Nach einem dreiviertel Jahr Entwicklungszeit stellte die Firma IBP Gerätebau GmbH aus Hannover eine zum Mega ST kompatible Industrie-Version im 19-Zoll-Gehäuse vor. Um den harten Einsatzanforderungen als Meß-, Regel- und Automatisierungscomputer zu genügen, hat sie den gesamten ST-Komplex im Europakassettenformat (3HE/14TE) neu konzipiert. Im 190ST, so der Name des Prunkstückes, sind alle unliebsamen Eigenschaften der ST-Computer-Familie beseitigt. Die ehemalig riesige Platine des ST hat man völlig neu entflochten, dabei auf drei Europakarten verteilt und in Sandwich-Technik mit Kontaktleisten verbunden. Besonderes Augenmerk verdient die Integration der Schnittstellen auf der Frontplatte.
Vorhanden sind gepufferte DMA- und Centronics-Schnittstellen im Atari-Buchsen-Format. MIDI und RS232 erhielten vergoldete 9polige Sub-D-Stecker. Ebenfalls abweichend von der Atari-eigenen Hausnorm wurde der Tastaturanschluß an den V.24-Pegel angepaßt und die beiden nun getrennt liegenden Monochrom- und Farbmonitorausgänge auf Sub-D-Stecker umgerüstet.
Zu haben ist der 190ST in einer Eurobus-, ECB-, VME- und Megabus-Ausführung. Neu sind gegenüber der Atari-Serie eine softwaregesteuerte Watchdog-Funktion, mehrere Steckplätze für EPROMs, eine automatische Restart-Verzögerung bei Festplattenbetrieb und die vom Mega ST bekannte batteriegepufferte Echtzeituhr. Die Midi-Schnittstelle ist wahlweise mit 126 KBaud zu betreiben und den Audio-Aus-gang erweitert ein durchaus nötiger 1-Watt-Verstärker.
Peripheriebausteine, wie etwa digitale Ein- und Ausgangskarten oder Analog-Digital-Wandler verschiedener Qualität, sind in der jeweiligen Bus-Ausführung bereits vorhanden oder zumindest in absehbarer Zeit erhältlich. Ebenso bietet IBP passende 3y2-ZolI-Laufwerke sowie eine Hard-Disk und weitere auf dem Eurobus ansprechbare CPU-Karten (CPU 65818,8052) mit einem kompletten Meßwerter fassungssystem an. Der 190ST läßt sich mit Coprozessor, Blitter und mit Megabit-DRAMs sowie einer residenten SRAM- Karte (über den Eurobus anzusprechen) nachrüsten.
Unser Testgerät bestand aus folgenden Komponenten:
— 190ST-E in der Eurobus-E-Version mit 2 Megabyte bestückt und Coprozessor 68881 — zwei NEC 1036 Low Power Slim Line-Diskettenlaufwerke, stehend in das 19-Zoll-Rack eingebaut — weiterhin einer 2 x 8-Bit-Outputkarte — einer 24-Bit-Inputeinheit — einem schnellen 12-Bit-Analog-Digital-Wandler.
Alle eben aufgezählten Einheiten sind als Kassetteneinschübe im Europaformat aufgebaut und bis auf die Laufwerke, deren Anschluß seitlich am 190er herausgeführt ist, mit 64poligen Messerleisten am Eurobus angeschlossen. Die A/D-Karte unserer Testversion ergänzen entsprechende Software und einen Testadapter mit verschiedenen Referenzsignalen. Als Tastatur stand ein »ausgeräumter« 260ST zur Verfügung. Der übliche Atari-Monochrommonitor, erweitert mit einem passenden Sub-D-Stecker, stellte das Sichtgerät dar.
Nach der Demontage des Gehäuseoberteils offenbart sich ein gut durchdachtes und solide aufgebautes Innenleben: ein kompakt gestaltetes, sekundär getaktetes Schaltnetzteil mit einer Leistung von 120 VA und eine sehr sauber konzipierte Busplatine für die Aufnahme der oben genannten Europakarten. In unserer Version, also 190ST mit zwei Laufwerken, einer A/D-Wandler-Karte und zwei I/O-Einheiten, stehen noch sechs frei verfügbare 64polige Einschübe für Europakarten zur Disposition.
Unangenehm fiel auf, daß ein für die Anwendung nötiger Lüfter nicht integriert wurde. Bei der hohen Packungsdichte auf den Platinen kommt es leicht zu Wärmestaus und somit zum Drift der Bauteile. Ein Manko, das bei diesem Preis bestimmt vermeidbar ist. Ebenfalls waren Störungen im Horizontalimpuls der Bildablenkung beim Betrieb mehrerer Computer im Raum erkennbar. Ursache hierfür ist wahrscheinlich ein schlecht gesiebter Eingangskreis im Netzgerät. Ein verbesserter Eingangsfilter in der Stromversorgung sollte ohne großen Aufwand realisierbar sein und würde diesen lästigen Nebeneffekt vermeiden.
