Atarium: Was lange währt, wird nicht viel besser

Über Betriebssysteme, Kompatibilität und TOS-Listings

Julian Reschke: »Inoffizielle« TOS-Listings mit Vorbehalt genießen

Eine kalte und stürmische Nacht. Nach unzähligen Versuchen verflucht der Programmierer Dokumentationen, Compiler, Libraries und Betriebssystem und holt wieder einmal den Disassembler hervor, um das Betriebssystem zu durchforschen. »Wie einfach war es doch damals mit meinem Zumbitsu 8000« grummelt er verdrossen vor sich hin...

Die Firmenpolitik von Atari in bezug auf das mitgelieferte Betriebssystem kann sogar Atari-Fans der ersten Stunde wie uns in Rage versetzen. Wünschenswert wäre ein effizientes und fehlerfreies Betriebssystem (das sollte nach drei Jahren eigentlich nicht zuviel verlangt sein) und eine gute Dokumentation seitens Atari.

Aber nein, auch im Blitter-TOS sind noch viele schon lange bekannte Fehler drin, eine offizielle Dokumentation gibt es nicht, der Hard-Disk-Treiber und das G-DOS müssen noch immer gebootet werden. Seit Herbst 1987 ist eine überarbeitete Systemdokumentation versprochen.

Aber auch die Programmierer haben Anlaß zur Selbstkritik. Allzu viele Programme haben noch immer Schwierigkeiten mit dem Blitter-TOS. Atari täte gut daran, alle neuen Computer auch mit der aktuellsten Betriebssystemversion auszuliefern — nicht nur wegen der beseitigten Fehler, sondern auch um den Übergang zu beschleunigen.

Viele glauben, daß man nichts falsch machen kann, solange man nicht »direkt« Routinen im ROM aufruft. Folgenschwerer Irrtum! Alle Systemvariablen oberhalb von $600 sind absolut tabu, da sie sich bei jeder Änderung des Betriebssystems verschieben können!

Mindestens ebenso gefährlich ist die »schleichende« Inkompatibilität: Darunter verstehen wir Unterschiede zwischen TOS-Versionen, die nicht so offensichtlich sind. Man denke zum Beispiel an die Fehlertoleranz bestimmter Routinen: Das eine TOS verkraftet den falschen Aufruf einer Routine klaglos — das andere stürzt unter Umständen ab! Daher: Das Betriebssystem liefert Fehlercodes zurück, damit man sie beachtet!

Ein absolut zweischneidiges Schwert sind Bücher, in denen Auszüge aus dem Betriebssystem abgedruckt sind. Einerseits sind sie bei der Fehlersuche manchmal einfach unverzichtbar. Andererseits verleiten sie dazu, bestimmte Verhaltensweisen des Betriebssystems als unveränderlich zu sehen, obwohl man sich keinesfalls darauf verlassen darf.

Drei Bücher für Profis

Seine Neugierde kann der verzweifelte Programmierer zur Zeit mittels dreier Bücher stillen: Da wäre zunächst »Atari ST Intern«, in dem man ein gut kommentiertes Assembler-Listing von BIOS und XBIOS in der TOS-Version vom 6.2.1986 findet. Im »Atari ST GEM« steht ein komplettes Listing des VDI und Auszüge aus dem AES (wiederum für die alte TOS-Version).

Auf Höhe der Zeit ist das brandneue Buch »Das TOS-Listing — BIOS-GEM-DOS-VDI«. Kann dieses Buch den durch den hohen Preis gesetzten Erwartungen (68 Mark für 366 Seiten sind nicht eben günstig ...) gerecht werden?

Die Autoren geben zunächst eine kurze Übersicht über die Neuerungen im Blitter-TOS. Es folgen eine Kurzbeschreibung des Blitter-Chips und ein Überblick über den Aufbau von GEM-DOS. Das Kapitel schließt mit dem bemerkenswerten Resümee, daß das Betriebssystem außer einigen »Flüchtigkeitsfehlern« keine ernsthaften »konzeptionellen Schwächen« habe. Dieser Meinung sind wir ganz und gar nicht und erklären hiermit die Diskussion über dieses Thema für eröffnet...

Die Liste der Systemvariablen macht bei den »offiziellen« nicht halt und sollte daher nur von Programmierern mit gefestigter Einstellung zum »sauberen Programmieren« gelesen werden. Während das Listing von BIOS und XBIOS voll und ganz den Erwartungen entspricht, muß man bei der Dokumentation des VDI Abstriche machen: Zunächst einmal handelt es sich nur um Auszüge aus dem VDI, so daß dem Interessierten nach wie vor nur das zweite Buch empfohlen werden kann. Groll verursachen auch andere Ungereimtheiten:

Das letzte Kapitel schließlich bietet ein sehr sorgfältig kommentiertes Assembler-Listing des Atari-Hard-Disk-Treibers AHDI. Hier lernt man nicht nur, wie man die Festplatte über den DMA-Chip anspricht, sondern auch, wie man systemnah programmiert, ohne dabei inkompatibel zu anderen TOS-Versionen zu werden.

Fazit: Dieses Buch hat leider unsere tief verwurzelten Vorbehalte gegenüber einem TOS-Listing von »inoffizieller« Seite bestätigt. Vor einer Veröffentlichung hätte zumindest der abgedruckte Assembler-Code durch probeweises Assemblieren geprüft werden müssen (auch eine orthographische Überarbeitung hätte nicht schaden können). Wer sich allerdings für die Innereien des GEM-DOS oder des Festplattentreibers interessiert, sollte sich dieses Buch unbedingt einmal ansehen.

(Julian Reschke/Ulrich Hofner)

Literatur:

Brückmann/Englisch/Gerits: »Atari ST Intern«, Data Becker 1987 Abraham/Englisch/Günter/Sczepanowski: »GEM«, 1986

Kramer/Riebl/Hübner: »Das TOS-Listing — BIOS-MDOS-VDI«, Heise Verlag 1988


Julian F. Reschke
Aus: ST-Magazin 04 / 1988, Seite 75

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