Vom Nutzen und Nachteil einer Adreßverwaltung
Bei der Besprechung eines Produktes beginnt man besten mit dem, was einem als erstes in die Hände fällt: Der Verpackung. Einige Softwarehäuser halten entschlossen an dem Satz fest, daß es nicht auf die Verpackung ankomme, sondern auf das, was in ihr steckt! Als konservative Verpackungsstrategen kann es ihnen auch egal sein, wie ihr Produkt ausgeliefert wird. Das weiße Ding, in dem 1ST-ADDRESS vakuumverpackt eingezwängt liegt, ist umweltfeindlich und von Warenästhetik keine Spur. Ich öffne die wie eine verrostete Schloßtür knirschende Plastikbox, und es ergießt sich mir das Liefervolumen von 1ST-ADDRESS. Hat man sich statt der Kunststoffverpackung nicht wie andere Softwarehersteller eine Alternativlösung einfallen lassen können?
Ich entnehme dem anstößigen Behältnis das 1ST-ADDRESS-ROM-Modul, eine „Begleit und Demodiskette zum Dateiverwaltungsprogramm“ sowie das vierundsechzig Seiten schmale Handbuch. Neben der Arbeitseinweisung in 1ST-ADDRESS enthält es zahlreiche Ratschläge zur internen Verwaltungstechnik von Menüs und Masken. Zudem ist es anschaulich und kompetent, mit viel Liebe zum Detail geschrieben. Da sich aber viele Funktionen selbst erklären, brauchte ich die Handbuchinformation kaum.
Wie mit jedem anderen Programm versuchte ich bei meiner ersten Arbeitssitzung mit 1ST-ADDRESS mein Glück mit einem Schnellstart, d.h. ich mußte einige Vorbereitungen treffen, um so schnell wie möglich starten zu können. Noch bevor die CPU zu tickern begann, steckte ich das mitgelieferte 1ST-ADDRESS Modul (darum Steckmodul!) in den ROM-Port und kopierte anschließend von der Begleitdiskette die drei Dateien 1st-ADDR ACC, 1st-ADDRMSK und 1st-ADDR.DAT auf die Boot-Partition meiner Festplatte. Zum Schluß meldete ich das ROM-Modul c(klein c) an. Beflissene Hardwareklempner werden wissen, daß der ATARI Icons mit großen und kleinen Buchstaben unterscheidet. Danach zelebrierten meine Finger einen Warmstart, und ich wähnte mich als der erste Adressat von 1ST-ADDRESS. Alles übrige spielte sich von nun an in bezug auf Adreßverwaltung als Accessory ab. Aus dem Deskmenü öffnete ich das Accessory 1st-ADDR, das eine vorangelegte Adressen Verwaltung von sämtlichen ATARI-Dealern in der Bundesrepublik enthält. Hier konnte ich mich bereits davon überzeugen, warum der Hersteller von der „schnellsten Dateiverwaltung“ schwärmt. Ob ich es ihm nachtun soll? Beim Scrollen der rund 100(?) Adressen geht alles in Windeseile vor sich, als hätte Speedy Gonzales an einem verpfefferten Tequila Sunrise genippt. Unter Assemblerprogrammierern und Enthusiasten mit Stoppuhr und Notizblock würde man sich an der Rekordverdächtigkeit berauschen. Tempus sei dagegen eine lahme Kröte, und das will schon manches heißen.
Wie man solches Schwadronieren auf Kosten des Fleißes anderer auch zu bewerten habe, mag dahingestellt bleiben. Mit welchen technisch hervorragenden Kunststückchen eine Software auch produziert sein mag, zählt nicht so sehr wie die Brauchbarkeit für den Anwender. Von einer Adressenverwaltung erwarte ich, daß sie große Mengen von Personendaten zu überblicken hilft (Name, Wohnort, Straße, Telefonnummer und sonstige zweckgebundene Daten). Das Handbuch gibt an, daß mit einer Hardwarekonfiguration wie meiner (1 MByte RAM + Festplatte) zehntausend Datensätze verwaltet werden können. Das konnte etwa die Mitgliederzahl eines großen Sportvereins sein, eine Kirchengemeinde oder ein Stamm von Zeitungsabonnementen.
Man sieht, ein Dateiverwaltungsprogramm ist in solchen Fällen sinnvoll einzusetzen, in denen der Adressentransfer eines mit Papier und Bleistift unüberschaubaren Vorrats von Datensätzen schnell und zuverlässig geschehen soll.
