Grafik-Profis am ST hatten bis jetzt nicht das geeignete Werkzeug, um professionelle Schwarzweißreproduktionen herzustellen. Zwar gab und gibt es das Programm RETOUCHE. Doch durch das eingeschränkte Bildformat von 640 * 400 Bildpunkten war an hochwertige Lithografien in Größen bis DIN A2 nicht zu denken. Außerdem rief die (noch) sehr kleine Gemeinde der “ATARI-Lithografen" nach Software, die die Leistungen von Grafikkarten nutzen kann. Ihr Rufen wurde erhört: RETOUCHE ist endlich erwachsen geworden! RETOUCHE PROFESSIONAL macht seinem Namen alle Ehre.
Geliefert wird RP in einem edlen schwarzen DIN A4-Ordner, satte drei kg schwer. Die Software befindet sich auf drei Disketten - einer Programmdiskette und zwei Discs mit Bildern. Die einzelnen Funktionen des Programms werden sehr detailliert erklärt, allerdings wäre ein Tutorial wie bei der kleinen Version von Retouche durchaus nicht fehl am Platze.
Bevor Sie sich die einzelnen Programmpunkte ansehen, werfen wir einen Blick auf den konzeptionellen Aufbau von RP: RP ist ein professionelles Programm. Die Entwickler sind davon ausgegangen, daß der durchschnittliche Anwender über eine Grafikkarte und einen entsprechenden Bildschirm verfügt. Sie können mit RP auch nur mit dem SM 124 arbeiten - allerdings sehen Sie das Bild dann nur gedithert. Professionelle Retusche von Halbtonbildern setzt voraus, daß Sie diese auch als solche sehen können. Deswegen arbeitet Retouche Professional mit gängigen Grafikkarten (z.B. MGE) zusammen. Sie sehen die gescannte Vorlage also mit 256 Graustufen. Das Bild wird zum Teil oder ganz, je nach Größe, im internen Speicher der Grafikkarte abgelegt. Dadurch kann es nahezu blitzartig hin- und hergeschoben werden. Auch das Zoomen geht atemberaubend schnell. Außerdem hat die Arbeit an einem Graustufenmonitor einen weiteren gewichtigen Vorteil: Alle Bedienungselemente, Parameter und Werkzeuge werden auf dem SM 124 dargestellt, auf dem Graustufenschirm befindet sich das Bild in seiner vollen Größe. Ein Druck auf die Escape-Taste schaltet zwischen den beiden Schirmen um: Der Mauszeiger springt einfach von einem in den anderen: arbeiten Sie nur mit einem Monitor, muß zuerst die “Werkzeugseite" gelöscht und dann die Grafikseite aufgebaut werden. Das “Zwei-Bildschirm-Konzept” erlaubt also extrem zügiges Arbeiten.
Man merkt, daß die Entwickler dem Punkt Bedienerführung sehr viel Aufmerksamkeit gezollt haben. Zwar erscheint der Werkzeugbildschirm auf den ersten Blick enttäuschend leer: Die Miniaturen der maximal 10 Bilder, die RP verwalten kann, befinden sich in der linken oberen Ecke. Rechts davon finden Sie das Auswahlmenü für die verschiedenen Stiftgrößen und -formen. Die rechte obere Ecke wird mit dem Übersichtsfenster ausgekleidet. Im unteren Bereich der Seite sind Graukeil und die verschiedenen Werkzeuge angesiedelt. Wie gesagt, auf den ersten Blick etwas wenig, aber beim Anklicken der einzelnen Funktionen erscheint direkt neben dem Mauszeiger ein Pop-Up-Menü, welches je nach Funktion bis zu zehn Untermenüs besitzen kann. Haben Sie eine Funktion bereits einmal angewählt, steht der Mauszeiger bei erneutem Aufruf bereits auf dem entsprechenden Eintrag. Viele Funktionen können auch direkt über die Tastatur eingegeben werden. Dadurch entfällt sogar das Umschalten auf den Werkzeugbildschirm. Kurz gesagt: Das Arbeiten mit RP wird auch eingefleischte GEM-Menü-Fans oder Pictogramm-Fanatiker über zeugen.
Wie gesagt, RP kann bis zu 10 verschiedene Bilder gleichzeitig verwalten. Diese können jeweils bis zu 4096 x 4096 Bildpunkte groß sein. Sie sehen schon, daß mit herkömmlichen Methoden der Bildorganisation nicht gearbeitet werden kann, würde doch schon ein solches Bild knapp 16 MB beanspruchen. Also haben die Entwickler von RP die virtuelle Speicherverwaltung implementiert. Ein virtueller Speicher ist ein nur scheinbarer, ein gedachter Speicher zur Ergänzung des Arbeitsspeichers. Er befindet sich auf der Festplatte und überträgt seinen Inhalt in den Arbeitsspeicher, wenn er dort benötigt wird. Die Geschwindigkeit der Bildbearbeitung hängt dann in hohem Maße von der Geschwindigkeit und Kapazität der Festplatte ab.
