Editorial - Das Bildungswesen und der Computer

Die Geschichte der Neuzeit ist geprägt vom zunehmenden Einfluß der Computer auf viele Bereiche unseres Lebens. Was sich einst nur auf die Produktion von Industriegütern beschränkte, erobert immer größere Anteile unserer privaten Sphäre. Ein Versuch, alle Bereiche aufzuzählen, in denen der Computer bereits gegenwärtig ist, würde den Rahmen dieses Artikels sicher sprengen.

Der massive Einsatz von Computern hat eine scharfe Auseinandersetzung in der. Gesellschaft, zwischen traditioneller und progressiver Weltanschauung, ausgelöst. Einer der sensibelsten und kritischsten Bereiche ist die Bildung bzw. der Ausbildungsbereich, der zunehmend mit den technischen Erneuerungen konfrontiert wird. Die moderne Computertechnik erfordert Kenntnisse, die heutige Lehrkräfte nicht immer oder gar nicht besitzen und schon gar nicht weitervermitteln können. Ausnahmen seien hierbei lobend erwähnt. Es waren schon immer mehr die jüngeren Generationen, die mit ihrer noch frischen Aufnahmefähigkeit und Energie Träger all dieser technischen Erneuerung waren.

Die Unterwanderung der Computertechnik im Bildungswesen stellt die traditionellen Bildungsinhalte in Frage und erfordert ihre totale Neugestaltung. Mutige Versuche, Lehrpläne zu modernisieren, scheitern an der bürokratischen Struktur stattlicher Institutionen.

Studien haben ergeben, daß das Erlernen der vier Grundrechenarten ungefähr 300 Stunden dauert. Wenn man eine Schulstunde mit einer Mark veranschlagt, kann man für diese Ausbildung etwa dreihundert Mark rechnen. Ein Taschenrechner, der sogar mehr als die vier Grundrechenoperationen beherrscht, kostet heutzutage etwa zehn Mark. Die Bedienung eines solchen Rechners ist zudem einfacher und nicht so abstrakt wie das Erlernen der fundamentalen Mathematik. Natürlich ist es nicht erstrebenswert, Lehrkörper oder Kopfrechnen abzuschaffen. Wie will man denn z. B. eine animierte Computergrafik ohne entsprechende mathematische Kenntnisse auf den Bildschirm bringen? Es geht vielmehr um die Frage, welche Inhalte und Lernziele das Bildungswesen im heutigen Computeralltag haben soll. Lernen besteht mit Sicherheit nicht nur aus Beherrschung von Lösungswegen, genauso wie man allgemeine Bildung nicht mit der Automatisierung denkender Fähigkeiten gleichsetzen kann. Aber weil in unserem Bildungssystem häufig diese Automatisierung im Vordergrund steht, fragt man sich, ob nicht der zukünftige Name der Lehrer ’Mr. Robot’ lautet.


Marcelo Merino
Aus: ST-Computer 09 / 1987, Seite 3

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