Während meiner Testreihe halte ich als größeren Datenbestand eine Dateiverwaltung aller Tennisclubs im deutschsprachigen Raum zur Verfügung gestellt bekommen. Das mit ca. 440k Speicherplatz gigantische Accessory hockte dann wie die sprichwörtliche Spinne im Netz des Speichers und erstickte sonstige Installationsanläufe im Keim. Die Arbeit mit den wesentlich umfangreicheren Datensätzen gestaltete sich aber ebenso schnörkellos, präzise und unkompliziert wie mit dem inhaltlich kleineren Demo-Accessory.
Die sequentielle Verwaltung des Speicherplatzes zeigt ihren Vorteil im Geschwindigkeitsrausch. So konnte ich von Sekunde zu Sekunde austesten, wo in Deutschland Boris Becker seinen ersten Augenaufschlag mit dem Tennisschläger geprobt hatte (Es muß doch Leimen gewesen sein?), oder wen ich an der Waterkant antelefonieren muß, um den Hauch von Wimbledon zu verspüren. Ich muß schon sagen, eindrucksvoll, mit welcher Laufgeschwindigkeit auf und abgescrollt wird. Mancher wird jetzt schon aufmucken, nun hat der schon zweimal erwähnt, daß Geschwindigkeit keine Hexerei sei.
Wie sieht es aber mit den Environments aus? Wenn ich schon mit der Hard- 'n' Software arbeite, will ich nicht nur etwas zur Steigerung der an sich eh' schon überfordernden Tageshetze, sondern auch etwas für das Auge haben. Was des einen Wunschdenken ist (und bleibt), nämlich ein rasant seine Aufgaben verrichtendes Programm mit einem ästhetischen Outfit zu besitzen, das nie Langeweile verursacht, muß für den Vater von 1ST-ADDRESS eine Tugendlosigkeit sondermaßen gewesen sein haben. Das Übel kündigt sich im Namen an. Der optische Aufbau von 1ST-ADDRESS ist an das unpopuläre 1st Wordplus angelehnt.
Doch gegen die Schildkrötengemütlichkeit dieser Textverwaltung kann die Dateiverwaltung getrost einige Register unbelegt lassen, und noch immer wären alle Vorteile auf das Konto von 1ST-ADDRESS gutzubuchen. Der Programmierer hat sich jeglicher Bequemlichkeit enthalten, seinen Assembler ‘über den Leisten gespannt" und mit einer Menge von Programmiertricks ein "rekordverdächtiges" Meisterstück zustandegebracht. Gegen etwaige Höhenflüge wegen übermäßigen Lobes möchte ich zu bedenken geben, daß zu Gunsten von Ruhm und Geschwindigkeitsvorteil nicht sämtliche Register gezogen worden sind, denn, wie ein Blick beweist, haben die verschiedenen Dateimasken ein geradezu spartanisches Aussehen. Äußeres Beiwerk und schmuckvolle Einrichtung konnte ich nirgends entdecken, egal mit welcher Funktionstaste ich auch ein Arbeitsmenü aufrief. Eins, zwei Mausklicks hier und da, einen Suchbefehl eingeben, Ok!, und eh' ich mich versehe, erhalte ich das Ergebnis des Selektionsbefehls als Bildschirmausgabe. Nun könnte ich praktisch mit dem Drucker- oder Modemexport in Kommunikation mit der Außenwelt treten.
Eigentlich ist es ganz einfach, mit einer Dateiverwaltung umzugehen! Sie geben die Personendaten Ihrer Freundinnen bzw. Freunde oder anderem Publikum ein (Telefonnummer nicht vergessen!) und können zum ein oder anderen Eintrag auf vier Feldern Bemerkungen hinzufügen. Beim spateren Öffnen der Adressendatei können Sie durch Eingabe eines Schlüsselworts (gebräuchlich ist der Nach- oder Firmenname) den gewünschten Daten satz ermitteln.