Für jedes Bild können Sie einen Undo-Puffer einrichten, praktisch eine Kopie des Bildes. Auf Tastendruck wird dieser aktualisiert bzw. mit dem Bild vertauscht, um “Patzer" auszubügeln. Freilich benötigt auch der Undo-Puffer genauso viel Speicher- bzw. Festplattenplatz wie das Bild selber.
Auch beim Import und Export von Bildern ist RP sehr flexibel. In erster Linie wird ein Scanner das Programm mit Bildmaterial versorgen. Außerdem können alle gängigen ST-Farbgrafikformate geladen und grauwertrichtig umgesetzt werden. “Leib- und Magenformat" von RP ist das TIFF-Format, Standard auf PC und Mac. Exportieren können Sie mit Hilfe des Rasterexport-Moduls. Es rastert Ihre Bilder entsprechend der gewählten Auflösung (z.B. 300 dpi für Laserdrucker oder bis zu 2540 dpi für einen Linotronic-Belichter) auf und speichert sie im .IMG-oder .CRG-Format. Wundern Sie sich nicht über die Größe der Datei - bei 2540 dpi kann die Festplatte schnell voll sein!
Die zweite Export-Möglichkeit ist die Ausgabe als PostScript-Datei oder die Ansteuerung von PostScript-Geräten. Außerdem übernimmt das Exportmodul von RP die Ansteuerung des ATARI Lasers SLM 804.
Das Rastermodul greift auf eine Rasterbibliothek mit über 100 verschiedenen Rasterweiten und -winkeln zurück. Diese Raster wurden übrigens mit viel Mühe von Hand optimiert und gewährleisten einen wirklich linearen Grauwertanstieg. Mit Hilfe des Rasterexportmoduls ist auch die sog. Endrasterkontrolle möglich, d.h. man kann selbst bei einem 100er-Raster bei 1000 L/cm jeden einzelnen Rasterpunkt betrachten.
Eine weitere Novität bei Bildverarbeitungsprogrammen ist die Verwendung von Vektorpfaden.
Diese bieten sich immer dort an, wo auf einem bestimmten Weg (z.B. einem Umriß) ein Werkzeug mehrfach oder verschiedene Werkzeuge nacheinander eingesetzt werden. Von Hand ist es nahezu unmöglich, den gleichen Weg mehrfach exakt abzufahren - auf einem einmal angelegten Pfad dagegen ist dies kein Problem. Das Anlegen der Pfade ist sehr einfach möglich. Durch ein paar Mausklicks legt man Linien und Bézierkurven an. Diese haben keine - wie z.B. bei Outline Art oder MegaPaint - Stützpunkte. Die Linie geht direkt durch die vier gesetzten Punkte. Um den Verlauf der Kurve zu ändern, “fassen" Sie einfach mit dem Mauszeiger irgendwo in der Kurve an und trimmen Sie zurecht. So habe ich mir immer den Umgang mit Bézierkurven gewünscht.
Um es vorwegzunehmen: Da RP über eine derart reichhaltige Auswahl an Werkzeugen verfügt, ist es an dieser Stelle nicht möglich, detailliert auf jedes einzelne einzugehen. Deswegen möchte ich Ihnen nur einen groben Überblick verschaffen.
Die meisten Instrumente wie Stift, Kreide, Stempel, Wasser und Finger sind Aufsteigern vom “kleinen" Retouche schon bekannt. Ebenso wie bei der Urversion können Sie bei RP den Andruck, d.h. die Intensität der Wirkung, meist zwischen 1 und 10 verstellen. Neu bei RP sind der Schärfer und der Kopierstift. Mit dem Schärfer werden Kontraste erhöht, er ist das Gegenstück zur Funktion Wasser. Auch der Kopierstift ist eine feine Sache: Zuerst definieren Sie einen Quellpunkt in einem beliebigen Bild. Der erste Punkt, den Sie im Zielbild anklicken, wird zum Referenzpunkt, und relativ zu diesem Referenz- wird vom Quellpunkt her kopiert. Eine Arbeitserleichterung sind auch die Instrumente Densitometer zur Helligkeitsbestimmung und das Maßband.
