Im Südosten von London, knapp eine Stunde mit dem langsamen Vorstadtzug entfernt, liegt das ruhige, verträumte Städtchen Maid Stone East Dort scheint die Zeit Anfang des Jahrhunderts stehenge-blieben zu sein Rote Backsteinhäuser und hohe, grüne Baume bestimmen das Biid am Bahnhof Nur die lärmenden Autos auf der Straße passen nicht so ganz ms Bild. Wer würde ahnen, daß hier eine der bekanntesten europäischen Software-Firmen liegt Vizasoftware.
Die Firma, das ist eigentlich er Kevin Lacy 34 Jahre alt Der energische, dabei sympathische Brite ist ein Vollblut-Programmierer reinsten Wassers. Bei jedem Satz spürt man seme Energie und die Leidenschaft, die hinter seinen Programmen stehen Er ist das Ein-Mann-Programmier-Team von Vizasoftware. Abgesehen von der PC-Version, für die er extra Programmierer einstellte, hat er alle Programme selbst geschrieben. von Vizawrite 64 über Vizastar bis zum jüngsten Produkt: Vizawrite Desktop auf dem Amiga.
Als ich ihn an einem regnerischen Nachmittag im Juni besuche, kommt ei direkt von seiner Privatwohnung Dort, so erklärt er. arbeitet er in erster Linie. Die Büros sind zwar zum Arbeiten geeignet, aber nicht zum Programmieren. Dazu hat er nur zu Hause die richtige Muße, denn »dort kann ich wenigstens direkt vom Computer ms Bett gehen«, setzt er unter einem Grinsen hinzu. Ein Vollblut-Programmierer.
Begonnen hat seine Karriere ganz ohne Computer, im Gegenteil. »Als ich bei meinem ersten Arbeitgeber angefangen habe, dachte ich immer: Alle Programmierer sind Verrückte. Bis ich dann durch Zufall selbst ein wenig am Computer gearbeitet habe. Das machte mir dann so viel Spaß, daß ich selbst ein Verrückter werden wollte«, erzählt er Kevin brachte sich selbst die Sprache PL/1 bei. indem er munter mit einem Programm experimentierte, das nicht richtig lief. »Ich habe einfach die Zeilen und Befehle so lange umgestellt, bis das Programm das machte, was ich wollte.«
Wer einen C 64 oder Amiga besitzt, kennt die Textverarbeitung »Vizawrite«. Aber wer weiß, wer hinter diesen Software-Schlagern steht?
Durch den Anfangserfolg ermutigt, wechselt er die Stellung und arbeitet fortan als Systemprogrammierer für Mehrplatzsysteme und Datenbanken. Als er sich neun Jahre später selbständig macht, ist er einer der wenigen englischen Spezialisten auf diesem Gebiet. Obwohl er sich alles selbst beigebracht hat. »In diesem Punkt ist meine Geschichte schon ungewöhnlich«, resümiert er, »denn die wenigsten erfolgreichen Programmierer auf Heimcomputern haben vorher auf Großrechnern gearbeitet. Die Computer-Kids wissen wohl gar nicht, daß es schon früher besseres als den C 64 gab.«
Als dann die ersten Heimcomputer aufkamen, kaufte er sich einen PET. Seme zweite Programmierer-Karriere fing damit genaugenommen mit einem leistungsmäßigen Abstieg an. Die Umstellung vom IBM-Großrechner zum 8-Bit-Computer mit 7 KByte RAM störte ihn nicht weiter. Er wollte einfach zu Hause programmieren. Sein erstes großes Projekt ist — wie sollte es auch anders sein — eine Textverarbeitung. Doch bevor er mit dem Programm fertig ist, erscheint eine andere Textverarbeitung: Wordpro. Das ist für Kevin eine herbe Enttäuschung, denn eigentlich wollte er als erster auf dem Markt sein.
Typisch Kevin Lacy. Was er anfängt will er nicht nur gut machen, sondern besser. Und wenn irgendmöglich, auch schneller als alle anderen. Er hat selbst einen hohen Anspruch an seine Programme und will das Maximale. »Ein Programm muß eine gewisse Würde, eine Daseinsberechtigung besitzen, sonst ist es nicht wert, geschrieben worden zu sein.« Er investiert viel Zeit, um ein Programm zu planen. Erst wenn er das bestmögliche Programm fix und fertig im Kopf hat, macht er sich ans Programmieren. Halbe Sachen mag er nicht. Und wenn man ihm gegenübersitzt und ihm zuhört, glaubt man es ihm aufs Wort. Ein Vollblut-Programmierer...
Anfang 1982 hörte er von einem neuen Commodore-Computer: dem C 64. In Europa gibt es zu dieser Zeit noch keine Geräte. Testberichte oder ähnliches, nur viele Gerüchte, über die fantastischen Fähigkeiten des C 64. Ein Punkt interessierte Kevin Lacy besonders: der veränderbare Zeichensatz. »Warum denn das«, will ich erstaunt wissen, »schließlich hat der C 64 doch eine englische Tastatur und Sonderzeichen.« »Das schon, aber keine Dreiecke«, erzählt er, entspannt zurückgelehnt, »ich mag einfach Dreiecke und der PET hatte keine in seinem Zeichensatz. Beim C 64 konnte ich endlich Dreiecke einbauen.« Und tatsächlich findet man jede Menge Dreiecke als Sonderzeichen in der C 64-Version von Vizawrite.