Es besteht zudem die Möglichkeit, kompliziertere Suchbefehle von 1ST-ADDRESS ausführen zulassen. Für die Verknüpfung von Suchaufträgen werden sowohl logische als auch algebraische Operatoren eingesetzt. Durch vorherige Auswahl ist eine Feldersuche möglich, d.h. es kann ein Suchauftrag formuliert werden, mit dem man sich selektiv auf Firma und Ort bezieht.. Nun könnte es sein, daß in einer Stadt zwei Personen mit demselben Nachnamen, aber unterschiedlichen Vornamen leben und alle übrigen Personendaten unbekannt sind. Den Suchbefehl formuliert man in diesem Fall wie folgt: Name = Kittler und Ort = Marburg ohne Friedrich. Sie können mit den verschiedenen Vergleichsoperatoren (=, >, <,...) nach Anzahl und Menge des Suchergebnisses auflisten lassen. Mit ein wenig Überlegung erledigt 1ST-ADDRESS auch schwierige Suchbefehle mühelos.
Ich komme ich meinem Tennisbeispiel zurück. Sie wissen schon: Boris Becker meets (hieß es nicht "needs"?) ATARI.
Es gilt die Regel, je mehr Datensätze vorhanden sind, desto schwieriger gestaltet sich die Formulierung von Suchmanövern. Suchaufträge dürfen nicht negativ formuliert werden. An der Methode, wie auf einzelne Datensätze zugegriffen wird, verdeutlicht sich auch der Unterschied von 1ST-ADDRESS zu einer relationalen Datenbank. Während in einer Relationsdatenbank (z.B. Adimens) der Datensatz als Matrix in einer Tabelle sofort nach dem Eintrag auf die Diskette geschrieben wird, behält 1ST-ADDRESS diesen mit allen während der Arbeitssitzung erfolgten Sortier- und Verzweigungsbefehlen im Speicher und sichert erst bei Beendigung als Dat Datei auf Diskette.
Die Modultechnik ermöglicht ein Arbeiten wie mit jeder speicherresidenten RAM-Disk. Ein kleiner Nachteil gegenüber größeren Datenbanken liegt darin begründet, daß 1ST-ADDRESS mit ein-und nicht, wie zweckmäßiger, mit mehrdimensionalen Feldern arbeitet. Das spart nicht in allen Fällen Speicherplatz. Es kommt aber der Geschwindigkeit zugute, da die Speicherphasen auf ein zeitliches Minimum reduziert sind. Das Fehlen eines numerischen Feldtyps mag sich negativ auf die Speicherplatzbemessung auswirken, gravierender ist da schon, daß das Datenfeld kein Komma zuläßt. Denn bei Texteingaben kommt es doch des öfteren vor, daß zwischen Zeichenketten, die mit einem Punkt und solchen, die mit einem Komma abgeschlossen werden, zu differenzieren ist (s. Eingabe von bibliographischen Daten). In der modernen Grammatik gilt das Komma als wichtiges Zeichen, das den Doppelpunkt oder das Semikolon als Bedeutungstrenner ersetzt.
Das Drucken geht ebenfalls ohne Mühe vor sich. Ob es Etiketten, Zahlungsvordrucke oder Adressenlisten sein sollen, 1ST-ADDRESS macht keine Schwierigkeiten. Zudem gestattet es über einen ausgefeilten Schnittstellenim- und -export die Kooperation mit einer Textverarbeitung. Es wäre sicherlich zu wenig gewesen, die Adreßverwaltung für 1st Wordplus auszulegen. Wie auch? Über den ASCII-(Austausch)-Code ist ja alles mit allem kompatibel! Vorgreifend hat man den Textverwaltungsgiganten WordPerfect ins Visier genommen, um eine semiprofessionelle Zusammenarbeit mit 1ST-ADDRESS zu ermöglichen. Die Konzeption ist klar. Sie können formschöne Serienbriefe mit WordPerfect, es ginge aber auch mit Signum! Zwei, nach allen Regeln der Kunst einrichten und das flotte Adressen-Handling 1ST-ADDRESS überlassen. Mit ein oder zwei Blicken in das Handbuch Ihres Druckers läßt sich das gewünschte Schriftbild Ihres Serienbriefes programmieren.
