SST - Top Speed: Classified - Beschleunigerkarte für den ST

In der vorletzten Ausgabe hatten wir einen umfangreichen Vergleichstest von Turbo-Karten für ATARI-ST-Computer durchgeführt. Insgesamt neun Beschleunigerkarten stellten sich unseren harten Tests, Ein weiteres Gerät erreichte uns nicht rechtzeitig und konnte daher nicht in den Bericht aufgenommen w erden. Da es aber ein sehr interessantes Produkt ist, wäre es falsch, es unseren Lesern vorzuenthalten.

Es handelt sich um ein amerikanisches Produkt aus dem Hause Gadgets by Small, bekannt durch den Macintosh-Emulator „Spectre“. SST lautet der schlichte und zunächst einmal nichtssagende Name dieses Geräts, das uns freundlicherweise von der Firma HG-Computersysteme zur Verfügung gestellt wurde. Dave Small, der Entwickler, hat wieder tief in die Hardware-Trickkiste gegriffen und alle Register seines Könnens gezogen. Zunächst die Leistungsdaten des SST: Es findet ein Motorola 68030-Prozessor nebst 68882-Koprozessor Verwendung. 33 MHz ist die Taktrate beider Prozessoren. Eine 50-MHz-Version soll ebenfalls erhältlich sein, lag uns zum Test aber noch nicht vor. Das Besondere an diesem Board ist der zusätzliche RAM-Speicher, der in Form von SIMMS direkt auf der Platine Platz finden kann. Bis zu 8 Megabyte Speicher läßt sich installieren. Eine selbstentwickelte MMU (Memory-Management-Unit) sorgt dafür, daß dieser Speicher vom Betriebssystem verwaltet werden kann. Er erweist sich dabei als TT-RAM-kompatibel. Im Klartext heißt das, daß alle Programme, die auf dem ATARI-TT dessen 32-Bit breiten schnellen Speicher nutzen können, auch im Fast-RAM des SST problemlos laufen. Eine Grundvoraussetzung dafür ist allerdings eine TOS-Version größer 2.0. Erst ab dieser Version werden bestimmte Bits im Header eines Programms ausgewertet und dadurch bestimmt, in welches RAM (ST oder TT-RAM) es geladen wird, und ob es weiteren Speicher aus dem 32-Bit-RAM anfordern darf. Zu diesem Zweck liefert Gadgets by Small die zur Zeit aktuelle Version 2.06 des TOS mit aus. Es handelt sich hier allerdings um die englischsprachige Version, was aber der Funktion an sich keinen Abbruch tut.

Der Einbau

Der Einbau findet auch hier, wie bei allen anderen Vertretern der Hardware-Beschleuniger, über den Austausch der CPU statt. Der 68000er-Prozessor muß aus der ST-Platine entfernt und durch einen Sockel ersetzt werden. Ein solcher Sockel liegt dem Gerät erfreulicherweise bei. Ungewöhnlich ist, daß auch ein einzelner 68000er-Prozessor im Lieferumfang enthalten ist. Dieser hat nur den einzigen Zweck, den Einbau des Sockels zu überprüfen, um Fehler auszuschließen. Ebenso liegt ein weiterer Quarz mit 20-MHz-Frequenz bei. Auf dem SST-Board befindet sich ein Sockel, in dem der Quarz für den mathematischen Coprozessor sitzt. Dieser kann separat von der CPU getaktet werden, dadurch lassen sich höhere Taktfrequenzen verwirklichen, vorausgesetzt, man verfügt über einen entsprechend schnellen Coprozessor. Beim Einbau ist noch zu beachten, daß die Original-ROMs unbedingt aus dem Rechner entfernt werden müssen. Da diese bei allen uns bekannten Modellen gesockelt sind, stellt dies kein großes Problem dar. Sehr wohl zu einem Problem kann der Blitter-Chip werden. Dieser verursacht (wie bei vielen anderen Beschleuniger-Boards auch) teilweise seltsame und grafisch interessante Abstürze des Systems. Man sollte ihn also auf jeden Fall abschalten, besser noch ausbauen.

Die Baugröße des Gerätes läßt es leider nicht zu, noch Grafikkarten oder ähnliche Hardware-Erweiterungen im Mega-ST unterzubringen. Hier sind dem geneigten Bastler Grenzen gesetzt. Eine Diskette randvoll mit Installations- und Utility-Software und ein 140seitiges (englisches) Handbuch runden den Lieferumfang ab. Das Handbuch ist ein echtes Kuriosum. Aufgemacht wie eine Anleitung zum Fliegen des High-Tech-Aufklärungsflugzeugs SR-71 (Überschrift: "SST Flight Operations Manual“), enthält es neben der eigentlichen Beschreibung des Boards viele kleine Anekdoten und Geschichten, die, oberflächlich betrachtet, gar nichts mit dem Gerät zu tun haben, aber das Gefühl von absoluter Exklusivität vermitteln. Dem Benutzer wird unbewußt suggeriert, daß er etwas ganz Besonderes ist, weil er das SST-Board gekauft hat. „Typisch amerikanisches Marketing" werden Sie jetzt sagen, mit Recht. Wer’s mag, wird seine Freude dran haben, wer nicht...