Er bestellt sich schon 1982 einen C 64 direkt aus Amerika und betreibt ihn unter spartanischen Bedingungen: Da in Amerika das Stromnetz mit 110 Volt arbeitet und die Amerikaner eine andere Fernsehnorm als in Europa verwenden, muß er den Computer an einen geliehenen NTSC-Fernsehapparat anschließen und beides mit einem zusätzlichen Transformator betreiben. Zurückblickend sagt Kevin: »Ich weiß heute gar nicht, wie ich das ausgehalten habe. Das Bild war so schlecht, daß ich teilweise nicht wußte, was ein Buchstabe und was eine Bildstörung war.« Nur mit einer provisorischen Tabelle über die Speicherbelegung und die VIC-Adressen ausgerüstet, beginnt er sein nächstes Programm, das ein Schlager werden sollte: Vizawrite.
Nachdem er schon vorher mit Textverarbeitungen experimentiert hatte, scheint es logisch zu sein, abermals eine Textverarbeitung zu programmieren. Doch wieder hat er eine Überraschung parat, denn hinter Vizawrite 64 steckt mehr, als die meisten Benutzer wissen. Kevin erzählte folgende Geschichte: »Es gab ein Wang-Textverarbeitungssystem bei uns in der Firma, mit dem die Sekretärinnen arbeiteten. Ich habe es mir aus purer Neugier näher angesehen, und fand seine Funktionen ganz sinnvoll. Also habe ich es mir als Vorbild genommen und in verbesserter Version auf den C 64 umgesetzt. Vizawrite ist so originalgetreu, daß jeder Vizawrite-Benutzer problemlos auf dieses System umsteigen könnte.« Und das hat nie jemand gemerkt? »Also bitte, wer hat denn schon ein Wang-System und einen C 64 bei sich herumstehen«, antwortet er mit einem verschmitzten Lächeln. »In der Tat hat mich bisher nur eine amerikanische Firma einmal auf die Ähnlichkeit angesprochen. Der Chef besaß nämlich auch einen C 64. Sonst hat niemand etwas bemerkt.«
Mit Vizawrite 64, das 1983 auf den Markt kommt, wird er mit einem Schlag berühmt. Es folgen die deutsche Version, dann weitere Programme, wie Vizastar. Zwischen 1984 und 1986 setzt er beide Programme auf den C 128 um. Mitte 1985 hört Kevin dann vom Amiga und besuchte die erste Entwicklerkonferenz in Eastborn. Dort sprach ihn Gail Wellington, die resolute Dame bei Commodore, die dafür sorgt, daß genug gute Software für den Amiga geschrieben wird, an und fragte, ob er nicht Lust hätte, eine Textverarbeitung für den Amiga zu schreiben. Er hatte.
Zur Zeit arbeitet Kevin Lacy wieder an Vizawrite. Als ich ihn besuchte, ist er gerade mit Vizawrite Desktop für den Amiga so gut wie fertig. Reichlich spät, wenn man bedenkt, daß es schon zur Orgatechnik ’86 in Köln angekündigt war. Auf die lange Verzögerung angesprochen, meint er, auf den Amiga deutend: »Beschwert Euch bei Commodore! Wenn es mal nicht das Laufwerk ist, ist es das Betriebssystem. Ich habe lange gebraucht, um Funktionen zu programmieren, die beim Macintosh oder beim Atari ST schon eingebaut sind. Beim Amiga muß jeder Programmierer seine Dialogboxen und die gesamte Schnittstelle zum Benutzer selbst gestalten und das kostet mehr Zeit, als viele glauben.« Rund 45 KByte der 80 KByte Programm-Code — übrigens reiner Assembler, wie Kevin mehrfach betont — bilden sein eigenes Betriebssystem. Das Amiga-Betriebssystem unterstützt genaugenommen nur Fenster. Wie aber die Felder zum Anklicken aussehen, muß der Programmierer entscheiden. Beim Atari ST und beim Macintosh ist das Aussehen standardisiert und die meisten Programme benutzen die vorgefertigten Routinen. Beim Amiga ist alles Stückwerk und jedes Programm kann von der Benutzerschnittstelle her anders aussehen.
Inzwischen hat Kevin den Amiga fest im Griff. Die Zeit, in der er mit dem Betriebssystem kämpfte, hat er noch für weitere Verbesserungen genutzt. So kann die Größe der Bilder im Text jetzt auch nach dem Laden verändert werden. Die Bilder sind jetzt wie Absätze ein organischer Teil des Texts und verschieben sich auch, wenn man weiter oben im Text neue Zeilen einfügt. »Das beides kann bislang keine andere Textverarbeitung. Ein paar andere waren zwar schneller, Vizawrite wird dafür die erste Textverarbeitung, die den Amiga wirklich ausnützt«, verkündet er mit dem Brustton der Überzeugung.
Wie geht es weiter, wenn Vizawrite Desktop fertig ist? Kevin steckt schon voller Ideen für Erweiterungen und neue Projekte. Doch vorerst halten ihn die Kleinigkeiten auf. wie er es nennt. Die Amiga-Version muß fehlerfrei werden, und dann geht es zu den Umsetzungen. Auf die Frage, welche Umsetzungen kommen werden, antwortet er mit einem vielsagenden Lächeln. »Genaugenommen ist es noch geheim, aber der Amiga ist bekanntlich nicht der einzige Computer mit einem 68000er«, erklärt er schließlich. Ob nun die Atari ST- oder Macintosh-Version folgen wird, läßt er offen.
Kurz vor dem Aufbruch noch die Frage, was der Name »Vizasoftware« bedeutet. Die Antwort ist ein etwas verwunderter Bück. »Wieso soll der Name denn etwas bedeuten? Ich mag einfach die Buchstaben 'V' und ’Z', wegen der Dreiecke. Und als ich eine Firma gründen mußte, habe ich einfach nach einem Namen mit ’V’ und ’Z’ gesucht. Viza war einfach das einzige, was mir auf die Schnelle einfiel.« (gn)