Protos soll man immer dabei haben, wie das Taschenmesser im Urwald - sagt man jedenfalls bei Application Systems in Heidelberg. Deshalb haben wir den Lebensretter für den Bildschirmabhängigen sozusagen in reißende Flüsse und tiefe Schluchten getrieben sowie den wilden Tieren und eklen Insekten vorgeworfen. Protos ist kein Held ohne Fehl und Tadel, aber Mumm in den Knochen hat es ganz schön...
Beginnen wir mit einem Portrait unseres Helden: Protos ist ein Utility-Programm, das beim Booten aus einem Auto-Ordner gestartet wird. Es bleibt dann resident im Speicher, sämtliche Funktionen können mit Control + Alternate und einer weiteren Taste ausgelöst werden. Protos vereinigt eine extrem schnelle Echtzeitbildschirmlupe, Bildschirmschoner, Quickmouse, Bildschirmuhr und -datum, eine jederzeit einblendbare 'Zweitanzeige', 'Sonderzeichen per Tastatur'-Funktion, Tastatur-Reset und frei definierbare Tastatur- und Mausmakros in einem Programm, das einfach zu nutzen und an die eigenen Bedürfnisse anzupassen ist. Besonders die Makrofunktion ist einfach wunderhübsch: Es können Makros nicht nur über die Tastatur wiedergegeben, sondern auch an Drucker, RS232-Schnittstelle oder MIDI-Anschluß gesendet werden, so daß spezielle Druckereinstellungen nur noch einen Tastendruck kosten. Man kann aber, wie bereits angedeutet, ein Tastaturmakro auch dazu benutzen, die Maus zu steuern. Der Autor hat als erstes fast sämtliche Desktop-Funktionen mit Protos automatisiert, um sich dann nur noch faul in den Sessel zu flegeln und 20 Kg zuzunehmen (zuwenig Bewegungen mit der Maus - dabei hasse ich Tastaturkommandos!).
Schließlich bietet Protos noch die Möglichkeit, einen fast beliebig großen virtuellen Bildschirm zu benutzen. Der "echte" Bildschirm zeigt dann immer nur einen Ausschnitt dieses virtuellen Großbildschirms, über den man dann aber extrem schnell und flüssig hinwegscrollen kann.
Protos ist, wie schon erwähnt, nach dem Booten im Hintergrund installiert und dort jederzeit erreichbar. Genau wie die Protos-Funktionen, die über Control + Alternate-Kombinationen erreichbar sind, kann man auch das Protos "Parameter-Panel" aufrufen. Hier kann man dann komfortabel und per Maus die diversen Anzeigeoptionen an- und ausschalten, Tastaturmakros definieren und alle Parameter auf Diskette speichern. Das Panel ist frei auf dem Bildschirm verschiebbar.
Wer den Mac-Look liebt, wird begeistert sein: Protos erlaubt unter anderem, den Bildschirm mit runden Ecken zu versehen, damit man auch auf einen Blick sehen kann, daß Protos installiert ist. Die meisten Parameteränderungen werden sofort wirksam, einige (z.B. die Größe des virtuellen Bildschirms) jedoch erst dann, wenn man sie abspeichert und Protos neu bootet.
Über Bildschirmschoner, Quickmouse und Bildschirmuhr muß man eigentlich keine Worte verlieren. Im Gegensatz zu den normalen Quickmouse- und Bildschirmuhrprogrammen aus dem Auto-Ordner erlaubt Protos jedoch, diese Funktionen jederzeit ein- und auszuschalten.
Spannender ist schon die Bildschirmlupe: Durch einen einfachen Tastendruck zeigt sich die Bildschirmanzeige in doppelter, vierfacher oder gar achtfacher Vergrößerung. Natürlich sieht man dann nur einen Ausschnitt aus dem gesamten Bildschirminhalt. Den Ausschnitt kann man nun mit der Maus ganz einfach verschieben, das Scrolling geht butterweich. Dabei kann die Verschieberei beginnen, wenn man mit dem Mauszeiger (der natürlich auch vergrößert erscheint) an den Bildschirmrand fährt, oder, in einem anderen Modus, immer dann, wenn man die Maus bewegt, wobei das Programm aber dafür sorgt, daß der Mauszeiger immer in der Bildschirmmitte bleibt (ungewohnt, aber praktisch). Der Ausschnitt läßt sich auch festsetzen. Das ist aber noch nicht alles; Sie können auch die Art der Darstellung der vergrößerten Pixel verändern, so daß sich mit Sicherheit für jeden Geschmack das passende Aussehen der Vergrößerung findet.
