ATARI-Tuning per Software (4)

In diesem Teil des Tuning-Artikels geht es um die optische und funktionelle Erweiterung des inzwischen verstaubten ATARI-TOS- Betriebssystems. Hierfür ist der Einsatz alternativen Desktops notwendig, von denen wir einige für Sie getestet haben.

Alternative Desktops

Seit Larry Tessler 1979 bei Xerox die grafische Benutzeroberfläche erfunden hat, ist das erste, was ein Benutzer von einem modernen Betriebssystem sieht, immer der Desktop (oder Finder, wie er bei Apple genannt wird).

Der Desktop soll, wie der Name schon sagt, einen Schreibtisch symbolisieren, auf dem die Dinge, mit denen man arbeitet, herumliegen. Laufwerke als Karteikästen und Fenster als Dokumente, in denen man arbeiten kann, zeigen diesen Gedanken der Visualisierung. Digital Research stellte Anfang der Achtziger mit seinem GEM die zweite grafische Benutzeroberfläche vor, die dann 1985 von ATARI für den ST erwählt wurde. Damals mag der Desktop ja noch das Ultima Ratio der Computerbedienung gewesen sein, heutzutage ist er aber auch nach der Renovierung im TOS 2.06 nicht mehr up to date. Deshalb gibt es inzwischen schon eine Menge an alternativen Desktops, die sich zwar am Original orientieren, aber alle sehr interessante Erweiterungen bieten.

Diese alternativen Desktops können nun von ATARI-Anwender nachgeladen und in das System integriert werden, so dass man auch mit älteren STs über eine Funktionsvielfalt und Optik verfügt, die man ansonsten nur auf neueren Computersystemen vorfinden kann. Ein Teil der hier vorgestellten Alternativ-Desktops wird zwar nicht mehr weiterentwickelt, ist aber dennoch erhältlich und durchaus so weit gediehen, dass der Einsatz auf jeden Fall empfohlen werden kann.

Gemini

Gemini von Gereon Steffens & Stefan Eissing ist der Urvater aller modernen alternativen Desktops auf dem ATARI. Er bot schon bei seinem Erscheinen 1989 Features, die der Original ATARI Desktop teilweise nie bekommen sollte. Gemini hat eine integrierte Unix-kompatible Shell, die im Fenster läuft und auch batchfähig ist. In dieses Fenster können auch die Bildschirmausgaben von TOS Programmen umgeleitet, die Programme auf den Desktop gelegt und für Fenster eine Unix-Dateimaske definiert werden. Es ist möglich, sehr komfortabel für alle Dateien ein eigenes Icon zu benutzen. Gemini unterstützt auch Mini-Icons für die Listen-Anzeige im Dateifenster. Farbicons können auch unter normalem TOS benutzt werden. Mit Gemini hielten zum erstenmal Protokolle zur Prozeßkommunikation Einzug in die ATARI-Welt. Das AV Protokoll wird heute von vielen Programmen benutzt, und auch alle anderen Desktops unterstützen dieses Protokoll. Gemini kann mit langen Dateinamen umgehen, allerdings nur in den Dateifen- stern und nicht in den Dialogen. Die Dialoge sind mit der Tastatur zu bedienen, liegen allerdings nicht in Fenstern, sondern sind Fly-Dialoge. Gemini kann symbolische Links für Dateien anlegen, so dass man Verweise auf Programme in einem Ordner haben kann, ohne das Programm selbst dorthin kopieren zu müssen. Viele kleine Dinge machen das Arbeiten mit Gemini sehr angenehm. Alles, was es an Erweiterungen fürs TOS installieren kann, wird auch unterstützt: z. B. GDOS Fonts (auch proportionale), MultiTOS, MagiC. Für die Mupfel (so heißt die Gemini Shell) gibt es sehr viele Tools aus der Unix-Welt, und die Integration der Shell in den Desktop ist sehr komfortabel gelöst.

Leider wird Gemini meines Wissens zur Zeit nicht weiterentwickelt, aber vielleicht finden die Sourcen ja einen neuen Betreuer oder werden freigegeben. Die aktuelle Version ist - soweit mir bekannt - die 1.999.

