Das Software-Karussell für den Atari ST dreht sich: Drei brandneue Textverarbeitungen stehen auf dem Prüfstand. Welches Programm ist das beste?
Das Attribut »brandneu« ist beinahe zum Standard geworden, wenn über den Atari ST und seine Software berichtet wird. Sowohl die Computer selbst als auch die bisher verfügbaren Softwareprodukte werden den Händlern noch ofenwarm aus den Händen gerissen. Es ist ein offenes Geheimnis, daß so manches Softwa-reerzeugnis den Eindruck erweckt, sozusagen »mit heißer Nadel gestrickt« zu sein, um nur ja als erstes seiner Art auf den Markt zu kommen. Doch heiße Nadeln stechen große Löcher und die Ergebnisse der Strickarbeit halten bisweilen einer ernsthaften Überprüfung nicht stand.
Im Bereich der Textverarbeitung scheinen sich die erfolgreichen Tage der heißen Nadel ihrem Ende zuzuneigen. Wenn sich auch die Großen auf diesem Gebiet wie MicroPro mit »Wordstar« und Microsoft mit »Word« bezüglich des Atari ST (noch) in Schweigen hüllen, so gibt es doch andere, die viel von Textverarbeitung verstehen und ihre Kenntnisse auch auf dem Atari ST in die Programmwirklichkeit umsetzen können. Drei neue Textverarbeitungs-programme treten an, die Gunst (und den Geldbeutel) des ST-Besitzers zu erobern. Zwei dieser drei sind zwar noch Vorabversionen, ihr endgültiges Leistungsvermögen läßt sich aber schon jetzt recht gut abschätzen. Es handelt sich dabei um das heiß erwartete »GEM-Write« des GEM-Erfinders Digital Research, fester Bestandteil der Grundausstattung der Atari 520 ST-Pakete, und um das Programm »1ST WORD« der Firma GST, ein Produkt aus England. Beide Programme benutzen die zukunftsweisenden Eigenschaften von GEM.
Das dritte Programm im Bunde bildet in dreifacher Hinsicht eine Ausnahme. »ST Writer« ist erstens ein reines TOS-Programm, zweitens ein Geschenk der Firma Atari an die ST-Besitzer, und drittens, und das ist vielleicht seine stärkste Eigenschaft: Es ist fertig und sofort verfügbar. Einem geschenkten Gaul soll man bekanntlich nicht ins Maul schauen, aber es sollte doch erlaubt sein, ihm ein klein wenig auf den Zahn zu fühlen. Zumal der »ST Writer« sich hinter seinen käuflichen TOS-Brüdern nicht unbedingt zu verstecken braucht. Mitgeliefert werden zwei Textdateien mit einer Referenzliste der zahlreichen Steuerbefehle und einer für Anfänger ausgelegten Kurzeinführung in die Arbeit mit dem »ST Writer«.
Druckeransteuerungstabellen können von einem ebenfalls mitgelieferten Programm erzeugt werden, dessen Sourcecode in der Computersprache »C« eine Einstellung auf verschiedene Drucker erlaubt. Eine Tabelle für Epson- und steuerzeichenkompatible Drucker ist bereits angelegt. Allerdings werden auf dem Bildschirm darstellbare deutsche Zeichen nicht ausgedruckt.
Der Befehlssatz von »ST Writer« ist umfassend und ermöglicht alle wichtigen Funktionen der computergesteuerten Textverarbeitung. Das Fehlen einer Funktion zur Silbentrennung ist sicherlich zu verschmerzen. Hinderlicher ist vielleicht für einige Anwender die Tatsache, daß alle Steuerzeichen stets auf dem Bildschirm dargestellt werden und somit der bearbeitete Text nicht direkt in seiner endgültigen Form auf dem Bildschirm begutachtet werden kann (Bild 1). Dieses Manko wird aber dadurch fast ausgeglichen, daß »ST Writer« den fertig formatierten Text auf allen Ausgabeeinheiten, also auch auf dem Bildschirm, ausgeben kann. Besonders hervorzuheben ist die große Geschwindigkeit von Bildschirmaufbau und Suchfunktion. Schneller konnte das bisher kein Konkurrent, und auch die beiden Mitstreiter »GEM Write« und »1ST_WORD« können da nicht ganz mithalten.
»ST Writer« ist ein ausgereiftes Produkt für den schmalen Geldbeutel (Preis: 0,00 Mark) und könnte zu einem Spitzenreiter der Public Domain-Software werden. Besonders Besitzer des kostengünstigen Atari 260 ST, der ja ohne »GEM Write« geliefert wird, werden es dankbar vermerken.
Wahre Wunderdinge hat man sich von »GEM Write« versprochen. Bei der Begutachtung der nunmehr neuesten Vorabversion kann man sich jedoch einer leichten Enttäuschung nicht erwehren. Nach dem Starten des Programms aus dem Desktop, zeigt sich auf dem Bildschirm das bekannte Bild eines GEM-Programms mit Fenster, Menüleiste und Pull-Down-Menüs (Bild 2). Beim Arbeiten stellt sich jedoch bald heraus, daß sich bei der eigentlichen Texteingabe kaum Vorteile gegenüber einem reinen TOS-Programm ergeben. Sollte sich hier ein Standardargument der GEM-Gegner bestätigen? Wozu die Maus, wenn Texte ja doch nur mit der Tastatur eingegeben werden können? Beim Editieren einmal erfaßter Texte zeigt die Atari-Maus jedoch, daß sie auch hier zu Hause ist. Textbewegungen, Blockoperationen, Textformatierung und Druckbildgestaltung sind ihre wahre Leidenschaft. Das ist mit Cursorsteuerung so einfach und einsichtig nicht zu machen. Dennoch hat Digital Research an die konservativeren ST-Benutzer gedacht und die wesentlichen Funktionen auch über Funktionstastenwahl erlaubt.