Installation

Doch nun zur Installation. Die MMU des Gerätes muß durch ein AUTO-Ordner-Programm initialisiert werden. Hier wird auch getestet, wieviel Fast-RAM zur Verfügung steht. Im Handbuch wird mehrfach dringlich darauf hingewiesen, daß ein weiteres Programm unbedingt im AUTO-Ordner ausgeführt werden muß, um Datenverluste auf der Festplatte zu verhindern. Details bleiben dabei allerdings im Verborgenen. Mit einem speziellen Programm, das die Zusammenarbeit mit ICD-Festplattentreibern ermöglicht, und einem weiteren Patch-Programm, das das Warmstartverhalten des Computers ändert, werden also vier Programme zur Installation des SST zusätzlich gebootet. Die Boot-Phase verlängert sich dadurch um ca. 30 Sekunden.

Deutlich erkennt man die acht SIM-Sockel für das Fast-RAM.

Besser kalt als warm

Ein Warmstart per Tastenkombination (ALT-CTL-DEL) oder Reset-Taster ist nach Angaben des Herstellers nicht mehr korrekt möglich und sollte deswegen vermieden werden. Das Programm im AUTO-Ordner sorgt nun dafür, daß statt eines Warmstarts immer ein Kaltstart ausgeführt wird. Dies sollte man unbedingt beachten, da es sich natürlich fatal auf resetfeste RAM-Disks o.ä. auswirkt. Der 32Bit breite Speicher läßt sich (in gewissen Grenzen) konfigurieren. Einstellbar ist die Taktfrequenz, mit der auf dem Board gearbeitet wird (in der Regel 33 MHz, aber wie schon erwähnt, wird es auch eine 50-MHz-Version geben) und die Anzahl der Wartezyklen beim Zugriff auf den Speicher. Bei letzteren wird noch einmal zwischen normalem und Burst-Modus unterschieden. Im Burst-Modus kann der Prozessor bei Speicherzugriffen mehrere Bytes in einem Zyklus einlesen. Dies bringt zusätzlich gewisse Geschwindigkeitssteigerungen mit sich. Die Anzahl der Wartezyklen (Wait-States) hängt natürlich von der Geschwindigkeit der verwendeten RAM-Chips ab. Gadgets by Small empfiehlt bei den zum Einsatz kommenden SIMMs, 3 Wartezyklen zu konfigurieren. Bei unseren Tests zeigte sich aber, daß das Board auch mit lediglich 2 Wartezyklen stabil läuft. Weniger sollte man allerdings nicht einstellen, da es dann zu unvorhersehbaren Abstürzen kommen kann.

Die Balkengrafik des GEM-Tests gibt Auskunft über die einzelnen Meßergebnisse.
# NVDI GEM-Test V1.02

Betriebssystem : TOS 2.06 vom 14.11.’91
Referenzsystem : TOS 1.04
CPU : M68030

----------- normal NVDI
Textausgabe 290 % 4130 %
Linien 322 % 796 %
Rechtecke 436 % 798 %
Polygone 317 % 949 %
Kreise/Ellipsen 381 % 1614 %
Rasteroperationen 378 % 723 %
Attributfunktionen 172 % 1805 %
Auskunftsfunktionen 182 % 1382 %
ESCAPES 243 % 631 %
BIOS-Ausgabe 157 % 403 %
GEMDOS-Ausgabe 136 % 1559 %
AES-Objekt-Ausgabe 213 % 724 %

Tabelle 1: Hier sieht man deutlich den Geschwindigkeitsgewinn durch NVDI.

Mac-kompatibel

Das SST-Board ist, laut Auskunft von HG-Computer, das einzige Gerät, das auch in Verbindung mit dem Macintosh-Emulator Spectre einwandfrei funktioniert. Kein Wunder, beide Geräte stammen ja vom gleichen Entwickler. Damit wird dieses Turbo-Board besonders für die Besitzer des Mac-Emulators schmackhaft.

Betriebssicherheit und Kompatibilität

Erfreulicherweise traten während des Betriebs mit dem SST keinerlei Störungen auf. Selbst der 48-Stunden Dauertest als Mailbox brachte das Gerät nicht aus dem Tritt. Mit Hilfe eines ebenfalls mitgelieferten Utilities zum Ändern der Header-Bits von Programmen konnten wir viele bekannte Applikationen im Fast-RAM testen. Schwierigkeiten machen hier naturgemäß nur einige Spiele. Fast alle Anwendungen laufen einwandfrei im schnellen 32-Bit-RAM. Dies ist auch notwendig. Da das SST-Board über keinen zusätzlichen Cache-Speicher verfügt, ist eine deutliche Geschwindigkeitssteigerung gegenüber einem normalen 68000er nur zu spüren, wenn die Programme im Fast-RAM laufen. Dann zeigt das Board aber was in ihm steckt. Unsere Benchmark-Tests (übrigens dieselben, wie wir sie schon im Vergleichstest in der Ausgabe 3/92 einsetzten) beweisen es.