Thing

Thing von Arno Welzel und Thomas Binder wurde erstmals 1994 veröffentlicht, wird seitdem immer weiter gepflegt und ist jetzt in der Version 1.09 erhältlich; die Version 1.20 wird demnächst erscheinen. Thing ist ein moderner Desktop und bietet alles, was ein modernes ATARI Programm unterstützen sollte: kontextsensitive Hilfe mit ST- GUIDE, es gibt fast immer eine Hilfestellung über die HELP-Taste; volle Einbindung von alternativen Dateisystemen unter MinT und MagiC, es werden case-sensitive und bis zu 32 Zeichen lange Dateinamen unterstützt; TOSWIN-Unterstützung unter MinT, so dass TOS/TTP Programme auch unter Single TOS gleichzeitig ablaufen können. TOS2GEM wird als Consolefenster benutzt, und da es vom selben Autor ist, auch voll ausgenutzt. Winx, Let'em Fly, Freedom und Space- Funktionen werden benutzt. Wenn vorhanden, wird der Kobold zum Kopieren von Dateien und wahlweise auch zum Formatieren benutzt. Thing arbeitet absolut auflösungsunabhängig und auch mit beliebig großem Systemfont. Es gibt die Möglichkeit, auch farbige Hintergrundgrafiken in den Desktop einzubinden. Alle auf ATARI-Systemen bekannte Fontsysteme wie GDOS, Speedo und TrueType können benutzt werden, auch proportionale Fonts sind erlaubt. Alle Dialoge entsprechen dem Stand der Programmiertechnik, sie sind in Fenstern und damit non-modal, haben Tastaturshortcuts und benutzen auch solche Dinge wie Registerkarten und Drag&Drop Listenfelder. 3-D-Effekte werden allerdings zur Zeit nur sehr spärlich verwendet. Alle Icons werden aus einer normalen Resourcedatei genommen und können beliebig groß und auch farbig sein. Die farbigen Icons können auch unter einer alten AES Version benutzt werden und sind nicht auf ein TOS 4.0x oder MagiC angewiesen. Die Iconzuweisungen werden über die Icontexte vorgenommen und können mit einem beiliegenden Programm konfiguriert werden. Es gibt - wie auf dem Windows Programmanager - Objektgruppen, in denen man Programme und Dateien zusammenfassen kann, auch wenn sie in verschiedenen Pfaden liegen. Thing bietet Protokollunterstützung für alle wichtigen Protokolle: AV-Protokoll, so dass auch für Gemini geschriebene Tools ver- wendet werden können, Drag&Drop unter MultiTOS und MagiC ab Version 3, außerdem das Font-Protokoll von Christian Grunenberg. Daneben bietet Thing noch viele weitere praktische Dinge wie z.B. Auto-Locator, Filenamecompletion, CPX Unterstüzung, automatische Auslagerung von Thing bei einem Programmstart. Das größte Manko von Thing ist vielleicht sein großer Speicherbedarf von bis zu 550 Kb bei Benutzung von Farbicons, bei 256 Farben und darüber wird es sogar noch mehr. Man sollte bei wenig Speicher dann lieber die Monochrom Icons verwenden.

Nodesk

Der Nodesk unterscheidet sich von den anderen Desktops in seinem internen Aufbau sehr, da er auf einem objektorientierten System aufsetzt. Diese Objektorientierung ermöglicht es dem Benutzer, alles, aber auch wirklich alles, nach seinen Wünschen zu ändern. Diese absolute Konfiguriermöglichkeit macht ihn einzigartig. Alle Funktionen und Tastaturkommandos, das Verhalten beim Anklicken, Verschieben, Löschen, Kopieren oder Formatieren lässt sich ändern, die Menüleiste des Desktops lässt sich ebenfalls ändern und erweitern. Der Nodesk erlaubt es, in einem Multi User Modus zu fahren, so dass sich jeder User seinen individuellen Desktop konfigurieren kann. Es ist auch möglich, eine Konfiguration jederzeit nachzuladen. Der Desktop unterstützt wie Windows 95 Kontextmenüs, die beim Klicken mit der rechten Maustaste auf ein Objekt (Datei, Laufwerk, selektierten Text oder Fenster ... ) als Popup Menüs aufklappen. In diesen Menüs werden nur für dieses Objekt sinnvolle Aktionen angeboten, bei Dateien z.B. Umbenennen oder Löschen. Diese Objekt-Kontextmenüs lassen sich auch beliebig anpassen und erweitern. Nodesk benutzt ein eigenes Fenstersystem, das es z.B. auch erlaubt, die Fenster an jeder Ecke zu vergrößern oder zu verkleinern. Fensterinhalte können mit der rechten Maustaste in Realtime gescrollt werden. Für Archivdateien wie ZIP, LZH u.a. liegen Module vor, mit denen man sich den Inhalt in einem ganz normalen Dateifenster ansehen kann. Sie werden praktisch wie Ordner behandelt. Wenn die Pakker vorhanden sind, können die Archive auch direkt bearbeitet werden. Der Desktop kommt ein einem kompletten 3-D-Look daher, der sich aber auch komplett ändern lässt. Nodesk hat eine integrierte Shell, die auch eine Scriptsprache unterstützt, mit der man den Desktop steuern kann. Der Desktop schöpft seine Funktionalität aus den Möglichkeiten dieser Shell, die kompatibel zur Unix Shell CSH ist. Über diese Scriptsprache, die auch der Desktop benutzt, kann jeder grafischen Aktivität ein Befehl zugewiesen werden. Ein Doppelklick auf eine Datei führt praktisch im Hintergrund ein Script mit dem Namen der Datei als Parameter aus. Nodesk läuft auch unter MultiTOS und MagiC und kann dort als Standard-Desktop verwendet werden.