Wie bereits erwähnt, ist die gesamte 190ST Schaltung auf drei Europakarten verteilt. Vergoldete Steckerleisten stellen die Verbindung der drei Karten her. Sinnvollerweise stecken die 16 RAMs auf der obersten Platine. Die maximale Speicherkapazität ist somit auf zwei Megabyte begrenzt. Um das Umrüsten von der Normalversion mit 512 KByte (also 256-KBit-Chips) auf Megabit-Bausteine zu vereinfachen, hat man das Layout so gestaltet, daß zur Anpassung an die Megabit-ICs nur Lötbrücken zu entfernen sind. Um die Kompatibilität zu gewährleisten, sind alle Custom-Chips von Atari eingebaut. Sockel für Blitter und Coprozessor sind vorhanden. Der Anwender wird es danken, daß alle restlichen Chips ebenfalls auf Sockeln sitzen.
Laut IBP soll in naher Zukunft durch einfaches Ersetzen der Prozessorplatine ein Umrüsten auf den 68020 möglich sein. Neu ist ebenfalls, daß die Eingangsspannung nur noch + 5 V betragen muß. Der Grund hierfür liegt in den Maxim-Treiberbausteinen für die RS232- und Tastaturschnittstelle. Diese Bausteine verfügen über einen eigenen DC/DC Wandler von 5 auf 12 Volt. Hervorzuheben gilt es, daß der DMA-Port nun gepuffert vorliegt. Der Eurobus-Anschluß ist über eine 64polige Messerleiste an der Rückwand der Europakassette zu erreichen.
Die beigefügte Dokumentation beschreibt den 190ST von Grund auf. Schaltpläne, Erläuterungen zu den verwendeten Bauteilen (auch zu den Custom-Chips von Atari) und Ratschläge für eventuelle Erweiterungen sind enthalten. Tips zur Adreßdecodierung der Peripheriekarten und Kartenkennung stellen eine große Hilfe bei der Programmierung dar.
Kompatibilitätsprobleme zeigten sich bei keinem der getesteten Programme. Als Betriebssystem steht dem Anwender alles von RTOS-Pearl für Echtzeitanwendung bis zu der riesigen Flut an Atari-Software unter TOS/GEM offen. Einschließlich der von IBP angebotenen Entwicklungssoftware für die Zusatzprozessorkarten ergeben sich beim Einsatz des 190ST als Prozeß-, Meßwert- und Datenerfassungs-Computer dank der implementierten Erweiterungen keine Probleme mehr.
Alle Aus- und Eingabeeinheiten erreicht man über den Eurobus-E. Der über den Eurobus ansprechbare Adreßraum beträgt beim 190ST 1 MByte. Die Dokumentation behandelt die Adreßbelegung und die Handhabung der einzelnen Befehle durchaus erschöpfend.
Die digitale Ausgangskarte OUT16 verfügt über acht Relais- und acht Optokoppler-Ausgänge, die auf einer 26poligen Pfostenverbindung anschließbar sind. Wahlweise können die Relais auch gegen weitere Optokoppler ausgetauscht werden. Der Aufbau ist in konventioneller Technik gelöst. Eine Decodierlogik steuert zwei 8-Bit-Latches an, die dann über Leistungstreiber, Optokoppler und Relais schalten. Mit den verwendeten Optokopplern lassen sich Schaltzeiten von maximal 10 µS erzielen.
Ein 16stufiger Hexadezimalschalter legt die Adreßlage im I/O-Bereich des Systems fest. Mit Hilfe von verschiedenen Lastwiderständen lassen sich die TTL-kompatiblen Ausgänge an andere Spannungen anpassen. Die ausgezeichnete Dokumentation mit dem kompletten Schaltplan und beiliegenden Softwarebeispielen gibt hierüber Auskunft.
Ähnlich konzipiert wurde die digitale Eingabeeinheit INP24. Hier stehen dem Anwender 24 galvanisch getrennte Eingänge am Eurobus-E zur Verfügung. Die Eingänge sind an den TTL-Pegel angepaßt, doch läßt sich laut Dokumentation eine Umrüstung auf andere Spannungen mittels anderer Vorwiderstände durchführen. Die TTL-Treiberbausteine für die Optokoppler entfallen bei dieser Lösung.
Die erreichbare Schaltzeit der Optokoppler vom Typ TLP 521-4 beträgt wie bei der OUT16-Karte 10 µS. Über drei 8-Bit-Datenleitungen gelangen die Daten an einen Bustreiberbaustein und dann auf den Systemdatenbus. Die Adreßlage bestimmt wieder ein löstufi-ger Hexadezimalschalter.
Das exzellent geschriebene Handbuch umfaßt alle Schaltungsunterlagen, die Adressierungsarten sowie ein Beispielprogramm für die 8052-CPU in Basic.
Ein Umsetzen der verwendeten Programme in eine geeignete Hochsprache wäre hier wünschenswert, da die meisten Benutzer aus Geschwindigkeitsgründen Compilersprachen bevorzugen.
