Orchest, das etwas andere MIDI-Musikprogramm

Es muß nicht immer Kaviar sein

In einer Zeit, in der sich die überwiegende Zahl der Sequenzerprogramme stetig aneinander annähert, freut man sich immer wieder über Anwendungen, die bei der Problemlösung einen ganz anderen Weg beschreiten, wie beispielsweise »Orchest«.

Orchest orientiert sich an der traditionellen Notenschrift und Orchesterpartitur. Die Eingabe der musikalischen Information erfolgt dabei in einem integrierten Texteditor über eine spezielle Beschreibungssprache. Orchest ist nicht nur in der Lage, diesen relativ leicht verständlichen Code in klingende Note, sondern auch in Notenschrift umzuwandeln, erreicht aber den Standard aktueller Notendrucksoftware keinesfalls.

Ein Ausschnitt aus der Text-Partitur verdeutlicht Orchests prinzipielle Funktionsweise

Die Orchest-Sprache bedient sich soweit wie möglich der in der traditionellen Musikschrift bereits vorhandenen Symbolik. So fügen Sie zum Beispiel ein < pp >, < mf > oder < fff > ein, um die entsprechenden Dynamikabstufungen zu realisieren. Noten schreiben Sie prinzipiell einfach so hin, wie Sie sie von einem Notenblatt ablesen würden: c läßt also das eingestrichene < cis > erklingen, db3 das dreigestrichene < des >. Notendauern notieren Sie folgerichtig mit < 2 > (Halbe), < 4 > (Viertel), < 8 > (Achtel) usw. Zusätzlich beherrscht Orchest noch eine ganze Reihe zusätzlicher Befehle, um z.B. Bindebögen, Fermaten oder Accele-randi zu erzeugen. Auch Ihr Klangerzeuger läßt sich durch spezielle Befehle für Soundwechsel und Panoramaposition steuern.

Im Unterschied zur herkömmlichen Notenschrift, bei der zeitgleich ablaufende Ereignisse untereinander in Y-Richtung angeordnet sind und der Zeitfluß auf der x-Achse dargestellt wird, läuft bei Orchest die Musik in vertikaler Richtung ab. Nebeneinander stehende Noten (im Orchest-Jargon »Tracks« genannt) ertönen gleichzeitig. Die Zahl dieser Tracks (5-144) ist abhängig von der Orchest-Version. Jedem Instrument (MIDI-Kanal) lassen sich nun beliebig viele Tracks zuweisen (siehe Bild). Orchest ist sicher kein Programm, um mal eben den neuen Sommerhit '93 einzuspielen. Vielmehr bietet es dem eher traditionellen Musiker die Gelegenheit, auch ohne Kenntnis des MIDI-Protokols, seine musikalischen Ideen umzusetzen. Weiterhin bietet der als ASCII-Datei vorliegende Musiktext auch für wissenschaftliche Zwecke enorme Vorteile. Allein mit einem einzigen »Suchen und Ersetzen«-Kommando lassen sich komplexere Manipulationen vornehmen, als dies mit jedem herkömmlichen Sequenzer möglich wäre. Zudem gestattet diese Form der Notation einen ganz anderen Zugang zur Analyse von Musik. Nicht ohne Grund bedient sich die Musikwissenschaft überwiegend solcher oder ähnlicher Beschreibungssprachen. Wer sich für Orchest interessiert und gelegentlich über den musikalischen Tellerrand hinausschauen möchte, kann bei Prof. Herbert Walz für 10 Mark eine Orchest Demodisk anfordern, (wk)

Prof. Herbert Walz, Anton-Köck-Str. 8a. 8023 Pullach

WERTUNG

Name: Orchest
Preis: abhängig von Version 150 Mark bis 400 Mark
Hersteller: Prof. Herbert Walz
Stärken: Konzept □ guter Editor □ unterstützt Großbildschirm □ Notensatz
Schwächen: gewöhnungsbedürftig □ Notensatz nicht optimal
Fazit: Ein interessanter Ansatz, Demodisk bestellen lohnt.


Kai Schwirzke
Aus: TOS 11 / 1992, Seite 27

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