Erstaunlich ist, daß die Ergebnisse bei Grafikausgaben ohne NVDI weit hinter denen vergleichbarer Beschleunigerkarten Zurückbleiben. Hier macht sich der fehlende Cache doch negativ bemerkbar. Auch scheint man auf ein besonders schnelles Zugriffsverfahren auf das Betriebssystem im ROM (wie es fast alle anderen Hersteller verwenden) verzichtet zu haben. Das Betriebssystem ist beim SST auch lediglich 16-Bit breit organisiert (wohl, um direkt die ATARI-ROMs bzw. EPROMs einsetzen zu können). Hier hätte man also noch einiges an Performance gewinnen können. Mit NVDI (das ja ins schnelle Fast-RAM geladen werden kann) sind die Ergebnisse wesentlich besser.

TT-kompatibel?

TT-kompatibles RAM verführt natürlich dazu, spezielle Anwendungen wie z.B. die virtuelle Speicherverwaltung Outside auszuprobieren. Ein erster Test mit Outside verlief zwar negativ, jedoch versicherte uns der Programmierer von Outside, daß man bereits an einer Änderung diesbezüglich arbeite. Outside wird sich in Zukunft also auch mit dem SST einsetzen lassen. Auch andere spezielle TT-Programme (z.B. ROMRAM) bedürfen geringfügiger Anpassungen. Dies ist darauf zurückzuführen, daß die Initialisierung der im 68030-Prozessor integrierten PMMU (Programmable Memory Management Unit), die von solchen Anwendungen benutzt wird, etwas anders durchgeführt wird, als dies im TT der Fall ist.

Fazit

# Qindex 1.8
----------- normal NVDI
CPU-memory 989 989
CPU-register 843 843
CPU-divide 1045 1045
CPU-shifts 3661 3661
TOS-text 172 713
TOS-string 138 2929
TOS-scroll 151 153
GEM-dialog 214 693

Tabelle 2: Die Ergebnisse des Quick-Index-Tests (alle Werte in Prozent).

Wie in Amerika üblich, wird mit geschickten Marketing-Strategien den Besitzern eines SST-Boards eine gewisse elitäre Stellung suggeriert. Verantwortlich dafür ist natürlich das Handbuch. Wer dies durchschaut hat, sollte ruhigen Gewissens einmal einen tieferen Blick in das 140 Seiten starke Epos werfen. Nüchtern betrachtet, ist das SST-Board tatsächlich bis jetzt das einzige Gerät, das einen TT-RAM-kompatiblen Speicher für normale STs funktionsfähig anzubieten hat. Damit sind Speicherplatzprobleme bei Mega-STs mit 4 Megabyte ST-RAM endgültig vergessen. Bis zu 8 Megabyte TT-RAM können direkt installiert werden. Mit insgesamt 12 Megabyte RAM sollten sich dann auch speicherfressende Anwendungen wie DTP und True-Color EBV zufriedengeben. Die Geschwindigkeitswerte sind nicht alles überragend, können sich aber durchaus sehen lassen. Die 50-MHz-Version sollte, wenn sie denn erhältlich sein wird, diesbezüglich das maximal mögliche darstellen. Wie wir kurz vor Drucklegung erfahren haben, soll es problemlos Möglich sein, den 33-MHz-Quarz gegen einen 40-MHz auszutauschen. Zwar erwärmt sich die CPU dann etwas mehr, die Funktionsfähigkeit soll aber zu 100% gegeben bleiben.

Eine Frage bleibt allerdings. Lohnt sich die Anschaffung eines solchen Gerätes, wenn man an die fallenden Preise des ATARI-TTs denkt? Immerhin schlägt „der Jet“ von Gadgets by Small mit 2400,-DM (Einführungspreis für die 4-Megabyte-, 33MHz-Version; 2800,-DM für die 8-Megabyte, 33 MHz-Version) zu Buche. Da ist bald die Schmerzgrenze überschritten. Sicherlich ist eine Umstellung auf ein neues System mit gewissen Risiken verbunden. Wer also nicht auf seinen guten alten Mega-ST verzichten will, aber höhere Geschwindigkeit und vor allem 32-Bit-Fast-RAM benötigt, für den stellt das SST-Board gewiß eine Alternative zur Anschaffung eines TT dar.

Bezugsquelle:

HG-Computersysteme

Krugenofen 88-90 W-5100 Aachen

Das SST-Board schneidet im Vergleich zu den anderen 30er-Karten durchschnittlich ab.

Christian Möller
Aus: ST-Computer 05 / 1992, Seite 10

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