Zur Konfiguration der einzelnen Parameter und der Menuleiste liegen eigene Hilfsprogramme bei. Die Dokumentation ist sehr informativ und äußerst umfangreich - immerhin fast 300 K ASCII-Text. Dies ist angesichts der Möglichkeiten, die die Objektorientation des Desktops bietet, allerdings auch nötig. Leider wird Nodesk zur Zeit scheinbar nicht weiter entwickelt.

Neodesk

Neodesk kommt aus den Vereinigten Staaten und ist der älteste kommerzielle Desktopersatz, er liegt zur Zeit in der Version 4 vor. Neodesk bietet viele interessante Features, die man nicht überall findet. Jedes Dateifenster hat seine eigene Menuleiste, um immer schnell auf die benötigten Optionen zugreifen zu können und seinen eigenen Mülleimer. Es ist möglich, ein Fenster zu splitten, so dass man in der Lage ist, in einem großen Verzeichnis an mehreren Stellen gleichzeitig zu arbeiten, ohne seinen Desktop mit Fenstern zu überfüllen. Über einen Button am Fenster kann man alle Objekte auf einmal selektieren. Die Selektion bleibt natürlich auch bestehen, wenn man das Fenster scrollt. Objekte können auch über die Tastatur selektiert werden. Ein eigenes Iconverwaltungs- und Iconedit-Programm unterstützt bei der Zuweisung der Dateikennungen an die Icons. Es werden Farbicons auf allen TOS Versionen unterstützt.

Wie auch Thing erlaubt es Neodesk, verschiedene Programme und Dateien in einer Gruppe zusammenzufassen, um sie in einem direkten Zugriff zu haben. Es gibt eine integrierte RAM-Disk, die nur so viel Speicher beansprucht, wie die in ihr gespeicherten Objekte belegen. Auf dem Desktop kann man mit der rechten Maustaste Notizen schreiben, so dass man seine Termine immer im Auge hat. Zum Kopieren von Disketten benutzt Neodesk ein ausgeteiltes Verfahren, um nur belegte Teile ohne Diskettenwechsel zu kopieren, es können hiermit können auch Harddisk Partitionen kopiert werden. Alle File Operationen können im Hintergrund vorgenommen werden, so dass man während des Formatierens einer Diskette weiterarbeiten kann. Desktop Operationen können mit einem Macrorecorder aufgezeichnet und auf eine beliebige Tastenkombination gelegt werden. Leider unterstützt Neodesk keine eigene Shell. Dafür ist es aber an das vom selben Hersteller programmierte Geneva, einen Multitasking AES Ersatz, angepaßt und kann auch im Bundle gekauft werden. Es wird immer noch weiterentwickelt.

Ease

Ease ist ein kommerzieller Desktop, der aus Deutschland kommt und von ASH vertrieben wird. Er liegt zur Zeit in der Version 5 vor. Ease ist sehr gut an MagiC angepasst und wird auch mit diesem im Paket angeboten. Auch Ease bietet alles, was man von einem modernen Desktop erwartet. Dialoge in Fenstern, Farbicons unter allen TOS Versionen, einen eigenen sehr guten Iconeditor mit Iconregelverwaltung. Ease ist in der Lage, seine Dateifenster als Icon auf den Desktop zu legen, so dass man den Bildschirm schnell aufräumen kann. Mit Buttons im Dateifenster kann man sehr schnell zwischen Icon und Textdarstellung wechseln, die Sortierreihenfolge oder den Font der Textdarstellung ändern. Auch kann man hier aus einer Liste von Dateimasken wählen. Wie Neodesk kann auch Ease Notizen auf dem Desktop ablegen. Kobold kann auch hier vom Desktop genutzt werden, um Dateien zu kopieren. Wenn man unter dem Desktop drucken will, hat man die Wahl zwischen GEMDOS-Druckern oder einem GDOS-Drucker, wobei man dann auch die Druckernummer frei wählen kann. In die Menüleiste können Programme zum schnellen Start aufgenommen werden. Die 3D-Optik der Dialoge sieht sehr ansprechend aus, und der gesamte Aufbau des Programmes macht einen sehr durchdachten und aufgeräumten Eindruck.

Jinnee

Jinnee ist ein nagelneuer kommerzieller Desktop von ASH, der speziell an MagiC angepasst ist. Er kann z.B. keine Farbicons darstellen, wenn das System sie nicht unterstützt, erforderlich sind also mindestens TOS 4.0x oder MagiC. Die von ihm gebotenen Features sind aber sehr umfangreich. Ein Test war in einer der letzten ST Computer/ATARI Inside, weshalb ich hier auf weitere Ausführungen verzichte.

Fazit

Ein grundsätzliches Problem all dieser Desktops ist aber der teilweise immense Speicherverbrauch. Zwar lassen sich alle Desktops beim Laden von Programmen bis auf einen kleinen Loader aus dem Speicher verbannen und werden beim Beenden des Programmes wieder nachgeladen, dies ist ohne Festplatte allerdings äußerst langsam.


Thomas Göttsch
Aus: ST-Computer 11 / 1997, Seite 30

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