Die Lupe bewährt sich in Layout- und Malprogrammen. Besonders die Lupe von Malprogrammen, die ja meist nur das Setzen und Löschen von Pixeln, nicht aber die Verwendung von leistungsfähigeren Zeichenfunktionen (Linie, Kreis) erlaubt, läßt sich durch Protos hervorragend ersetzen: Kein Ärger mehr mit der unhandlichen DEGAS Elite-Lupe - Degas mit Protos ist viel schöner und vor allem schneller.
Die nächste neue Protos-Idee ist die Zweitanzeige. Mit dieser Funktion können Sie ein zweites Bild in Ihren Bildschirm einblenden, dessen Größe und Lage Sie frei bestimmen können. Diese Zweitanzeige verhält sich wie der normale Bildschirm, natürlich wie der Bildschirm unter Protos, d.h. Sie können auch in der Zweitanzeige eine Vergrößerung verwenden. Sinn der Sache? In einem Malprogramm könnte Ihnen die Zweitanzeige z.B. eine Übersicht über die ganze Seite in verkleinerter Form geben, während Sie die Hauptanzeige als Lupe für die Feinarbeit an einer bestimmten Stelle verwenden.
Natürlich wirkt sich die Rechenarbeit, die Ihr ST zusätzlich verrichten muß, um die Zweitanzeige darzustellen, auf die Geschwindigkeit aus; wenn die Zweitanzeige angeschaltet ist, kann man die Maus nicht mehr so flüssig bewegen wie sonst, alle Bewegungen werden eckiger. Damit kann man aber gut leben, insbesondere deshalb, weil man die Häufigkeit, mit der der Bildschirminhalt verändert wird, einstellen kann (zwischen 71/3 und 71/15 Bildern pro Sekunde).
Schließlich gibt es da noch den virtuellen Bildschirm. Es ist, wie gesagt, theoretisch möglich, die logische Bildschirmgröße bis auf maximal 99999999 Pixel zu vergrößern. Da man dafür ungefähr 12,5 Megabyte Hauptspeicher brauchte, wird man sich wohl etwas bescheiden müssen. Dem Betriebssystem wird also quasi vorgegaukelt, es sei ein Großbildschirm an Ihren ST angeschlossen. Von diesem größeren Bildschirm zeigt dann der wirkliche Bildschirm mit seinen 640400 Pixeln nur einen Ausschnitt an, der aber, genau wie im Lupenbetrieb, blitzschnell verschoben werden kann. Leider funktioniert dies erstens nur mit Blitter-TOS und zweitens gibt es auch mit einigen Programmen Probleme nur Programme, die ausschließlich über GEM oder vollständig und ganz und gar ohne GEM-Aufrufe arbeiten, können mit dem virtuellen Bildschirm Zusammenarbeiten. Signum beispielsweise benutzt GEM für die Menüleiste, aber eine eigene Grafikfunktion für die Textausgabe - geht nicht. 1st Word hingegen basiert ausschließlich auf GEM und hat keine Probleme mit einer Bildschirmgröße von zum Beispiel 1280 * 960 Punkten oder auch mehr. Der Vorteil? Man kann mehrere oder sehr große Fenster auf den Bildschirm packen und sehr schnell hin- und herscrollen, was vor allem bei Programmen, die lange für einen Bildschirm-Redraw brauchen (DTP) erhebliche Vorteile bringt. Mit Protos kommt man einfach schneller voran auf dem Bildschirm. Allerdings braucht man eben viel, viel Speicherplatz... Wer viel mit Signum arbeitet, muß übrigens nicht verzweifeln: die einzige besondere Erwartung, die Signum an die Textausgabe stellt, ist, daß die Bildschirmbreite nicht mehr und nicht weniger als 640 Pixel beträgt. Daher enthält Protos eine Funktion, mit der man die Breite des Bildschirms auf 640 Pixel begrenzen kann, auch wenn ein größerer virtueller Bildschirm aktiviert ist. Solche Tricks helfen aber leider nicht bei allen Programmen; STAD zum Beispiel stürzt immer ab, wenn man den 3D-Teil oder die Diskettenfunktionen benutzen will.
Trotz all der netten Bildschirmfunktionen: Der nützlichste Teil von Protos beschäftigt sich mit der Tastatur. Zuerst einmal kann man, wie bei IBMs und Konsorten üblich, einen RESET über die Control-Alternate-Delete-Kombination auslösen. Ansonsten ist der gesamte ST-Zeichensatz über die Tastatur zugänglich. Das Raffinierteste sind aber die Tastenmakros. Mit dieser Funktion kann ein einfacher Tastendruck der Art: Control-Alternate-Funktionstaste, Control-Alternate-Shift-Funktionstaste oder Alternate+Buchstabentaste eine ganze Sequenz (maximal 100 Zeichen) an Tastaturbuffer, RS232-, MIDI- oder Druckerschnittstelle senden oder gar eine komplexe Mausbewegung steuern. Die Verwendung ist klar: An den Tastaturbuffer schickt man Textfloskeln, die man nicht jedesmal neu eintippen möchte, zum Beispiel: ‘Sehr geehrter Herr' oder ‘Mit freundlichen Grüßen'. In den Textfloskeln können auch Steuerzeichen wie Return o.ä. enthalten sein. Zeichenketten für die Midi-, RS232- oder Druckerschnittstelle werden im allgemeinen spezielle Steuerbefehle enthalten, die ein angeschlossenes Gerät in einen be-stimmten Modus schalten, im Falle des Druckers etwa in eine andere Druckeremulation.
