild 4: Ein Blick in die integrierte Datenbank

Der Bildschirm wird nach dem Verlassen eines Dialogs nicht rekonstruiert, so daß die letzte Dialogbox auf dem Bildschirm erhalten bleibt. Man sieht so nie ganz richtig, ob man sich noch im Dialog befindet oder diesen bereits wieder verlassen hat, da Buttons nach dem Verlassen eines Dialog noch nicht einmal invertiert werden. Nur an der Tatsache, daß die Menüleiste wieder bedient werden kann, erahnt man, daß der Dialog wohl beendet ist. Positiv fällt auf, daß aus Chemotech heraus Disketten formatiert werden können. So sitzt man nicht in der Klemme, wenn man feststellt, daß zum Abspeichern neuer Daten der Platz auf Disk knapp wird. Alles in allem sollte der Programmierer an der Bedienung des Programms unbedingt noch feilen.

Zum guten Schluß

Eine abschließende Bewertung von Chemotech darf natürlich nicht fehlen: Das Programm bietet eine ganze Reihe von Möglichkeiten zur Berechnung thermodynamischer Daten. Besonders erwähnenswert ist die integrierte umfangreiche Datenbank, die es ermöglicht, Berechnungen durchzuführen, ohne ständig in der Fachliteratur nach thermodynamischen Daten suchen zu müssen. Somit wird Chemotech den Ansprüchen, die es stellt, sicherlich gerecht. Leider wird die Datenbank nicht bei allen Berechnungen konsequent ausgenutzt. Ein Einsatz von Chemotech “vor Ort”, also im Labor, dürfte aus praktischen Gründen nur in wenigen Fällen möglich sein. Ich persönlich jedenfalls werde mich davor hüten, meinen ST mit ins Labor zu nehmen. Selbst bei gut ziehenden Abzügen muß man doch mit einer erhöhten Korrosionsgefahr rechnen. Zu Hause ist das gute Stück immer noch am besten aufgehoben.

Bei der Auswertung von Praktikumsversuchen, beim fortgeschrittenen Chemie-Unterricht in der Schule, oder dann, wenn man regelmäßig Rechnungen aus dem Gebiet der Thermodynamik durchführt, kann man Chemotech sicher gewinnbringend einsetzen. Für viele Aufgaben würde es allerdings auch ein programmierbarer Taschenrechner tun. Übrigens: Chemotech läuft nur in Verbindung mit einem SM 124 und ist zum Preis von 159 DM erhältlich.

Bezugsadresse: Chemo-Soft Nadorster Straße 81 2900 Oldenburg 17


Uwe Seimet
Aus: ST-Computer 10 / 1990, Seite 164

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