Bei aller Begeisterung fallen aber doch ein paar Wermutstropfen in den Freudenbecher. So ist das nach Programmstart eingeblendete Textfenster das einzig darstellbare. Wer erwartet hatte, daß Texte aus zwei oder mehr Fenstern gemischt werden können, sieht sich enttäuscht. Man kann lediglich, an beliebige Stellen im Text, andere Textbausteine von der Diskette nachladen und in den Haupttext einfügen. Es gibt nur vier verschiedene Textformen, die allerdings beliebig mischbar und in der gewählten Form auf dem Bildschirm darstellbar sind. Dabei fehlt insbesondere die häufig wichtige Hoch- und Tiefstellung von Texten. Blocksatz läßt sich nur beim Ausdrucken realisieren, nicht auf dem Bildschirm. Die besonders heiß erwartete Einfügung von Grafiken in den Text ist zu diesem Zeitpunkt noch nicht möglich.
Es ist zu hoffen, daß die Endversion noch einige Verbesserungen bringen wird. Ob diese Endversion wirklich so bald fertig sein wird, muß leider etwas bezweifelt werden. Die jetzt vorliegende Version benötigt noch zwei Diskettenlaufwerke für Programmdiskette und Druckertreiber mit eigenem Ausgabeprogramm. Zur Zeit lassen sich nur Epson- und kompatible Drucker ansteuern, deutsche Umlaute aber noch nicht auf dem Drucker wiedergeben. Diese und ein paar andere kleine Fehler bestätigen den Eindruck, daß Digital Research noch einiges zu tun haben wird.
Viel weiter scheint da die englische Firma GST zu sein. Ihr Programm »1ST_WORD« ist zwar auch erst in einer Vorabversion zu bewundern, scheint aber in vielen Punkten der Endversion näher zu sein. Hier fehlen noch Rand- und Tabulatoreinstellung, es gibt nur einen Druckertreiber (ebenfalls für Epson-Drucker, in der Endversion sollen aber entsprechende Treiber für die gebräuchlichen Drucker auf der Diskette sein), der aber schon deutsche Zeichen verarbeitet. Der Seitenumbruch ist noch nicht im Text einstellbar. Leider nimmt »1ST_WORD« in der Texterfassung auch noch keine deutschen Zeichen an, wohl jedoch bei der schnellen Such- und Ersetzroutine.
Bild 3 gibt einen Eindruck vom äußeren Erscheinungsbild des Programms. Bis auf das Einfügen von Grafiken ist alles möglich, was auch »GEM Write« kann. Sogar fast alle dort vermißten Eigenschaften sind implementiert. Es können bis zu vier Fenster gleichzeitig geöffnet sein, über Blockoperationen mit CUT und PASTE (Ausschneiden und Einfügen) werden Textelemente zwischen diesen vier Fenstern ausgetauscht und Blocksatz unmittelbar auf dem Bildschirm dargestellt. Insgesamt macht »1ST_WORD« einen sehr durchdachten Eindruck. Zwei geradezu geniale Elemente geben davon beredtes Zeugnis.
Unter den Fenstern, direkt auf dem Arbeitsbildschirm, zeigt sich am unteren Rand eine Leiste mit den Funktionstastenbelegungen. Diese Leiste ist aber nicht nur eine Erinnerungshilfe, sondern die entsprechenden, besonders häufig gebrauchten Funktionen können durch Anklicken mit der Maus abgerufen werden. Man hat also für diese Funktionen drei Anwahlmöglichkeiten, nämlich Anklicken im Pull-Down-Menü, Anklicken in der eingeblendeten Funktionstastenleiste und Betätigen der Funktionstaste.
Wohl bisher einzigartig ist, daß sämtliche Zeichen des sehr umfangreichen ST-Zeichensatzes im Text nutzbar sind. In Bild 3 ist auf der rechten Seite unter den Fenstern ein Teil eines Blattes mit eben diesen Zeichen zu sehen. Durch Anklicken mit der Maus werden die angewählten Zeichen an der Cursorposition in den Text übernommen. Theoretisch ist damit ein Schreiben ohne Tastatur erstmals möglich. Das könnte mit entsprechender Hardwareausstattung Schwerstbehinderten die Kommunikation mit ihrer Umwelt erleichtern.
Die Frage nach dem Wert von Textverarbeitung mit GEM-Funktionen ist schon häufig gestellt worden. Die hier vorliegenden Vorabversionen von zwei Textsystemen unter GEM, lassen auch hartnäckige Zweifler schnell verstummen. »GEM Write« kann noch nicht ganz überzeugen, es fehlt ja noch seine einzigartige Funktion der Grafikeinfügung. Was intelligente Programmierung vermag, zeigt in überragender Weise das rundum gelungene Programm »1ST_WORD«. Der geschenkte Gaul »ST-Writer« braucht den Blick in sein Maul in keiner Weise zu scheuen. Die Softwarewelle für den Atari ST hat eindrucksvolle Produkte an Land gespült.
Büd 1. Wertvolle* Geschenk: »ST-Write*« von Atari
Bild 2. Heiß ersehnt: »GEM Write« von Digital Research
Büd 3. MeUterstück: »lST_WORD« von GST