Man geht dabei wie folgt vor: Zunächst selektiert man zur Weiterverarbeitung die gewünschte Adressenmenge und speichert den Inhalt unter einem separaten Namen ab. Danach öffnet man ein Serienbriefprogramm. das ein mit einem Textverarbeitungsprogramm erstelltes Serienbriefformular enthält. In einem Mischvorgang werden das Formular und die auswählten Adressen "zusammengeordnet". d.h. jede Adresse erscheint als Briefkopf des Druckformulars. Anwender. die einer Adreßverwaltung zum Einsatz im geschäftlichen Bereich verschiedene Rechenleistungen wie Addieren und Multiplizieren von Geldbeträgen oder Zinsrechnung abverlangen, müssen sich nach einer leistungsfähigeren Relationsdatenbank umsehen. Daß das Fehlen von Rechenfunktionen kein Nachteil zu sein braucht, muß nicht eigens betont werden. Nur muß der Anwender wissen, für welche Aufgaben er oder sie eine Datei- bzw. Adressenverwaltung benötigt. Auch eine größenwahnsinnig gewordene Adressenverwaltung könnte nicht mit ihren größeren Brüdern und Schwestern konkurrieren. Eine Dateiverwaltung erfüllt den Zweck, zu dem sie bestimmt ist: einfach in der Bedienung zu sein, zuverlässig und schnell Personen- und Firmendaten aufzunehmen. zu verwalten und über verschiedene Schnittstellen (Drucker. Modem) zu im- und exportieren.
Ich betrachte 1ST-ADDRESS als ein Hilfsmittel, das jeder mit Gewinn ersetzen kann, der einen großen Stamm von Adressen zu überblicken hat. Wer mehr möchte, sollte auch die Kosten, mehr Leistung für mehr Geld bekommen zu wollen, nicht scheuen und sich eine ausgereifte Datenbanksoftware kaufen.
Auf der Begleitdiskette befinden sich als Zugabe mehrere Maskenvorschläge für Literatur-, Artikel- oder Lagerverwaltungen sowie ein Tool zum Erzeugen von Accessories im 1ST-ADDRESS-Format. Die Beigabe von Maskenvorschlägen möchte ich getrost als Spielerei bezeichnen. die veranschaulichen dürfte, welche Einsatzgebiete im Rahmen möglicher Anwendungen mit 1ST-ADDRESS liegen. Die nicht Müden im Lande können sich an den Entwurf heranwagen, mit einem Editor anwendungsspezifische Masken zu erstellen. Trotzdem reicht hier der gute Wille allein nicht aus. Die genannten Verwaltungsressorts sind konzeptionell zu kompliziert, als daß sich mit den vorgegebenen Masken ernsthaft arbeiten ließe.
Eine Literaturverwaltung wie die gezeigte, käme an das baldige Ende ihrer Tage, sobald man wissenschaftliche Aufgaben mit ihr verrichten wollte. Allerdings wäre jeder guten Datenbank zu wünschen, daß sie die Schnelligkeit von 1ST-ADDRESS hätte. Denn wie Datensätze beim Scrollen als Film überden Bildschirm gleiten, das muß man schon gesehen haben. Das Spiel mit der Geschwindigkeit ist sehr beeindruckend. doch, wie dem auch sei, für Aufgaben im größeren Stil gibt es die passende Software.
1ST-ADDRESS entspricht genau dem, was es sein möchte. Es ist eine solide Datei Verwaltung ohne Pomp und Fanfare, dazu noch ein rekordverdächtiger Sprinter, mit dem bis zu sechs Stammdatenverwaltungen bearbeitet werden können. Ist ja auch klar! Wie man weiß, ist der ATARI auf das parallele Verwalten von höchstens sechs Accessories beschränkt. Daß hier mit der Zeit gegangen wurde, dokumentiert im übrigen auch die integrierte Modemschnittstelle, die ein einfaches und schnelles Adressen-Handling per Telefon ermöglichen soll. 1ST-ADDRESS ersetzt zwar keine Datenbank, es gibt aber nicht zuletzt wegen der stark optimierten Laufzeiten bei den Datendurchsichtsoperationen, die größeren Brüdern und Schwestern deutlich überlegen sind, gute Gründe für die Arbeit mit dieser integrierten Adreß- und Dateiverwaltung. Bei einem Verkaufspreis von DM 148.- für „die schnellste Dateiverwaltung, die auf dem ATARI-ST läuft“ (laut Werbeslogan), dürfen Sie einen arbeitsversessenen Jaguar in den ROM-Port Ihres Computers stecken, der wild darauf ist, Ihre Adreßdatensätze zu verwalten. Sie brauchen ihn nur ergiebig zu füttern. 1ST-ADDRESS wird alles vertragen und Sie mit zuverlässiger und solider Arbeit belohnt.
Bezugsadresse:
VICTOR SOFT 2058 Lauenburg Halbmond 30d