Die Maus schließlich kann mit bestimmten, sehr geschickt gewählten Steuerkommandos bedient werden. Es gibt Funktionscodes, um den Mauszeiger absolut oder relativ zu positionieren, um einen Einfach- oder Doppelklick auszulösen, um eine Maustaste zu drücken oder loszulassen, oder um auf eine Veränderung der Farbe des Bildschirmhintergrundes zu warten. Letzteres ist wichtig, da GEM einige Zeit benötigt, um ein Objekt zu selektieren, wenn man es anklickt. Mit der 'Warten'-Funktion wird verhindert, daß die Maus sich weiterbewegt, bevor GEM auf einen Mausklick reagieren konnte. Für ähnliche Zwecke gibt es auch noch Funktionscodes, die eine bestimmte Zeit warten. Außerdem kann man die Mausposition vor Aufruf des Makros speichern und wiederaufrufen, so daß die Maus nach Ausführung eines Kommandos wieder genau dort zu finden ist, wo sie vorher war.
Es ist sehr einfach und bequem, die Mausmakros zu programmieren. Dies wird auf zwei Wegen erreicht: Wenn sich das Protos Parameter-Panel, das auch für die Makroprogrammierung zuständig ist, auf dem Bildschirm befindet, existieren zwei Mauszeiger; einer steuert Protos, der andere, der nur bei gedrückter Alternate-Taste erreichbar ist, verhält sich wie der normale GEM-Mauszeiger, auch alle Funktionen können unabhängig von der Protos-Dialogbox ganz normal be dient werden. Der zweite Trick erlaubt es, die Position dieses Alternate-Mauszeigers mit einem einzigen Tastendruck in das Makro zu übernehmen, so daß man nicht mühselig erraten muß, auf welche Koordinaten man die Maus positionieren muß, um einen bestimmten Befehl auszuführen. Man bewegt die Maus einfach an die Stelle, zu der sie sich bewegen soll und übernimmt die Position. Einfach und schnell. Nur in seltenen Ausnahmefällen tut Protos nicht das, was man erwartet; meistens hilft es dann aber, einfach das Makro oder Teile davon neu zu programmieren, dann funktioniert wieder alles. Außerdem ist die Textcursorsteuerung im Editor für die Tastenmakros nicht sehr komfortabel. Aber man wechselt ja auch nicht dauernd die Tastaturkommandos... An der Nützlichkeit der Makros gemessen, sind dies aber wirklich verschwindende Mängel.
Ich habe zum Beispiel, wie oben erwähnt, sämtliche wichtigen Desktop-Funktionen vom 'Laufwerk öffnen' über 'Fenster schließen' und 'Info' oder 'Textanzeigen' bis zu 'Datei löschen' auf je eine Taste programmiert, ebenso die wichtigsten Signum!2-Kommandos, wie zum Beispiel den Zeilenumbruch.
Da manche Programme selbst Alternate-Tastenkommandos zulassen, bietet das Protos Parameter-Panel die Möglichkeit, nur diese Gruppe von Makros abzuschalten. Die Funktionstastenmakros bleiben davon unberührt.
Die Anleitung von Protos ist nicht gerade schwer verständlich, der Anfänger oder unerfahrene Benutzer wünschte sich aber sicherlich etwas klarere Erklärungen über den Sinn und die Arbeitsweise der einzelnen Funktionen.
Protos scheint sehr ausgereift und bietet für DM 69,- eine Vielzahl von nützlichen Features. Probleme gibt es mit GFA-BASIC sowie (natürlich) mit Midi-Sequencern, die ja im allgemeinen auch extrem zeitkritisch programmiert sind. Wahrscheinlich gilt das für alle Programme, die sich fest auf das Timing-Verhalten des Rechners verlassen. Mit ‘normalen’ Anwendungen wie 1st Word, Signum, Degas usw. verträgt sich Protos prächtig. Ich jedenfalls möchte Protos nicht mehr missen, es erledigt wirklich vieles auf einmal und sehr komfortabel. Auf meiner Festplatte habe ich die Partitionen so eingerichtet, daß ich beim Booten entscheiden kann, ob Protos gestartet wird oder nicht. So ist auch die Arbeit mit Protos-unverträglichen Programmen kein Problem.
CS
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