Ein wichtiges Hilfsmittel bei elektronischen Bildverarbeitungssystemen ist die sog. Maske. Mit ihr werden Bildbereiche, die vor einer Bildmanipulation “bewahrt” werden sollen, einfach abgedeckt. Bei RP ist die Maske, sofern Sie mit einer Grafikkarte arbeiten, farbig und transparent. So sieht man zwar noch den verdeckten Bildbereich, trotzdem ist er vor “unerlaubtem Zugriff" geschützt. Selbstverständlich kann die Maske automatisch auf bestimmte Helligkeitsbereiche gesetzt werden - eine großartige Hilfe z.B. beim Freistellen von Bildteilen. Wie jedes Werkzeug kann auch der Maskierstift entlang eines Vektorpfades laufen. So kann man sehr schnell maskieren, ausschneiden, einpassen und Kanten verwaschen die Werkzeuge laufen wie von Geisterhand entlang des Pfades.
Mit den mächtigen Blockfunktionen können Sie nun endlich Blöcke beliebig in Größe und Form variieren. Sie können Blöcke verzerren, drehen, projizieren und dreidimensional verformen. Der ursprünglich rechteckige Bildbereich, den Sie als Block definieren, kann auf sog. Bézierblöcke projiziert werden. Ein Bézierblock ist ein Liniennetz, welches an den Kreuzungspunkten zweier Linien verzerrt werden kann. Auf ein derart gestaltetes Netz wird dann der Quellblock projiziert.
Der Umriß des Bézierblocks kann automatisch in einen Vektorpfad umgerechnet werden, so daß Sie nach dem Einkopieren in ein anderes Bild leicht z.B. mit der Funktion Wasser die Konturen verwischen können.
RP verfügt auch über eine mächtige Funktion zur Erzeugung beliebiger Grauverläufe. Zum einen kann ein Block oder ein Bézierblock mit verschiedenartigen Verläufen gefüllt, zum anderen können zwei Vektorpfade mit beliebigen Verläufen verbunden werden. So ist es möglich, einen Grauverlauf auch komplizierten Umrissen anzupassen.
Die Effekte wie Schärfen, Konurieren, Aufweichen, Aufrauhen, Strukturieren etc. erklären sich selbst. Sie kennen Sie zum Teil bereits aus Retouche.
Gradationsveränderungen lassen sich, wenn Sie mit einer Grafikkarte arbeiten, sofort auf Ihrem Graustufenschirm beobachten. Die Kurve selbst können Sie einer edierbaren Bézierkurve anpassen. Mit Hilfe der Funktion Histogramm errechnen können Sie den Grauwertumfang Ihres Bildes umverteilen: gewichtete Gradation, zentrierte Gradation je nach Bedarf korrigieren Sie Kontrast und Helligkeit des Bildes.
Entspricht Ihr Bild nun nach all den Manipulationen Ihren Vorstellungen, lassen Sie es mit Hilfe des Ausgabemoduls aufrastern, um es später in Calamus importieren zu können, von wo es dann zu Film gebracht werden kann. Da Calamus bis jetzt noch keine virtuelle Speicherverwaltung beherrscht, müssen Sie sich auf eine Bildgröße von knapp 3 MB beschränken. Deshalb bietet die Firma 3K ab September eine Satzbelichterversion von RP an. Sie wird zusammen mit einer Grafikkarte mit 1MB Speicher angeboten, die bei der Rasterung sehr viel Zeit einsparen hilft. Der schnelle Grafikprozessor greift dem M68000 des ST gehörig unter die Arme. Die Bilderzeugung von bis zu 2 Mio. Pixeln pro Sekunde ist somit erheblich schneller als übliche PostScript-Rips. Da diese Version von RP den Satzbelichter direkt ansteuern kann, lassen sich Rasterbilder von bis zu 16MB direkt ausbelichten.
Für diejenigen, die es ganz eilig haben, wird erstmals auf der ATARI-Messe ein Hell-Satzbelichter mit 3K-Computerbild-Online-RIP vorgestellt. Das System erlaubt dann erstmals Rasterausgabe von Halbtonbildern ohne Zeitverzug durch Online-Rasterverfahren. Das ganze System inkl. Belichter wird dennoch unter 50.000 DM kosten. Man darf also gespannt sein!
Ab Ende September werden ein Accessory zum Einbinden von Calamus-Fonts in RP und eines für spezielle Bildeffekte für jeweils 398 Mark angeboten.
Fazit: RP ist ein überaus durchdachtes Programm. Die mächtigen Funktionen gehen weit über die Möglichkeiten der herkömmlichen Lithografie heraus. Die Benutzeroberfläche ist optimal an die speziellen Anforderungen bei der EBV angepaßt. Durch den guten Kundensupport im Hause 3K-Computerbild ist eine Beratung auch nach dem Kauf gewährleistet. Für einen Preis von 1198 Mark erhält der Käufer ein professionelles Werkzeug, das auch die schwierigsten Aufgabenstellungen problemlos bewältigt.
LR
Bezugsadresse:
3K-Computer-Bild GmbH
Sassenfeld 71
4054 Nettetal 1