Als Testgerät stand uns die Analog-Digitalwandlerkarte ADC804 mit einer Auflösung von 12 Bit einschließlich Software zur Verfügung. In der mitgelieferten Software finden sich Assembler-Makroroutinen zum Einbinden in verschiedene Hochsprachen. Das Programm ist in ST Pascal Plus mit eingebundenen Makroroutinen geschrieben.
Ein Testadapter, der verschiedene Signale unterschiedlicher Frequenz und Amplitude erzeugt, verdeutlicht die Funktion des A/D-Wandlers einschließlich der beiliegenden Software. Softwaremäßig läßt sich eine Verstärkung von 1, 10 und 100 einstellen. Ebenso sind die 16 verschiedenen Eingangskanäle mit einer Zeitbasis von 100 µS bis 500 ms definierbar. Die Triggerung erfolgt wahlweise auf der positiven oder negativen Flanke des Eingangssignals. Der Mauszeiger weicht dabei einem Kreuz und zeigt proportional zur Bewegung der Maus die Spannung an. Die Zeitbasis ist in Zentimeterschritten ablesbar.
Schaltungstechnisch bietet die A/D-Karte einige interessante Raffinessen wie beispielsweise die Funktion zwischen 16 massebezogenen und acht differentiellen Eingängen zu wählen. Die Umsetzung eines Meßwertes erfolgt alle 30 µS mit einer Auflösung von 12 Bit. Digital- und Analogseite sind vollkommen galvanisch getrennt über Optokoppler aufgebaut.
Die analogen Eingangssignale gelangen über je einen Operationsverstärker auf den Analog-Multiplexer. Die anschließende Sample & Hold-Stufe stabilisiert das analoge Signal so lange, bis der verwendete A/D-Wandler vom Typ ADC804 das Signal abgetastet und umgesetzt hat. Das serielle Ausgangssignal wird seriell-parallel gewandelt und danach über einen programmierbaren Logikbaustein einem Vergleicher zur Adreßdecodierung zugeführt. Über einen anschließenden Datenbustreiber gelangen die Daten auf den Systembus.
Der Eingangsspannungsbereich der A/D-Karte beträgt -10/+10 V und ist ohne einen erneuten Abgleich nicht zu verändern.
Die Empfindlichkeit der Differenzverstärker reicht mit Typ ± 0,02 Prozent bei einer Verstärkung von 100 für die meisten Anwendungen aus. Im Handbuch ist das Schaltbild der Karte, die Funktion, Anwendungen und Datenblätter der verwendeteten Typen aufgeführt.
Zusammenfassend sind die von der Firma IBP realisierten Projekte 190ST und Peripherie als durchaus gelungen zu bezeichnen. Die Ausführungen können sich am allgemeingültigen Industriestandard messen und brauchen keinen Vergleich zu scheuen. Zukünftige Entwicklungen, wie zum Beispiel eine 68020-Platine, erwarten wir mit Spannung.
Die Handbücher und Dokumentationen wurden sehr sorgfältig und mit Liebe zum Detail gestaltet. Entwicklungsingenieure und Techniker finden in ihnen genügend Background zur Weiterentwicklung und Systemanpassung. Mit der Einführung des 190ST eröffnet sich ein brei-Les Spektrum von neuen Einsatzgebieten. Nicht nur die Firma IBP, die nach Auskunft der Geschäftsleitung bereits etliche Aufträge für den 190ST hat, profitiert von diesem neuen Anwenderkreis der Prozeßrechentechnik, der Steuerung von Anlagen und der Meßwerterfassung. Auch Atari selbst wird mehr oder weniger Nutznießer der neuen Entwicklung sein.
Für den Otto-Normal-Verbraucher bleibt der 190ST und seine Zusätze zumeist ein unerfüllbarer Traum, denn all die schöne Technik hat einen hohen Preis. Zu hoffen bleibt, daß die Firma IBP bei entsprechenden Verkaufszahlen des 190ST den Preis so weit sinken läßt, daß auch die Hauptanwender der Atari-Produkte ihre Hardware-Entwicklungswut auf einem »offenen« System, das der 190ST darstellt, verwirklichen können. Wenn nicht, könnte man sich vorstellen, daß Atari selbst die Herausforderung annimmt und in Zukunft seine Produkte (siehe Mega ST) besser konzipiert und nicht immer dem Anwender den Griff zu Lötkolben und Seitenschneider auferlegt. (uh)
Produktname: 190ST
Preis: ab 2240 Mark
Hersteller: IBP Gerätebau GmbH
Stärken
□ voll ST-kompatibel □ solide Bauweise □ geringer Strombedarf □ gepufferter Bus
Schwächen
□ Preis □ maximal 2 MByte RAM □ fehlender Lüfter □ Störung in der Bildablenkung
Fazit: Erster »offener« ST, der voll für den Industrieeinsatz geeignet ist.
Bezugsquelle: IBP Gerätebau GmbH, Lilienthalstraße 13